Von Rio nach Recife

Brasilien 1989 (146)

Reisen an der Lambada-Küste

 Rio liegt hinter mir. Länger als eine Woche sollte man in dieser Stadt nicht bleiben, sonst kommt man gar nicht mehr weg. Abschied vom Corcovado, von Ipanema, von Zuckerhut, von Irina und vom Hotel Monte Blanco. Nun fahren wir schon fast eine Stunde, und noch immer ist kein Ende der Zehn- Millionen-Metropole in Sicht. Industriegelände, Favelas, Autofriedhofe, triste Merkmale der Peripherie wechseln einander ab wie Bilder in einem schlechten Fotoalbum. Dann erst führt die Straße nach Norden in Richtung Minas Gerais.

Auch wenn das heute niemand mehr interessiert: die Provinz  Minas Gerais im Norden der Hauptstadt Rio de Janiero war einmal die Herzkammer Brasiliens. Erst als hier Ende des 18. Jahrhunderts die großen Edelmetallvorkommen entdeckt wurden, verwandelte sich die zerfaserte portugiesische Kolonie zu einer Wirtschaftseinheit. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich der Hauptort Ouro Preto zur größten Stadt in ganz Amerika, größer als Mexiko-City, Havanna oder New York. Die Hauptstadt Brasiliens, bis dahin Salvador de Bahia weit im Norden, wurde wegen der Nähe zu Minas Gerais nach Rio de Janiero verlegt. Zwischen Rio und Sao Paulo entstanden Exporthäfen, und als sich Brasilien im 19. Jahrhundert vom Mutterland Portugal löste, finanzierte man aus den Erträgen der Minen von Minas Gerais den Aufbau der Staatskasse.

Am frühen Nachmittag erreiche ich Minas Gerais, und das erste, was ich besuche, ist die weltberühmte Kirche Bom Jesus bei Congonhas do Campo. Der Himmel ist aufgerissen, und die prächtige Barockkirche erhebt sich wie eine Filiale des Paradieses inmitten einer palmendurchsetzen Hügellandschaft. Ein langer Steinweg führt bergauf zur Kirchentreppe und der großen Terrasse mit ihren zwölf  Apostelfiguren. Die überlebensgroßen Skulpturen gleichen in ihrer Gesamtheit einer Versammlung von Völkerfürsten, die mit weit ausholenden Gebärden über Horizont und Tal hinweg gestikulieren. Einige der Figuren sind in den Hüften merkwürdig eingeknickt, als wollte ihr Schöpfer, der leprakranke Künstler Alehandinjo, seine Werke mit der Signatur der  eignen Gebrechlichkeit versehen. Herzzerreißende Geschichten erzählen die Reiseführer vor der Kirche vom genialen Bildhauer Alehandinjoo, der erst im Alter an der Lepra erkrankte und am Ende nur noch mit seinen Stümpfen hat weiterarbeiten können.

Brasilien 1989 (051)

Die Busreise von Congonhas nach Ouro Preto war ein lebensgefährliches Abenteuer. Sei es, dass der Busfahrer zugedröhnt war oder es auch einfach nur sehr eilig hatte, er brauste mit einem derartigen Affenzahn durch die Dunkelheit, dass ich mehr als einmal dachte, wir würden im Graben landen. Er durchfuhr mit seinem altersschwachen Schrottbus die ganze Region von Mine zu Mine, lud hier ein paar schräge Figuren aus, um dort eine Großfamilie oder eine Horde Jugendlicher mit zu nehmen Auf halber Strecke ging die Kupplung zu Bruch, worüber lange aber folgenlos palavert wurde, ehe der Bus einfach weiterfuhr und tatsächlich mit stinkenden Gummis und kreischendem Getriebe den Busbahnhof von Ouro Preto erreichte.

