Spaziergänge durch die Vergangenheit und Gegenwart Sydneys
Der größte Schock der australischen Geschichte, so heißt es, bestand im ersten Anblick der Bucht von Sydney. Über ein halbes Jahr lang war die First Fleet unter dem Kommando von Kapitän Arthur Phillip mit einer Fracht von 736 Häftlingen über die Ozeane gekreuzt, nur um im heißesten Monat des australischen Sommers an einer Küste zu landen, die nach dem ersten Eindruck von Kapitän und Mannschaft an Ödnis kaum zu übertreffen war. „Ich behaupte, dass es auf der ganzen Welt kein schlimmeres Land gibt“, notierte ein britischer Offizier deprimiert in sein Tagebuch. „Alles um uns herum ist so unfruchtbar und abweisend , dass man wahrlich sagen kann: Die Natur ist auf den Kopf gestellt.“
Aber es half nichts. Die Regierung ihrer britischen Majestät hatte die Gründung einer Sträflingskolonie am Ende der Welt befohlen, und Kapitän Arthur Phillip machte sich als erster Gouverneur der Antipoden daran, diesen Auftrag so gut als möglich zu erfüllen . Die Schiffe legten an, Geräte, Vorräte und Zelte wurden an Land gebracht, ehe am 26.1.1778 der Union Jack gleich unterhalb der heutigen Harbour Bridge hochgezogen wurde: die Stadt Sydney – so benannt nach dem englischen Innenminister Lord Sydney – erschien als erste weiße Siedlung auf der noch geräumigen Bühne der australischen Geschichte. Es dauerte nicht lange, da umkreisten die ersten Aborigines die provisorische Zeltstadt. Sie waren zum Schutz vor Moskitostichen mit übel riechenden Fischinnereien eingeschmiert, schwangen ihre Speere und riefen „warra, warra“ – „verschwindet“- als ahnten sie bereits dass die Landung der Weißen für sie nichts Gutes bringen würde. Bald jedoch entspannte sich die Stimmung: Speisen und Geschenke wurden ausgetauscht, ein Schiffsmaat musste auf Geheiß des Kapitäns in einen Waran, das Gastgeschenk der Aborigines, beißen, während sich die Delegation von Ureinwohnern an Pökelfleisch aus der Schiffsküche laben und sich köstlich über einen Matrosen amüsieren durfte, dem der Kapitän befohlen hatte, zur Erheiterung der Ureinwohner die Hosen herunterzulassen.
Damit aber war der fröhliche Teil der frühen Stadtgeschichte von Sydney auch schon beendet. Da sich die Böden rund um die Botany Bay und die Sydney Cove als extrem unfruchtbar erwiesen und die Versorgungsflotten aus England nur unregelmäßig eintrafen, verwandelte sich die junge Kolonie schnell in ein Gefängnis am Rande des Hungertodes . Auf Diebstahl von Steckbohnen und Zuchtvieh stand der Galgen, Häftlinge und Wärter brachen tot auf den Feldern zusammen, und selbst Arthur Phillip, der seine eigenen Gouverneursrationen in den allgemeinen Vorrat überführt hatte, amtierte am Rande des Verhungerns. Halb wahnsinnig vor Verzweiflung versuchten die Sträflinge in Ruderbooten den Pazifik in Richtung Amerika zu überqueren, oder sie flohen in die Wildnis der Blue Mountains, hinter denen sie die üppigen Reisfelder Chinas vermuteten. Erst nach der Erschließung der fruchtbaren Böden von Parramatta und Toongabbie im Westen des heutigen Sydney und endgültig erst mit der Etablierung einer erfolgreichen Merino-Schafzucht normalisierte sich die Lage, wenn auch die Erinnerung an Sydneys erste Hungerjahre zum signifikanten Bestandteil der australischen Geschichte wurde.
Das Sydney unserer Tage hat mit dem trüben Ort der Not und des Kummers, über den Arthur Phillip regierte, kaum mehr gemeinsam als den Namen und die Geographie . Und möglicherweise den Hunger, denn der Sdydneysider unserer Tage ist ein treuer Dauerkunde aller nur erdenklicher Schnellrestaurants, der zugunsten von Menge und Nahrhaftigkeit gerne auf das ganze Arsenal der kulinarischer Tricks verzichtet, auf die sich die Bürger von Melbourne so viel zugutehalten . Takeaways, Counter Corner Food, inzwischen auch das ganze Angebot der asiatischen Schnellküchen von Mie Po bis Sate Ayam, Chicken Curry, Döner, Kebab, Thali, Charpatti oder Dal treffen in Sydney auf eine rege Nachfrage – ganz gleich ob sich die sich die Orte der Verköstigung in der Oxford Street, im Chinesenviertel von Downtown Sydney , in „The Rocks“ oder in Kings Cross befinden, dem wahrscheinlich einzigen Rotlichtviertel der Welt, in dem mehr gegessen als gesündigt wird .
