In der südwestchinesischen Provinz Yünnan
Dass es sehr viele Chinesen gibt, weiß jeder. Und fast alle verfügen über ein Fahrrad und sind ständig unterwegs. Hunderttausende der schwarzen Einheitsmodelle ergießen sich von tagaus tagein in einem nie versiegenden Strom aus Haupt- und Nebenstraßen, über Plätze und Parks, aus den Vorstädten ins Zentrum und wieder zurück und verschmelzen zu einem tausendrädrigen Fabelwesen, das seine Gestalt beständig verändert: Mal gleicht es einer trägen Raupe, dann einer langgezogenen zuckenden Schlange, bis es sich regelmäßig vor den Ampeln zu einem Knäuel verdichtet. Vor den Einzelzellen dieses Riesenorganismus sollte sich der westliche Besucher jedoch tunlichst in Acht nehmen, denn der Chinese, im Allgemeinen sachbezogen und freundlich, wird nach seiner Metamorphose zum Zweiradfahrer ein anderer Mensch. Da wird gerangelt, gedrängt, geschnitten, plötzlich gebremst oder überraschend überholt, von rechts und links herangesaust oder einfach gegen den Verkehr gefahren, und nur dank eines rätselhaften Sensoriums, vergleichbar dem mancher Insekten beim Nachtflug, findet der Chinese auch noch im dichtesten Fahrradgewühl die rettende Lücke.
Mich hatte es nach Kunming verschlagen, in eine Stadt der hunderttausend Fahrräder, in der es aber auch noch manch anderes zu sehen gab: bedeutende buddhistische und taoistische Tempelanlagen, düstere Industrievorstädte und malerischer Nachtmärkte. Außerdem galt der Ort in Travellerkreisen als eine erste Adresse, nicht nur wegen des Yünnankaffees, den es hier für kleines Geld zu trinken gibt, sondern auch weil die Stadt etwa für chinesische Verhältnisse etwas sehr Seltenes besitzt: ein allzeit mildes Klima, was der Kunming den Beinamen „Stadt des ewigen Frühlings eintrug“ und eine unchinesisch relaxte Atmosphäre. Deswegen ist es wahrscheinlich ein Segen, dass es nicht die herben Figuren des Nordens sondern die Menschen aus Yünnan im Südwesten Chinas waren, die die beiden großen malaysischen Wanderungen durchführten, die in vorgeschichtlichen Zeiten zur Besiedlung der Philippinen, Indonesiens und Indochinas führten.
Die erste Siedlung im Gebiet der heutigen Stadt Kunming wurde von den Heeren der Han-Dynastie um 100 vor der Zeitrechnung gegründet. Lange Zeit fungierte sie als Grenzstation zu Vietnam, Siam und Burma wie auch als Bindeglied des Warenaustausches zwischen Indien, Indochina, Szechuan und dem chinesischen Norden. Schon Marco Polo berichtet, entweder vom Hörensagen oder aus eigener Anschauung, vom Wohlstand der Handelshäuser, vom Fischreichtum der umliegenden Seen und von der Salzgewinnung, die dem Kaiserhof im Norden wichtige Steuereinnahmen bescherte. Als sich am Ende des 19. Jahrhunderts der Zusammenbruch des chinesischen Kaiserreiches andeutete, unternahmen die Franzosen große Anstrengungen, die Provinz Yünnan in ihr indochinesisches Kolonialreich einzugliedern. Doch die Eisenbahnlinie, die Kunming mit Hanoi verband, rentierte sich nicht und wurde bald wieder eingestellt. Während des japanisch-chinesischen Krieges entwickelte sich Kunming zu einer Rückzugsbastionen der in Mittelchina geschlagenen Nationalchinesen. Auf einer unter unsäglichen Mühen gebauten „Burmastraße“ schafften die Einheimischen den amerikanisch finanzierten Nachschub in den Südosten, und am Himmel über Yünnan wurden die gnadenlosen Luftkämpfe zwischen amerikanischen und japanischen Kampffliegern ausgefochten.