Brasilien 1989 (057)

Ouro Preto erinnert an die Silberstadt Taxco in Mexiko, denn auch hier erstreckt sich die Stadt über mehrere Hügel, die fast alle mit sehenswerten Barockkirchen geschmückt sind. Hat der Reichtum des 19. Jahrhunderts in üppigen Altären und eitlen Herrenhäuser überdauert, kann man das von den   heutigen Bewohner nicht behaupten. Männer in abgerissenen Hosen und fadensccheinigen Jacken  stehen wie bestellt und nicht abgeholt an den Straßenecken, schauen Löcher in die Luft und rauchen ihre selbst gedrehten Zigaretten. Es handelt sich überwiegend um Nachkommen europäischer Einwanderer, und vor der Kulisse eines präsenten Katholizismus könnte man fast glauben, man befände sich in Asturien oder Nordportugal.

Als die Einwanderer aus der iberischen Halbinsel   dereinst den Süden Brasiliens erreichten, hätte übrigens niemand voraussehen können, dass  Lateinamerika im Vergleich zum angelsächsisch geprägten Norden so deutlich zurückfallen würde – im Gegenteil: um 1800 besaßen der Süden Brasiliens mit seinen Rohstoffvorkommen und Argentinien mit seiner  Viehwirtschaft sogar einen Entwicklungsvorsprung, den die Länder des Südens jedoch verspielten. Lag es am Katholizismus, am unzureichenden Humankapital der vorwiegend südeuropäischen Einwanderer, an der Konsum- und Genussmentalität der mediterran geprägten Bevölkerung? Oder an der mangelnden Rechts-sicherheit der lateinamerikanischen Innenpolitik, die die Entfaltung leistungsfähiger wirtschaftlicher Strukturen beihinderte?

In Ouro Preto treffe ich Kurt, einen Deutschlehrer aus Münster. Er hat über Schillers Theorie des Spieles promoviert, liest den ganzen Tag Thomas Mann und ist so rösig, dass er kaum die Hose halten kann. Wenn ich ihn richtig verstehe, dann hat er sich daheim gerade von seiner Partnerin getrennt und ist nun in Brasilien unterwegs um einmal richtig „die Sau rauszulassen“. Nach Minas Gerais hat es ihn nur irrtümlich verschlagen, er hat den falschen Bus genommen, der statt nach Porto Seguro nach Bello Horizonzte fuhr.  Da ich auch zum Meer wollte, taten wir uns zusammen und besorgten gemeinsam die Karten für die Nachtfahrt nach Vitoria.

Nach den Erfahrungen der Reise von Congonhas de Campo nach Ouro Preto war ich bei dieser Fahrt auf Einiges gefasst, doch die Nachtfahrt nach Vitoria übertraf meine schlimmsten Erwartungen. Der Bus war weit überfüllt, in den Gängen standen die Familien, die Kinder schrieen, einige pinkelten in ihrer Not auf den Boden des Busses, während der Busfahrer, ein mächtiger, stiernackiger Glatzkopf, acht Stunden lang wie besessen durch den nächtlichen Nebel raste. Er muste die Strecke in- und auswendig kennen, denn er wusste immer genau, wo im Nebel er bremsen und wo er unbesorgt Gas geben konnte. Für Kurt und mich, die wir gleich hinter dem Busfahrer saßen, aber war das beständige Bremsen, Beschleunigen und Kurven, ohne dass irgendetwas deutlich zu sehen war, eine nervenzerfetzende Tortour. Sogar die Busgemeinde wurde immer stiller, und als ich mich umdrehte, sah ich, dass kaum jemand schlief.

