Samosir ist der Nabel der Welt

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Die Kultur der Batak vom Toba See auf Sumatra

 Als 1883 der Vulkan Krakatau zwischen Sumatra und Java ausbrach, war die Explosion noch in Südindien und auf den philippinischen Inseln zu hören. Mit der Gewalt von 100 000 Hiroshima-Atombomben entluden sich die tektonischen Spannungen der Erdrinde, die gesamte 33 Quadratkilometer große Insel flog buchstäblich in die Luft und versank anschließend im Meer. Über 36 000 Menschen fanden den Tod in den bis zu vierzig Meter hohen Flutwellen, die nach dem Vulkanausbruch über die Küsten Südsumatras und Westjavas hereinbrachen. Fast zwanzig Kubikkilometer Magma und Erde wurden in die Atmosphäre geschleudert, in Europa und Nordamerika wunderten sich die Städter über die flammenden Farben des Abendrotes in diesem Jahr. Solche Katastrophen sind es, die im geologischen Rhythmus von Jahrzehntausenden das Gesicht der Erde prägen, und es gehört zu den merkwürdigen Geheimnissen unseres Planeten, daß sich im unendlichen Ablauf der Zeiten aus der zerfetzten Erde, die nach solchen Eruptionen zurückbleibt, Landschaftsbilder von eindringlicher Schönheit entwickeln.
1 (44)    Vor etwa 75 000 Jahren zerriß die vulkanische Erde im Norden der Insel Sumatra unter der Wucht einer Eruption, die die Gewalt des Krakatau-Ausbruchs noch um ein Vielfaches übertraf. Aus dem Ulu Barat und dem Sibayak schossen mit der Kraft ungeheurer Sektkorken glühende Magmaberge in den Himmel, und zwischen beiden Vulkanen brach der Boden ein, ein etwa eintausend Quadratkilometer großes Stück Land versank zwischen den beiden Vulkanen, anderthalb Kilometer tief, zerbröselt und zerschmettert, um sich dann unter einer neuen Eruptionswelle in der Mitte dieses gigantischen Erdloches als ein neuer, kleinerer Berg zu erheben, dessen flache Buckelspitze heute als Insel Samosir aus den Gewässern des Toba-Sees ragt.
Eine Stimmung zeitloser Ruhe spürt, wer zum erstenmal, von Brastagi kommend, an den Sipiso-Piso-Wasserfällen die Weiten des Toba-Sees und die Insel Samosir erblickt. Nichts erinnert mehr an die unvorstellbaren Energien, die in einem zweiten Eruptionsschub vor 30 000 Jahren den neuentstandenen Berg inmitten dieses Erdschlundes wie eine Murmel herumdrehten, den Erdeinbruch zwischen den beiden Vulkanen noch einmal vergrößerten und so das topographische Relief des Toba-Sees erschufen. Der Wasserzufluß von einem Dutzend kleinerer Flüsse und die unendliche Wiederkehr des Monsunregens füllten den gigantischen Krater, trennten die Basis der Insel Samosir von den umgebenden Bergabhängen, und noch ehe die Vorfahren der Batak ihre heutige Heimat erreichten, hatte sich das imposante Bild vollendet: inmitten eines fast unüberschaubaren Binnenmeeres, umgeben von grün bewachsenen Bergufern, die Hunderte von Metern steil in die Tiefe stürzen, lag die Insel Samosir zwischen erloschenen Vulkanen.
Nicht weniger staunenswert als die tektonischen Erdkrisen, die zur Entstehung des Toba-Sees führten, sind die Menschen, die seine Ufer besiedelten. In einer der folgenreichsten Völkerwanderungen der Weltgeschichte brachen vor etwa viertausend Jahren von Südwestchina aus neusteinzeitliche Stämme nach Süden auf, durchquerten Indochina, um dann auf dem Seeweg die indonesischen und philippinischen Inseln zu erreichen. Die Torajas auf Sulawesi, die Dayak auf Borneo, die Igorot auf Luzon und die Batak auf Sumatra sind die Nachfahren dieser altmalaiischen Völker, ihrerseits wieder von nachfolgenden jungmalaiischen Stämmen in die unzugänglichen Bergzentren der großen Inseln abgedrängt, wo sie durch die Jahrtausende hindurch ihre uralten Mythen und Gebräuche zu bewahren versuchten.