Heute leben neben den Han-Chinesen über zwanzig nationale Minderheiten in der Zweimillionenstadt Kunming. Wenn man von den üblichen sozialistischen Klötzen im Zentrum absieht, hat sich die Stadt trotz ihrer beachtlichen Größe einen gewissen provinziellen Charme bewahrt: eine Vielzahl pittoresker Märkte, die zahlreichen Parkanlagen, in denen die Väter mit ihren Söhnen die Drachen steigen lassen, und die Cafés, in denen man den herben Yünnankaffee zu süßen Gebäck genießen kann, machen den Rundgang zu einem so entspannenden Erlebnis, wie man es in China selten genießen kann.
An den Rändern der Stadt hat die stürmisch vorangetriebene Industrialisierung hässliche Wunden geschlagen: Chemie- und Elektrowerke, Stahl- und Baumaschinenfabriken prägen vor allem die nordwestlichen Stadtteile. Man muss diese Gegenden nur einmal mit dem Bus durchfahren haben, um einen Begriff von der Tristesse chinesischer Trabantestädte und Fabrikanlagen zu erhalten.
Der Gegenpol zu dieser entfremdeten Wirklichkeit der Arbeitswelt ist der chinesische Tempel. Unter den Bäumen der Tempelgärten oder vor den großen Buddha Statuen reduzieren sich Planvorgaben, Akkordarbeit und Marktgeschrei wieder zu den Äußerlichkeiten einer vergänglichen Welt, wobei die chinesische Religion für den westlichen Besucher wohl immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben wird. Für den Anfang kann man sich mit der Einsicht behelfen, dass sich im Laufe der Jahrtausende in China ein religiöser Gemischtwarenladen für jedermann entwickelt hat, der mit seinen taoistischen, buddhistischen oder konfuzianistischen Zugaben für jeden etwas im Angebot hat. Die konfuzianistische Gedankenwelt mit ihren drei höchsten Tugenden Liebe, Redlichkeit und Folgsamkeit war bereits mit der taoistischen Lehre vor Lebenshygiene verschmolzen, als der Mahayana-Buddhismus in seiner zentralasiatischen Variante über die Seidenstraße und Tibet nach China vordrang. Zusammen mit örtlichen Kulten und hartnäckig überlebenden animistischen Bräuchen entwickelte sich aus diesem Amalgam die chinesische Volksreligion, die selbst die Mongolenzeit überdauert hat und die auch noch existieren wird, wenn die maoistisch-marxistische Epoche zu einer quasidynastischen Etappe der chinesischen Geschichte geworden sein wird.
Die lebendige Kraft dieser Volksreligion kann heute überall in Kunming studiert werden. In den Eingangshallen der großen Tempel, die sehr oft am Fuße von Bergen positioniert sind, sieht sich der Besucher zunächst überlebensgroßen Gestalten aus der buddhistischen Mythologie gegenüber, guten und erhabenen Geistern, die zwar grimmig dreinblicken, die aber dem Gläubigen im Alltag manche Hilfe bieten und deswegen inbrünstig verehrt werden.
Hinter den großen Eingangstoren befindet sich meist ein See oder ein Park mit malerisch drapierten Steinfiguren, kleinen Pavillons und zurecht gestutzten Hecken nebst zahlreichen Sitzgelegenheiten, damit das Volk seinen Besuch im Gotteshaus durch ein Picknick krönen kann. Es folgt ein zweiter großer Tempeldurchgang, wieder bewacht von Monumentalskulpturen aus Holz oder Stein, hinter dem dann, meist jenseits einer breiten Treppe, das Hauptgebäude sichtbar wird. Vor seinem Eingang stehen große Bronzeschüssel mit glühender Asche zum Entzünden der Räucherstäbchen, die der Gläubige im Altarraum und im Angesicht der vergoldeten Darstellungen Buddhas am Beginn seiner Zwiesprache mit der Gottheit befestigt.
Im sogenannten Bambustempel, etwa zehn Kilometer von Kunming entfernt, hat gerade eine Zeremonie begonnen. Vor drei prächtigen Buddha Statuen sitzen etwa zwei Dutzend Mönche in gelben Gewändern – hagere asketische Gestalten im Zustand ihrer soundsovielten Wiedergeburt auf der langen Reise von der Kreatürlichkeit zum Nirwana. Nach dem Takt einer fellbekleideten Trommel, die in einem nervösen Rhythmus geschlagen wird, leiern die frommen Männer ihre Sprüche in einer Art herunter, die im Abendland gerne als gebetsmühlenartig bezeichnet wird. So richtig beeindruckt davon sind allerdings nur die wenigen westlichen Touristen, die auf Zehenspitzen durch die Hallen schleichen. Die Yünnan-Chinesen selbst bevorzugen einen lockeren Umgang mit der Liturgie, sie unterhalten sich laut, sie lachen, und die Kinder versuchen dann und wann ein wenig im Takt der Mönche mitzuträllern.