Ab Vitoria wurde Brasilien endlich brasilianisch. Kaum waren wir in der Stadt aus dem Bus gestiegen, umringten uns kleine krausköpfige Jungen und hielte ihre Chicken und Maiskloben bereit, ihre Mütter offerieren geschältes Gemüse, Äpfel, Apfelsinen, Käse und gegrilltes Fleisch an ihren Ständen.  Eine einheitliche Hautfarbe war nicht auszumachen, am ehesten dominierte auf dem Busbahnhof und in der Stadt ein ansehnliches Schokobraun, es gab aber auch rabenschwarze Nachfahren von Afrikanern. Es gab Hellhäutige, Mulatten, Mestizen und Zambos in allen nur denkbaren Farbschattierungen, ohne dass sich zwischen diesen Menschen irgendeine erkennbare Form der Absonderung feststellen ließ. Mir fiel auf, dass auch Kurt und ich keineswegs sofort als Ausländer erkennbar waren. Abgerissen und  hellhäutig wie wir waren, hätten wir auch zwei Wanderarbeiter aus Porto Alegre sein können.

Brasilien 1989 (132) In Vitora blieben wir nur zwei Stunden, ehe wir den nächstbesten Bus in Richtung Porto Seguro bestiegen. Nun wurde die Wegführung flacher, die Natur üppiger, und doch erschien mir, je weiter wir nach Norden kamen, alles unvollständiger und fragmentarischer als im Süden.  Die Kinder waren nur noch halb angezogen, viele Gebäude besaßen keine Fenster mehr, die Wirtschaftsgelände hatten keine Tore oder Umzäunungen, und selbst die Busbahnhöfe, die Zentren der meisten brasilia-nischen Städte,  waren mitunter nichts weiter als eine Anzahl von Laderampen für die Überlandbusse. In diesen Überandbussen saßen wir neben Krausköpfigen und Gewellthaarigen, Hell- und Dunkelhäutigen, neben dicken und dünnen, duftenden und stinkenden Personen jedweden Alters im brasilianischen Melting-Pot. Im Bus krähten die Kinder munter drauflos, spielten Nachlaufen im Mittelgang, ehe sie in dicke Decken eingehüllt, auf den Schößen ihrer Eltern einschliefen. Derweil führte die Küstenstraße immer weiter nach Norden, die Gebäude links und rechts der Straße wirkten wie nordamerikanische Tankstellenstädte, nur dass hier im Westen die Berge und im Osten die See verliefen.

An der Küste von Porto Seguro landete im Jahre 1500 der Portugiese Cabral, der – eigentlich auf dem Weg nach Indien – einen zu weiten Bogen um Afrika gesteuert hatte und der so unabsichtlich, aber glücklich die weit nach Osten vorragende Küste Brasiliens entdeckte. Möglicherweise ist das der Grund, warum heute 200 Millionen Brasilieros nicht spanisch sondern portugiesisch sprechen, denn Papst Alexander VI hatte nur wenige Jahre vor Cabrals Entdeckung die Welt in zwei Hälften geteilt, und die Küste von Porto Seguro lag zufällig auf der portugiesischen Seite. Heute erinnert in Porto Seguro außer einem bescheidenen Gedenkstein nichts mehr an die Ankunft der Portugiesen in der Neuen Welt. Stattdessen kommen reichlich Gäste aus dem wohlhabenderen Süden des Landes, um sich hier einen preiswerten, aber erholsamen Urlaub zu gönnen. Und preiswert ist dieser Ort fürwahr: für schlappe vier Dollar erhielten wir ein Doppelzimmer mit Frühstück in einer gepflegten Poussada mit Gartenzugang.