Heute haben sich die anderthalb Millionen Batak längst in verschiedene Stämme aufgespalten: Karo, Mandailing, Angkola, Dairi, Pakpak leben als unterscheidbare Gruppen nördlich und südlich des Toba-Sees, und je nachdem wie nahe ihre Siedlungsgebiete an den großen Durchgangsstraßen zwischen Medan und Palembang liegen, sind sie alle mehr oder weniger von der Modernisierung erfaßt, die seit zwei Generationen das Leben auf der gesamten Insel Sumatra verändert. Die Toba-Batak, mit einer Bevölkerungszahl von fast einer Million Menschen, haben aufgrund ihrer abgelegenen Siedlungslage an den unzugänglichen Ufern des Sees und auf der Insel Samosir ihre religiösen Vorstellungen und Riten noch am ehesten erhalten: einen Kosmos von guten und bösen Geistern, eine Welt, in der der Zauberstab, das Orakelbuch und der Medizinmann das Denken und Handeln der Menschen unter dem dünnen Firnis einer nicht besonders tiefgreifend assimilierten christlichen Hochreligion noch immer mitbestimmen.
Einen ersten Eindruck von der äußeren Erscheinungsform einer traditionellen Batak-Siedlung erhält der Reisende im Simalungun-Park, auf halbem Weg zwischen den Sipiso-Piso-Wasserfällen und dem Fährhafen Prapat. Unwillkürlich hält man den Atem an, wenn man eine solche Siedlung betritt und über die gesamte Anlage verteilt die prachtvollen Wohnhäuser und Reisspeicher betrachtet: wie große, auf Kiel gelegte Schiffe, die nach langen Seereisen eine rätselhafte Verwandlung zum Wohnhaus durchgemacht haben, wie eine ehemalige Armada, sogar mit einem Flaggschiff – dem Holzpalast des Rajas -, so wirken die alten Batak-Häuser in der Umgebung des Toba-Sees. Die wannenförmig aus mehreren Bambuslagen gestalteten Dächer sind ohne die Verwendung eines einzigen Nagels zu einer Stützbalkenkonstruktion befestigt. An der Stirn- und Straßenseite wird der schräg vorstehende Giebel, der meist noch über einen geräumigen Balkon verfügt, durch einen großen Stützbalken ausbalanciert. Die am äußeren Stützbalken des Raja-Palastes von Simalungun angebrachten Büffelhörner erinnern an die Inthronisationen und Tauffeierlichkeiten des königlichen Nachwuchses. Bis zu drei offene Feuerstellen brannten gewöhnlich im Holzpalast des Rajas, eine sichere Methode, den Dachstuhl zu konservieren und sämtliche Mücken zu vertreiben. Allerdings mußte bei der Auswahl des Baumaterials sowohl für den Rajapalast wir für die Wohnhäuser und die Reisspeicher mit äußerster Sorgfalt vorgegangen werden: Der Gebrauch von Holz von Bäumen mit Lianen war unter allen Umständen zu vermeiden, weil sich in dem Geflecht gerne die Totengeister der Batak, die Begus, schaukeln, und zu viele Begus im Haus gelten auf die Dauer als ungesund. Andererseits: Je heller das Holz klingt, desto mehr segenspendende Tondi-Energie birgt der Stamm, und mit einem solchen Material kann man sich getrost sein Dach über dem Kopf errichten.