Das Besondere am Bambustempel, dessen älteste Bauelemente noch aus der Mongolenzeit datieren, bilden die berühmten fünfhundert Luohan-Figuren, die sich an beiden Wänden rechts und links des Altars dem Betrachter in unasiatischer Dramatik entgegenstrecken. Ein Bauer mit weit aufgerissenen Augen reitet auf einem Fabeltier aus der Wand heraus, ein anderer, mit dem Unterleib schon halb im Holz verschwunden, streckt seinen drei Meter langen Arm schlangengleich die Decke entlang, dürre Wandermönche schwingen ihre Krücken, als wollten sie dem Besucher eine Tracht Prügel verpassen, ein alter Mann, der auf einem eselsähnlichen Wesen hockt, hält seine ellenlangen Augenbrauen in beiden Händen. Schlangen und Wundertiere winden sich zwischen den Körpern, die aus der Fläche wie aus einem Urgrund chaotischen Lebens herauszufallen scheinen, dann wieder verschwindet ein Mensch in einer fleischfressenden Pflanze, unkenntliche Wesen fallen über fliehende Pilger her, und einem widerlich dicken Glatzkopf spielen fünf Knaben an Nabel, Beinen, Bauch und Ohren. Den Geruch der Räucherstäbchen in der Nase und den Singsang der Mönche in den Ohren steht der Besucher diesem Kanon chinesischer Absonderlichkeiten fassungslos gegenüber, unsicher darüber, ob es sich um eine Apologie der Lust, des Wahnsinns oder der religiösen Ekstase handelt. Der Schöpfer dieser beiden Wände, Meister Li Guanxi, der diese Werke am Ende des letzten Jahrhunderts in surrealistisch anmutender Meisterschaft erschuf, soll für sein Werk wenig Dank geerntet haben. Man jagte ihn davon, ließ sein Werk aber gleichsam als ein Menetekel des modernen China trotzdem bestehen.
Ein Gang durch die Tempelanlagen der Stadt ist leider auch immer ein Gang zurück in die barbarischen Zeiten der chinesischen Kulturrevolution. Es gibt kaum ein Gebäude, das in der Ära dieses delirierenden Atheismus nicht schwer beschädigt worden wäre. Gerade die ältesten Anlagen der Stadt, die Westtempel-Pagode und die Osttempel-Pagode aus der Tang-Zeit waren von diesen Ausschreitungen in besonders schwerer Wiese betroffen. Auch die kleine Moschee von Kunming wurde bis auf die Grundmauern zerstört und ist bis heute nicht wieder hinreichend restauriert worden. Allerdings existierten auch andere Anlagen wie den sogenannte „Goldenen Tempel“ aus der Ming-Dynastie oder der großen Yuan-Tong-Tempel, die mit viel Liebe und Aufwand wieder hergerichtet wurden.
Es war ein schöner Tag mit weißen Kumuluswolken am Himmel und einer milden Frühlingsluft, als ich die westlichen Berge am Dian-See besuchte, der auch Westsee genannt wird, obwohl er eigentlich im Süden liegt. Bei der Erwanderung dieser Berge darf man allerdings nicht vergessen, dass auch die Chinesen ihre Heimat lieben und zu allen Jahreszeiten die Wanderpfade in ganzen Hundertschaften begehen. An jedem nur denkbaren Aussichtspunkt haben findige Privatunternehmer deswegen blumenbekränzte Stühle aufgestellt, auf denen sich die Familien vor dem Hintergrund des Sees und der Stadt Kunming fotografieren lassen können. Sogar Nahkampfuniformen werden für die Männer angeboten, ein willkommenes Guerilla-Outfit, mit dem zahlreiche Chinesen gerne vor einer Felsspalte posieren.