Ehe ich mich versah, hatte Kurt bereits mit zwei jungen Brasilianerinnen, die das Nachbarappartment bewohnten,  ein Abendessen zu viert vereinbart. Es handelte sich um zwei alleinreisende junge Frauen, die uns gleich am Eingang freundlich begrüßt hatten. Damit war für den rösigen Kurt der Fall klar. Die beiden waren „fällig“, unklar war nur noch die Frage, mit welcher von beiden er denn wohl lieber eine Liebesnacht verbringen wollte.  Beim Abendessen in einem kleinen Strandlokal direkt am Meer kam man sich dann näher:  wir waren die Caballeros aus Alemania, Maria und Claudia stellten sich vor als Sekretärinnen aus der im Landesinnern gelegenen Millionenstadt Bello Horizonte. Beide waren nicht auf den Mund gefallen und rababerten, schnatterten und kicherten, was das Zeug hielt.  Ach Kurt rababerte, kicherte und schnatterte mit so gut er konnte, obwohl er sich noch  immer nicht sicher war, welches der beiden Mädchen den Vorzug erhalten sollte –  würde er die etwas besser aussehende Maria vorziehen  oder sich doch besser auf die vollbusigere Claudia konzentrieren? Als Maria in ihrer Unschuld Kurt aufforderte, er solle einmal einen Satz auf Deutsch formulieren, antwortete er „Heute Nacht bist du dran!“„Bist du bescheuert?“  frage ich. “Was machen wir, wenn die Mädchen das verstehen?“ Aber Claudia und Maria kicherten weiter und wollten auf Englisch wissen, was ich denn gerade gesagt habe.„Er hat gefragt, wo denn hier wohl der schönste Strand ist,“ antwortete ich schnell, worauf die beiden versprachen, und am nächsten Tag zum schönste Strand der ganzen Gegend zu führen. Kurt fiel bei dieser Mitteilung das Gesicht herunter, denn das konnte ja wohl nur bedeuten, dass man die Nacht doch nicht zusammen verbringen würde. Wie ein maurischer Sterndeuter, der kein Anzeichen ungedeutet lässt, schöpfte er jedoch gleich wieder Hoffnung, als sich Claudia bereit erklärte, von seinen Oliven zu kosten. Allerdings weigerte sich Kurt standhaft, ihr die Olive mit der Gabel zu reichen, sondern bestand darauf, sie ihr regelrecht in den Schlund schieben.  Die Mädchen erkannten langsam, wohin der Hase laufen sollte, überhörten aber Kurts Avancen und blieben gut gelaunt und freundlich.

Brasilien 1989 (119)

Am nächsten Tag besuchten wir unter der Führung von Maria und Claudia den Haperapua-Strand, und wir wurden nicht enttäuscht. Strahlend weißer Sand, üppiger Palmenbewuchs bis fast zum Meeresufer und eine ganze Galerie  kleiner Strandrestaurants verbanden sich zu einem perfekten Brasilien-Ambiente. Kurt aber wollte mehr, er wollte vögeln und war fest entschlossen, im Laufe des Tages im Unterholz eine Nummer zu schieben. Wie er zuraunte, war es jetzt auch egal, mit wem dieses Ereignis über die Bühne gehen sollte, aber mit einer von beiden musste es heute passieren, sonst würde er einen Hormonkoller bekommen.  Leider aber stand den beiden der Sinn nach allem Möglichen, nur nicht nach Sex. Erst einmal wurde Nachlaufen und Frisbey gespielt, dann Strandboot gefahren und Musik gehört. Anschließend  schmierten sich die beiden sich gegenseitig mit Sonnenschutz ein und aalten sich behaglich in der Sonne – lauter Aktivitäten, die von Kurt sofort im Hinblick auf die eventuell steigenden oder sinkenden Chancen auf einen tropischen Spontankoitus interpretiert wurden.