Obwohl sich die Batak auch aus Gründen der kulturellen Abgrenzung gegen die überwiegend islamischen Bewohner Sumatras schließlich offiziell zum Protestantismus der Rheinischen Missionsgesellschaft bekehrt haben, ist der Gegensatz von Tondi und Begu bis heute der Kern der traditionellen Batak-Religion geblieben. Unter Tondi verstehen die Batak jene Lebenskraft, die allen Objekten innewohnt – Menschen, Tieren, Pflanzen und sogar den unbelebten Gegenständen. Es ist eine Art Energie, die zwischen den Dingen fluktuieren, sich sammeln und entleeren kann. So leidet nach der Auffassung der Batak ein kranker Mensch primär an einem Tondi-Mangel. Einem dergestalt dahinsiechenden Menschen, den sein Tondi mehr und mehr verließ, konnte früher möglicherweise der kannibalische Genuß eines getöteten Feindes wieder auf die Beine verhelfen, da dessen Tondi nach der Auffassung der altbatakischen Kosmologie auf den Esser überging. Nachdem diese Methode immerhin schon im letzten Jahrhundert aus der Mode kam, schlug die Stunde der Medizinmänner, die nicht nur über das Orakelbuch und den großen figurengeschmückten Zauberstab, sondern auch über beachtliche Tondi-Reserven verfügten, von denen sie dem Kranken das eine oder andere Quentchen abgeben konnten. Tondi war allgegenwärtig, aber auch empfindlich: der für die Aussaat bestimmte Reis mußte sorgsam gelagert werden, weit entfernt von allen Totenhäusern, dunkel klingenden Hölzern oder sonstigen verwunschenen Plätzen, weil sonst das Tondi Schaden nahm und nur eine kümmerliche Ernte zu erwarten war. Auch die Tondi-Traumtheorie ist von durchschlagender Prägnanz: Glaubte Sigmund Freud in seiner „Traumdeutung“ noch daran, daß sich dem kundigen Menschen im Schlaf sein Unterbewußtsein enthülle, so belehrt uns das alte Traumbuch der Batak darüber, daß im Schlaf der Seele nichts Verdrängtes, sondern einfach Verstorbenes erscheine, eben jene Begus, die die Tondis des Nachts besuchen und ängstigen.
Verbreiteten die Begus auf diese Weise mancherlei Ungemach unter den Lebenden, hatten sie aber ihrerseits wenig zu lachen: kaum war ein Batak verstorben und hatte sich sein Tondi endgültig verflüchtigt, mußte sich sein Totengeist zum Trauerwasser begeben und sich hier wie ein Immigrant im Totenreich mit den bereits ortsansässigen Begus auseinandersetzen. Wurden bei dem Begräbnis auch nur minimale rituelle Fehler begangen, versäumte etwa der Sohn die richtigen Totengebete oder gab er etwa dem Vater zu wenig Geschenke mit auf seinem Weg ins Jenseits, werde der neue Begu erst einmal von der Gemeinschaft der alten Begus verhöhnt und verprügelt.
Den Kopf voll mit diesen Geschichten von Tondis und Begus, erreicht man die Steilufer des Toba-Sees auf einer sich in schwindelnder Höhe dahinwindenden Straße mit der im Nebel halb versunkenen Insel Samosir in der Tiefe. Jede Kurve ist ein schweißtreibendes Erlebnis, jede Begegnung ein kompliziertes Rangiermanöver, aber hinter jeder Ecke bietet sich auch eine neue Perspektive auf eine immer imposantere Aussicht. Abendliche Sonnenstrahlen, von flüchtigen Wolken gebündelt, wandern über das tiefschwarze Wasser und illuminieren in der Nähe des tiefer gelegenen Dorfs Prapat mediterran anmutende Palmen- und Piniengalerien.
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Der Ort selbst ist längst zum Opfer der beiden Stichstraßen geworden, die seit fünfzehn Jahren den See mit dem Norden Sumatras verbinden. Sie brachten den geballten einheimischen Tourismus aus Medan, Bandah Aceh und Jakarta nach Prapat. Es entstanden die Batakhotels mit ihren geschwungenen Wellblechdächern, die als billige Imitationen eines traditionellen Hauses das Ufer verunzieren. Auch jene üble Abart von Schleppern und Abstaubern, die sich längst an allen Nahtstellen des „exotischen“ Tourismus etabliert hat, steht zur Jagd bereit, kaum daß der Bus am Ufer des Toba-Sees gehalten hat. Schnell sind die ersten Übernachtungen verkauft, weil heute doch ganz bestimmt keine Fähre mehr nach Samosir ablegen wird, und wer so dumm war, auf diese Finte hereinzufallen, kann auch noch ein Ticket für ein Boot am nächsten Tag erwerben, das es überhaupt nicht gibt. Besonders für die weiblichen Besucher sind diese Menschen eine rechte Plage, auch wenn man zugeben muß, daß sie auf ihre Art wieder „ehrliche“ Erscheinungen sind, denn die Raffgier steht ihnen im Gesicht geschrieben.