Die Wanderung durch die Westberge führt zunächst zum Huating-Si-Tempel, dessen großer schattiger Teich zur Rast einlädt und in dem der Besucher kleine Malereien der Mönche erwerben können. Es geht weiter zum Taihua-Si-Tempel, dem ein großer Wohnkomplex für Klosterschüler und Mönche angeschlossen ist, immer höher die Hügel hinauf bis zum Long-Men-Drachentor, dem Entreé für die letzte geräumige Terrasse, von der aus sich die gesamte Umgebung des Dian-Sees erschließt. Danach verengen sich die Wege, ohne dass die Masse der Besucher abnehmen würde. Ein in jahrhundertelanger Arbeit erbautes und instand gehaltenes System von schwindelerregenden Pfaden mit beängstigend niedrigen Brüstungen führt zur sogenannten „Halle, die den Himmel erreicht“ (Da Tian Ge) und einem kleinen taoistischen Gebetsplateau, einem Ort zwischen Himmel und Erde und dem beliebtesten Fotomotiv für Verliebte weit und breit. Innig aneinander geschmiegt, so, als wollten sie im Falle eines Gleichgewichtsverlustes nur gemeinsam in die Tiefe stürzen, beugen sich die Paare lächelnd über den Abgrund, während die in die glatte Felswand oberhalb der Tempelhalle eingemeißelte Heiligenfigur mit mildem Lächeln auf das Treiben herunterschaut.
Gut einhundertzwanzig Kilometer von Kunming entfernt, befindet sich auf einem etwa 27.000 Hektar großen Areal der berühmte Steinwald von Shilin, eine Schöpfung urzeitlicher Meere, tektonischer Verschiebungen und jahrmillionenlangen Regens, dessen skurrile Formationen von den Chinesen zum Weltwunder erklärt und mit phantasievollen Namen belegt werden: „Mutter und Sohn wandern zusammen“, „Das erstarrte Mädchen Ashima“, „Lotusblumengipfel“ oder „Zehntausendjahrespils“- da konnte man wohl gespannt sein. Leider war zunächst weder von Mutter und Sohn noch vom Lotusblumengipfel etwas zu sehen, dafür spielten sich am Parkeingang tumultuarische Szenen ab, als Tausende chinesischer Touristen die Kasse belagerten. Endlich in den Park eingedrungen spaziert man erst einmal einen halben Kilometer durch eine gesichtslose Feld- Wald- und Wiesenlandschaft, ehe die ersten Steinformationen erschienen, die man mit gutem Willen ein wenig bestaunen konnte. Dann wandelt man über sorgfältig angelegte Wege und Holzplanken über einen gründlichen See, aus dem sich die größten Felsen erheben, man sieht sehr viele graphitfarbene spitz zulaufende Steingebilde und ist nach einigem Zögern bereit, das eine oder andere als Keule, Faust, Zeigefinger oder Kamel gelten zu lassen.
Stimuliert der Steinwald insgesamt mehr die Ironie als die Phantasie, so gibt es in der Umgebung Kunming und des Dian-Ses doch einen Ort, an dem sich der Besucher dem Spiel der Imagination mit etwas mehr Aussicht auf Gewinn hingeben kann. Am südöstlichen Ufer des großen Sees befindet inmitten einer kleinen Parkanlage die Grabpagode des chinesischen Seefahrers Cheng-Ho, der im 15. Jahrhundert im Auftrag des Mingkaisers Yong-Le sieben große Entdeckungsreisen unternommen hat. Genau in der Epoche, in der Prinz Heinrich der Seefahrer seine portugiesischen Kapitäne die Küsten Afrikas gen Süden schickte, näherten sich von China her mehrere große maritime Expeditionen unter der Leitung Cheng-Hos den afrikanischen Küsten. Die chinesischen Flotten passierten zwischen 1407 und 1433 Indochina, Indonesien, die indischen Küsten, ehe sie die Ufer Ostafrikas erreichten. Zum welthistorischen Zusammentreffen portugiesischer und chinesischer Kapitäne ist es dann aber nicht gekommen, weil die Nachfolger Kaiser Yong-Les die Expeditionen abbrachen. Noch zu Lebzeiten Cheng-Hos wurden alle Logbücher und Aufzeichnungen vernichtet, bald verrotteten die großen Werften in den pazifischen Hafenstädten. Das Reich der Mitte wurde wieder zum Binnenland, und tief im Innern des asiatischen Kontinents fand sein größter Seefahrer ein bescheidenes Grab, der einzige Überrest eines merkwürdigen Drehbuches, das die Weltgeschichte nicht zu Ende geschrieben hat.