Aber es kam ganz anders. Maria und Claudia führten uns in ein kleines Strandrestaurant, wo wir am späten Nachmittag unter makellosen Himmel und vom milden Winterwind Brasiliens umwehrt, einen erstklassigen Fisch zu uns nahmen. Ich spendierte ein Flasche Weißwein, und zum Dank brachten mir die beiden ein Ständchen, sie begannen einfach wie die Vögelchen zu singen, schwenkten die Arme im Takt, sprangen auf, wechselten in einen etwas fetzigeren Song und begannen, neben dem Tisch zu tanzen. Der Wirt klatschte und legte, als die beiden zu Ende gesungen hatten, eine Lambada Kassette ein, und es dauerte nicht lange, da erhoben sich auch die andere Gäste und tanzten neben ihren Tischen.  Natürlich hatte ich auch schon zuhause Lambada Musik gehört, aber es war etwas ganz anderes diese Musik an einem brasilianischen Traumstrand live zu erleben. Für einen ungelenken Mitteleuropäer erfordert dieser Tanz sehr viel Übung, denn es kommt darauf an, die Schwingungen von Oberkörper und Armen ganz auf  den Unterleib zu übertragen, wobei die beiden Tänzer sich während des Tanzes derart aneinander reiben, dass ein Bein des einen Partners sich immer gefährlich weit im Schritt des anderen befindet. Dabei schwenken die Tänzer die Oberkörper weit nach rechts und links aus, während die mit der Schritt-Beinstellung synchronisierten Unterleiber in einem  erotischen Gleichtakt wackeln, der keinen Zweifel lässt, was in diesem Tanz angedeutet werden soll.  Kurt bekam ganz rote Ohren beim Anblick dieser Bewegungen, war aber viel zu steif, eine der beiden Damen zum Tanz aufzufordern. Natürlich lief nichts mit Maria und Claudia, und das war auch gut so. Wir verabschiedeten uns züchtig vor den Appartments, nicht ohne dass ich als Zeichen der zunehmenden Vertrautheit einen Gute-Nacht-Kuss auf die Wange erhielt. Kurt ging leer aus, so kann es gehen, wenn man den Mädels zu aufdringlich auf den Busen glotzt.

Am nächsten Morgen war Kurt verschwunden. Er hatte in aller Frühe ausgecheckt und war, wie ich einer Nachricht entnahm, nach Rio zurückgefahren. Gut so, dachte ich, da ist er für seine Zwecke auch besser aufgehoben. Ich frühstückte in aller Ruhe, packte meine Sachen, verabschiedete mich von Maria und Claudia und nahm am Mittag den Bus nach Salvador de Bahia.

Brasilien 1989 (102)

Der Westen Afrikas endet nicht in Ghana oder an der Elfenbeinküste sondern in Salvador de Bahia. Das jedenfalls mein erster Eindruck,  als ich nach einer

vierundzwanzigstündigen Busfahrt mit dem Taxi in Salvador de Bahia einfuhr. Die weit überwiegende Mehrheit der Bewohner Salvadors sind Nachkommen schwarzafrikanischer Sklaven, die sage und schreibe erst vor einhundert Jahren – als letzte Bevölkerungsgruppe innerhalb des westlichen Kulturkreises – ihre Freiheit erhielten. Es sind große kraftvolle Menschen, und als ich aus dem Taxi steige, um ein Hotel zu suchen, erkenne ich, was mich schon seit Beginn der Reise beschäftigte, ohne dass ich genau wusste, was es war. Im Unterschied zu Asien, wo man als Europäer fast immer körperlich größer ist als die Einheimischen, ist man in Brasilien fast immer kleiner. Und besonders klein kam ich mir hier in Salvador vor, obwohl ich normale ein Meter achtzig groß bin. Aber die Bewohner der Kakaoküste sind nicht nur groß, sie sind auch richtiggehend gut aussehend.  Sie besitzen die athletische Figur des Westafrikaners, meist kaffeebraune Hautfarbe, nicht krauses, sondern gewelltes Haar. Ihre Augen sind nicht, wie bei vielen Afrikanern im Hintergrund gelb sondern strahlend weiß, ebenso die großen Zähne, was im Kontrast zur Hautfarbe umwerfend aussieht. Die Lippen sind nicht wulstig sondern voll, die Nase ist nicht platt, sondern gerade, und auch wenn dieses Gleichgewicht nicht immer glückt: in der Summe vereinigt der schöne Bahianero in seiner Gestalt die physiognomischen Attraktivitäten der Völker. Von den Frauen erst gar nicht zu reden.