Tatsächlich lag des letzte Boot nach Samosir an diesem Tag stundenlang am Kai von Prapat, und erst als die Sonne gänzlich verschwunden war, wurde uns klar, daß es nicht eher auslaufen würde, bis Ober- und Unterdeck ausreichend gefüllt waren. Inzwischen hatte sich der Himmel verdunkelt, die ersten Regentropfen fielen, die Wellen schlugen hoch, und mit einemmal zerriß ein kilometerlanger Blitz über dem Horizont die schwarze Nacht. Ausgerechnet in diesem kritischen Augenblick legte der vollgestopfte Holzkahn ab und steuerte auf den See hinaus, im Visier die Lichter der Insel Samosir, die nur als eine kaum sichtbare Reihe flackernder Pünktchen im Westen zu erkennen waren. Mitten auf dem See begann das Boot bedenklich zu schaukeln, die Blitze zuckten in immer kürzeren Intervallen über den Himmel, und der See wirkte in diesen Sekundenbruchteilen gleißender Helligkeit wie ein aufgewühltes Leichentuch. Eine amerikanische Familie begann in der stockdunklen Feuchtigkeit unter Deck zu singen, wie Kinder, die sich im Keller fürchten. Plötzlich setzte der Motor aus, und das Boot geriet in bedenkliche Schräglage. Pane na blon, der große böse Geist, ist nach dem Glauben der Batak bei diesem Wetter unterwegs, und möglicherweise hatte er sich jetzt hier eingenistet. Doch unser Bootsmann stieg mit seinem offenbar beachtlichen Tondi in den Maschinenschlund hinab und hantierte an dem Motor so lange herum, bis er wieder zu tuckern begann. Wohlbehalten erreichten wir das Ufer.
Für die Batak ist die Insel Samosir der Nabel der Welt, die Basis eines imaginären Weltendaches, das sich wie ein Pilz aus dem Toba-See erhebt und in dem die Geister der Verstorbenen beheimatet sind. Zwar besitzen die herabhängenden Ränder dieses Daches nach den Vorstellungen der Batak keinen Kontakt zur diesseitigen  Wirklichkeit, doch Regenbögen, Donner und Blitz erlauben den Geistern den Wechsel der Welten. Und so befinden sich nicht nur etwa 150 000 Batak auf der 564 Quadratkilometer großen Insel, sondern zugleich auch eine ungewisse Zahl von Totengeistern, die gewöhnlich in der Nacht über die Insel schweifen und sich mit den vagabundierenden Tondis der schlafenden Batak treffen.
Die meisten Touristen auf Samosir ahnen nichts von diesem nächtlichen Treiben. Sie wohnen auf der Halbinsel Tuk-Tuk in einfachen Häusern im Batak-Stil, lassen sich den Toba-Fisch schmecken und genießen ansonsten die atemberaubenden Aussichten über den See. Den ganzen Tag kann man auf der Veranda sitzen und darüber staunen, in wieviel verschiedene Stimmungen der Wechsel von Wolken, Sonne und Licht ein Panorama verkleiden kann. Am Vormittag wirkt die Uferpromenade des nördlichen Tomok mit der kleinen Kirche am See wie ein südpazifisches Postkartenmotiv, watteweiß kleben freundliche Wolken auf den Bergkämmen, werden dann dunkler im Laufe des Tages, und wie in einem gigantischen Freilufttheater ziehen sich am frühen Nachmittag von beiden Seiten der Ufer immer dunklere Wolkenfronten über dem See zusammen, streifen die Sonne, geben sie wieder frei, so daß sie mit ihren gebündelten Strahlen wie ein Scheinwerfer einzelne Stellen ausleuchtet.
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Mal ist es nur ein Palmenwald, der plötzlich in einem leuchtenden Grün über tiefschwarzem Wasser erglänzt, mal trifft der letzte Sonnenstrahl eine Front von Batak-Häusern am Ufer, daß die kunstvollen Arabesken auf Veranden und Giebeln dunkelrot aufschimmern. Dann rollt der Regen heran. In nassen Nebelsäulen wandert er von Norden nach Süden, bis der letzte Zipfel des Lichts verschlungen ist. Nun verwandelt sich der See in einen norwegischen Fjord, der in die Finsternis versinkt. Am nächsten Morgen ist keine Wolke zu sehen, und über dem Wasser wölbt sich ein tiefblauer Himmel.