Inzwischen hatte ich auch die tropischen Zonen erreicht, und so leistete ich mir in Salvador de Bahia ein Zimmer mit Air Conditon, muss aber feststellen, dass sie nicht funktionierte. Dafür konnte ich von meinem Fenster das muntere Treiben auf der Straße beobachten. Dutzende  von Jugendlichen standen an den Ecken herum, manche saßen ganz ungeniert auf den parkenden Fahrzeugen, andere verkauften Drogen unter der Hand. Einen vorbeischlendernden Polizisten schien es nicht zu stören, denn er grüßte die Gruppe der Jugendlichen mit jovialer Geste. Überall waren Kinder unterwegs, doch mir kam es vor, als spielten sie nicht sondern als seien sie als Transportkräfte eingesetzt – einer trug einen großen Packen Zeitungen über die Straße, ein anderer rannte mit einem Henkelmann die Treppen hoch, ein Dritter schleppte einen Karton voller kleiner Hunde durch die Gegend.

Ich lese ein wenig in meinem Reiseführer und erfahre, dass die Kriminalität in Salvador zu den höchsten der Welt zählt. Die Stadt rivalisiert mit Caracas, Lagos und Johannesburg um den Rang der gefährlichsten Millionenstadt der Welt. Zugleich lese ich, dass die Einwohner an sich freundlich und hilfsbereit seien.  Wie passt das zusammen?

Mein erster Stadtrundgang führte mich in die berühmteste Kirche der Stadt. Nicht, weil ich besonders religiös bin, sondern weil ich auf Reisen die Ruhe in einem Gotteshaus schätze, ganz gleich ob es sich um eine Kathedrale, eine Moschee oder einen buddhistischen Tempel handelt.  Ich hege sogar eine gewisse Vorliebe für Moscheen – einfach, weil diese Gebäude in ihrem Innern fast immer mit weichen Teppichen ausgelegt sind, auf denen man in aller Stille ein Nickerchen halten kann. Im  Innenraum der Kirche Sao Francisco herrschte eine wohltuhende Kühle, kein Mensch war anwesend, und es roch ein ganz klein wenig nach Moder, als ich mich vor den Altar setzte und versuchte, mich in das berühmte Werk Manuel Ignacio de Costas zu versenken. Doch es gelang mir nicht – die über-bordende Vielfalt der Schnitzereien, Vergoldungen, Figuren und Formen fügte sich zu keinem Eindruck.  Woran es auch immer gelegen haben mag – dass ich ein Kunstwerk betrachte und es sich mir überhaupt nicht erschließt, ist immer auch ein Zeichen, dass die Reise langsam zu ende gehen muss.

Als ich nach meinem Kirchenbesuch weiter durch die Stadt schlendere, fühle ich mich in keiner Weise bedroht. Im Unterschied etwa zum Maghreb, wo der Besucher sofort in den Fokus einer aggressiven Beobachtung gerät, sind die Gesten der Menschen hier gleichgültig, die Bewegungen und Blicke verraten keinerlei Gefahr, und als ich einen Maiskolben auf der Straße esse, kann ich inmitten Einheimischer auf einem Schemel sitzend unbeachtet vor mich hinfuttern. Ich fahre mit dem großen öffentlichen Aufzug von der Cidade Alta zur Baia Cidade, gehe ein wenig am Hafen spazieren und steige in der Abenddämmerung spontan  in den großen Circularbus, der die ganze Stadt in anderthalb Stunden einmal umkreist. Ich saß kaum einige Minuten im Bus, als die Dämmerung übergangslos in Dunkelheit über ging. Es wurde  plötzlich so ungewohnt stockdüster, dass ich mir das zuerst gar nicht erklären konnte, bis ich bemerkte, dass, je weiter der Bus in die Peripherien fuhr, immer weniger Straßenlampen brannten. Schließlich gab es überhaupt keine Straßenbeleuchtung mehr sondern nur offene Feuerstellen, in deren gespenstisch flackerndem Licht sich die Konturen der Menschen bewegte, als wären es tanzende Teufel. Das Licht des Busses erfasste wie die Lampe eines Jägers die unglaublichsten Szenen: ich sah ganze Familien am Straßenrand auf Pappe liegen, baufällige Behausungen, die ihren Bewohnern nichts weiter boten als ein wackeliges Dach über dem Kopf, Garagen, offene Metzgereien, in denen Tiere ausgeweidet wurden, Straßenfriseure bei der Arbeit, schwarze Muskelmänner, die wie Könige auf kleinen Stühlen saßen, Abfallberge und immer wieder eingeschlagene Fensterscheiben an parkenden Fahrzeugen.

Brasilien 1989 (113)

 

Zu den angenehmen Seiten des Reisens gehört, dass man nie lange allein bleibt. War ich Kurt nun glücklich los, lernte ich im Hotelcafe´ am nächsten Morgen den 45jährigen Schwarzwälder Michael kennen. Er war eine markante Erscheinung mit hoher Stirn, leicht angegrauten Haaren, einem männlichen Kinn und tief liegenden Augen. Wie er mir freimütig berichtete, war er vor sechs Jahren innerhalb von zwei Wochen aus einer gut bürgerlichen Existenz mit Frau und Haus ausgebrochen, um eine Weltreise zu unternehmen. Er war in den letzten Jahren  durch das ganze spanische Südamerika gereist, hatte die argentinischen Riesensteaks in Buenos Aires  genossen und pries die  Gaucha als die schönste Frau des Kontinentes. Als Maschinenbauingenieur war es ihm nie schwer gefallen, Arbeit zu finden, so dass er bisher gut über die Runden kam. In Brasilien lebte er seit einem haben Jahr mit einer  einheimischen Partnerin, die allerdings letzte Woche  mit einem Großteil seines Bargeldes abgehauen war, so dass er jetzt bald wieder auf die Haziendas muss, um Geld zu verdienen. Er erzählte mir dies mit zurück haltender Sachlichkeit, ohne Jammern oder Prahlen, das verlorene Geld schien ihn nicht sonderlich zu kratzen.  Ich fragte ihn, ob er daran dächte, irgendwann einmal heimzukehren. Das glaube er nicht, gab er zurück, dafür sei er schon zu sehr Latino geworden, aber möglich sei alles. Meine eigene Reisegeschichte nahm er höflich zur Kenntnis, doch ich erkannte, wie mickrig all meine Weltreisen gegenüber Geschichten dieses Kalibers erschienen – einfach aufzubrechen, alles hinter mir zu lassen und sich ungeschützt in den Ozean der Fremde zu stürzen – dieser Gedanke war mir noch nie gekommen.

Mit Michael fuhr ich am nächsten Tag auf die vorgelagerte Insel Itaparica. Dort aßen wir in einem gehobenen Standlokal mit Blick auf die Skyline von Salvador de Bahia, die mir aus diese Entfernung vorkam wie Toronto oder Honolulu. Ein Kellner, der Michael offenbar kannte, fragte mich, ob ich Geld wechseln wollte, was ich erst verneinte, dann aber auf Michaels Rat doch tat. Schwarz tauschen ist in Brasilien Volkssport und trotzdem nicht ungefährlich. Betrügereien und auch Raubüberfälle waren in Rio an der Tagesordnung – warum also nicht hier die Gelegenheit wahrnehmen? Ich ging mit dem Kellner in die Herrentoilette und wechselte einhundert Dollar zu einem ausgezeichneten Kurs. Den Umtausch meiner Travellerchecks lehnte er allerdings ab. Zu viele Travellerchecks werden in Brasilien gefälscht oder gestohlen, in den Banken sind sie ohnehin nur noch mit großen Abschlägen umzutauschen. Als ich die Toilette verließ, passierte ich eine Gruppe, in der gerade ein Drogengeschäft abgewickelt wurde. Dass ich den Deal voll mitbekam, schien aber niemanden zu stören.