    Seit die ersten Weltenbummler in den späten sechziger Jahren begonnen haben, sich an diesem märchenhaften Ort bei Einheimischen einzumieten, und seit sie die Kunde vom Lago Maggiore Asiens zu Hause verbreiteten, sind immer mehr Guest-Häuser direkt am Wasser entstanden, und längst ist die Halbinsel Tuk-Tuk neben Goa, Hikkaduwa, Ko Samui, Yogjakarta und Candi Dasa eine der klassischen Stationen der großen Asienreise geworden. Inzwischen sind die ersten Luxushotels gebaut worden, prächtige Anlagen im Fassadenstil der Batak-Häuser mit großen Veranden und Restaurants über dem Wasser des Sees und der üblichen Präsentation sogenannter Volkstänze während des Abendessens.
Aber noch immer ist es recht einfach, die touristische Enklave von Tuk-Tuk zu verlassen und die Insel zu erkunden. Es gibt sogar eine Küstenstraße, die auf einer Länge von gut einhundert Kilometern um die gesamte Insel herumführt. Eine Reise entlang wild gezackter Bergrücken auf den jenseitigen Ufern des Sees, die sich in der Ferne in Wolken hüllen oder bei Pangururan ganz nahe an die Insel heranrücken, von den Schneisen herabstürzender Bäche in der Regenzeit geriffelt wie Südseefelsen und mit dem grünen Lebenspelz der Tropen bewachsen, zwischen denen sich die winzigen Siedlungen der Batak im Schatten der Felsüberhänge verlieren.
Am Ende oder am Beginn einer Inselumrundung erreicht man die kleine Stadt Tomok ganz in der Nähe der Halbinsel Tuk-Tuk. Dies ist der geschichtlich bedeutsamste Ort Samosirs mit Megalith-Gräbern der Sidabutar-Dynastie aus dem 18. Jahrhundert. Malerisch unter den breiten Kronen von Haiara-Bäumen plaziert, bergen sie in grob behauenen Steinsarkophagen die Schädelknochen berühmter Rajas aus jener wüsten und vorchristlichen Zeit, in der man sich gegenseitig pausenlos die Lebensgeister austrieb, die Köpfe getöteter Sklaven unter den Fundamenten neuer Häuser vergrub und die Zauberstäbe der besseren Wirkung wegen mit den Innereien getöteter Kinder einrieb. Man wird es den Priestern der Rheinischen Missionsgesellschaft im 19. Jahrhundert nicht verübeln können, daß sie in einer sehr flexiblen Auslegung der Bibel den blutigen Riten der Inselbewohner dadurch entgegenzutreten versuchten, daß sie den Batak den freiwilligen Opfertod Jesu Christi als eine allgemeine und für alle Zeiten ausreichende Tondi-Ausgießung erklärten und daher Menschenopfer und Kopfjägerei nicht mehr nötig seien.
Ob dies die Batak wirklich glaubten oder nur den Geboten der holländischen Kolonialmacht folgten, wird man heute nicht mehr herausfinden können. Immerhin aber sind die Kirchen in Tomok gut gefüllt, und der inbrünstige Gesang der Gemeinde mag sowohl dem Herrn wie den Begus wohlgefällig sein. In der weißen Holzkirche, in der wir an diesem Morgen den Gottesdienst besuchten, lagen die Zementsäcke neben dem hölzernen Altar, die Fenster waren weit geöffnet und ließen die frische Gebirgsluft in die Halle, doch der Prediger ging streng mit der Gemeinde ins Gericht, er grollte und schimpfte und schüttelte die Faust, während die Gläubigen unbewegt auf ihre bunten Sonnenschirme zwischen ihren Knien blickten. In den bunten Schärpen und den weißen Oberhemden bot die Batak-Gemeinde von Tomok ein ordentliches Bild, doch wie es in den Tiefen ihrer Glaubenswelt aussieht, bleibt ein Geheimnis.