Am Abend besuchten wir eine Candomble Veranstaltung im großen Standlokal von Salvador de Bahia. Candomble, Xingu oder Macumba sind Sammelnamen für religiöse Riten auf dem Hintergrund schwarzafrikanischer Sklaventraditionen. Sie haben inmitten eines barocken Katholizismus jahrhundertelang überlebt und sind in der Empfindungswelt vieler Einheimischer längst mit den Figuren des christlichen Kanons verschmolzen. So ist der heilige Antonius für die Candomble Anhänger  der Gott Ogum – oder umgekehrt! Omulu ist der heilige Lazarus, und die Göttin Nana wird mit der heiligen Anna gleichgestellt. Ob Ogun, Omula oder Nan – die Candomble Tänzer fegten wie die Derwische über die Bühne, hinter ihren großen Masken  sprangen und schrien sie wie außer Sinnen  und vollführten aneinander in einem fort rhythmische Kopulations-bewegungen zu einer ohrenbetäubenden Beschallung.

Der Höhepunkt des Abends vollzog sich als eine artistische Capoeira-Show. Capoeira war die alte   Selbstverteidigungstechnik der schwarzafrikanischen Sklaven, eine Art Fußkampftechnik, die lange verboten war und die sich in unserem Jahrhundert  unter dem Einfluss europäischer Choreogtraphie zu eine Art Fußkampf-Ballet entwickelt hat. Der ganze Saal geriet in Raserei, als die Capoeira-Tänzer ihre Fußstöße, Tritte, Körperumdrehungen in perfekter Harmonie nur wenige Zentimeter am Gesicht des Partners vorbeivollführten.  In der zweiten Reihe kam es zu einer Schlägerei, weil einer der Zuschauer aufgesprungen war und mittanzen wollte, wobei er aber in seiner Ungeübtheit dem Vordermann ins Kreuz trat, was dieser mit einem Freistilangriff beantwortete. Nach einem kurzen Handgemenge war der Aufruhr jedoch schnell vorbei. Als wir das Lokal verließen, boten uns zwei blutjunge Mädchen ihre Dienste an, nicht sonderlich aufdringlich und sogar ein wenig verspielt. Kurt antwortete freundlich und verschwand mit einer der beiden in der Dunkelheit.  Ich habe ihn nicht wieder gesehen. Als ich das Hotel am nächsten Morgen verließ, war er nicht auf seinem Zimmer.

Nun ist es endlich soweit. Regen über Äquatorialbrasilien. Wie aus Kübeln schüttete es auf die Fahrzeuge, als ich Salvador de Bahia im Überlandbus verließ. Die Traumstrände von Maceio standen unter Wasser, ich kam, sah und haute gleich wieder ab. Danach hing ich einen Tag lang fest, weil alle Busse nach Norden voll waren. Schließlich vereinbarte ich an einer Tankstelle mit einem Fahrer und seiner Frau, dass sie mich für einen fairen Betrag dreihundert Kilometer bis nach Recife mitnehmen sollten. Was sie nicht erzählt hatten, war, dass der Wagen praktisch keine Rückbank besaß und ich vier Stunden lang  praktisch auf der Achse sitzen musste. Auch Recife, die Millionenstadt und das Sprungbrett für meine Heimreise nach Lissabon war vom Sommerregen eingehüllt. Hier goss es schon seit Tagen, schwarze Fluten schossen durch die Straßen, es donnerte und  blitzte, so dass ich mich dazu entschloss, ins Reisebüro zu gehen und mich zum ersten Mal vorsichtig nach dem Heimflug zu erkundigen.

Brasilien 1989 (061)

Ein Gedanke zu „Von Rio nach Recife

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