Wenige Kilometer von Tomok entfernt erreicht man in der Nähe der kleinen Siedlung Ambarita das altmegalithische Siallagan. Hier wird das Ineinander der Welten auf besondere Weise deutlich: aus Naturstein behauene Stühle und Bänke stehen inmitten des Dorfes und boten dereinst den Mitgliedern der Gemeinschaft die einzigartige Gelegenheit, ihre Probleme in Anwesenheit der Ahnen zu erörtern, denn für diese wurden entweder manche der Natursitze freigehalten, oder eine stilisierte Ahnenfigur aus Holz oder Stein saß als symbolische Repräsentation der Vorfahren mit in der Runde. Was hier in Siallagan vor dreihundert Jahren wirklich geschah, verschwimmt im Nebel der Mutmaßungen. Glaubt man dem ortsansässigen Reiseführer, dann ging es in jenen alten Tagen recht demokratisch zu: Auf den düsteren Steinen von Siallagan traf sich die örtliche Prominenz zum Adat, einem endlosen Palaver, bei dem so lange debattiert werden mußte, bis eine allseits zufriedenstellende Lösung gefunden worden war.
Die Rätsel der Vergangenheit treten auf der Reise von Ambariata nach Simanindo zurück hinter der idyllischen Außenansicht des Nordteils der Insel Samosir. Über nahezu jeder Bucht und hinter jedem Hügel enthüllen sich Motive an der Grenze zwischen Schönheit und Kitsch: saftig grün sind die Wiesen, auf denen die Kühe grasen, die Wasserbüffel wälzen sich auf den Feldern, tief gebückt pflanzen die Bauern die Setzlinge in den Schlamm der Reisfelder. Entlang der gesamten Wegstrecke passiert man die traditionellen Batak-Gräber, eingezäunte steinerne Sockel, auf denen die verkleinerten Abbilder der typischen Batak-Häuser mit ihren Satteldächern zu sehen sind, und manchmal verrät eine kleine eingekleidete Holzgestalt neben einem Grab, daß hier ein Batak kinderlos verstorben ist und sein Begu nun in dieser Puppe hausen muß.
Inmitten dieser grandiosen Landschaft liegt in der Nähe von Simanindo das alte Batak-Dorf Huta Bolon. Sogar der alte Verteidigungswall, der früher jede Siedlung umgab, wurde wiederhergestellt – mitsamt seiner Eingangspforte, die nach altem Brauch gerade so breit sein durfte, daß ein ausgewachsener Bulle hindurchkam, und so hoch sein mußte, daß eine Frau mit einem Korb auf dem Kopf eintreten konnte. Mit ihren kostbar geschnitzten Holzgiebeln zur Abwehr der bösen Geister wirken die Fassaden der kompakten Häuser wie ein Spalier hölzerner Festungen. Auf stabilen Pfahlkonstruktionen sind sie über luftigen Ställen errichtet, in denen das Vieh den Dung erzeugt, der gleich hinter dem Haus auf die Felder getragen werden kann. Im größten Gebäude von Huta Bolon, dem Haus des Raja Partahi, sind Textilien, Gewänder und Werkzeuge ausgestellt. Auch eine uralte Flinte ist zu sehen, deren Gebrauch für den Besitzer wahrscheinlich gefährlicher gewesen sein wird als für den Feind. Ein großer Banian-Baum steht in der Mitte des Dorfes, ehemals der Treffpunkt der Bewohner und der Geister, der Schauplatz der Zeremonien und Tänze.
Besonders geprägt aber wird das Dorf durch die altmalaiischen Reisspeicher, die sich über einer Plattform auf hohen Säulen erheben. Im freien Raum darunter vollzog sich das Leben: hier flirtete der Nachwuchs am Tage und zeugte in der Nacht, hier bot der Dorffriseur seine Dienste an und fand der wandernde Märchenerzähler seine Zuhörerschaft. Heute bieten die Reisspeicher dem Besucher einen schattigen Winkel, um seinen Vorstellungen vom traditionellen Dasein der Batak in diesem Freilichtmuseum so lange nachzuhängen, bis die Touristenbusse kommen und die ortsansässigen Tanzgruppen auf Kommando ihre heiligen Tänze vorführen. Dann wird es höchste Zeit zu gehen.
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