Die Vielfalt der Speisen ist allerdings nur ein Refelx der Multikulturalistät, auf die sich wiederum Sydney viel zugutehält. Schon am frühen Morgen passieren die irlandstämmigen Australier den Hyde Park auf dem Weg zur Frühmesse in der benachbarten St Mary’s Catheral, europäische, asiatisch oder ozeanisch aussehende Schüler schlendern durch „The Domain“, nicht minder bunt durchmischte Kindergartengruppen spielen auf den Rasen, Bankangestellte im lupenreinen Britenlook lesen ihre Zeitung in der Mittagspause, ein philippinisches Kindermädchen schiebt dem Kinderwagen durch den Park, während sich japanische Backpacker von den Strapazen der Rundgänge bei einem Nickerchen im Schatten einer Akazie erholen. Aufgeregt erscheinen in diesem urbanen Reigen allein die Angehörigen der internationalen Touristengemeinde während ihrer Fototermine vor dem Archibald Foutain, der St. Mary ’s Cathedral oder der Kolossalskulptur Kapitän James Cooks, dem der fünfte Kontinent nicht nur die Entdeckung der Sydney Cove sondern auch jene enthusiastischen Berichte verdankte, die die Spitzen der englischen Admiralität überhaupt erst auf die Idee brachten, nach dem Verlust der nordamerikanischen Kolonien am Ende der Welt eine neue Sträflingskolonie zu gründen. „In Wirklichkeit sind sie weit glücklicher als wir Europäer. Nicht nur wissen sie nichts von den uns in Europa so nötigen Annehmlichkeiten, sie sind auch glücklich, weil sie ihren Gebrauch nicht kennen. Die Ruhe, in der sie leben, wird durch die Ungleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen nicht gestört.“ schrieb Kapitän Cook im März 1770 nach seiner Abreise aus der Botany Bay in sein Tagebuch. Auch wenn er damit die Lebensverhältnisse der örtlichen Aborigines idealisierte – als Beschreibung des heutigen Treibens im Hyde- und Cook Park von Sydney könnte es beinahe ungeändert durchgehen lassen.
Seit Kapitän Cooks Entdeckung der südöstlichen Küste Australiens und der Ankunft der FirstFleet sind weniger als zweieinhalb Jahrhunderte vergangen, was nach europäischen maßstäben wenig scheint, aber immer noch weiter in die Vergangenheit zurückreicht als die Gründung von Singapur, Shanghai oder Hongkong. Doch im Unterschied zu diesen asiatischen Metropolen fehlt der Stadt trotz aller gegenteiligen Beteuerungen der Reiseführer das historische Flair,-ganz einfach, weil die städtebaulichen Überreste ihrer Geschichte planiert der so perfekt restauriert wurden, dass der Betrachter bei ihrem Anblick keineswegs immer sogleich den Eindruck gewinnt, vor einem historischen Gebäude zu stehen. Dass die Hyde Park Barracks (-am südlichen Ausgang des Hyde Parks im frühen 19. Jhdt. den neueintreffenden Sträflingen eine erste menschenwürdige Unterkunft boten, ist ihnen jedenfalls nicht anzusehen. Das benachbarte Sydney Hospital, das erste Krankenhaus Australiens, das der Häftlingsarchitekt Francis Greenway im Jahre 1819 aus den Erlösen einer Rum-Lotterie erbauen ließ, erinnert eher an ein Hotel als an ein Krankenhaus. Historisches Ambiente verbreiten in einer so sterilen Umgebung am ehesten noch die Denkmäler – wie etwa die Skulptur von Matthew Flinders, dessen Erkundungsreisen zwischen 1799 und 1803 rund um den gesamten Erdteil den Nachweis erbrachten, dass das nördliche Neuholland der Niederländer und das südliche New South Wales der Briten keine Inseln sondern Bestandteile eines einzigen Kontinents waren, für den sich nach Flinders Vorschlag ab dem Jahre 1817 der Namen „Australien“ einbürgerte.
Einmal unterwegs muss der Spaziergänger, der von der Oxford Street und dem Hyde Park aus in Richtung Süden schlendert, nun nur noch eine gut frequentierte Straße überqueren, um den Royal Botanic Garden zu erreichen, einen subtropisch anmutendes Refugium im Schatten der Wolkenkratzer, in dem sich nicht nur zahlreiche Regenwaldbiotope aus anderen Teilen des Kontinentes sondern auch das „Gouvernement House“, der ehemaligen Sitz der britischen Generalgouverneure, befindet. Die ältesten Bauarbeiten am Gouvernement House sollen noch von Arthur Phillip, dem Kommandanten der First Fleet, stammen, später residierte in nicht erhaltenen Gebäudeteilen William Bligh, der berühmt-berüchtigte Kapitän der ,,Bounty“, der als Gouverneur von New South Wales im Jahre 1808 in Sydney seine zweite Meuterei erlebte – und schließlich Lachlan Macquarie, der in Sydney wie ein Stadtgründer verehrt wird.
Dreierlei halten die Sydneysider ihrem bedeutendsten Gouverneur bis heute zugute. Zunächst beendete Lachlan Macquarie den Schindluder, der seit der Gründung der Kolonie mit dem Leben der Deportierten getrieben wurde. Denn bis zu Macquaries Amtsantritt galt eine hohe Häftlingssterblichkeit während der Überfahrt keineswegs als Übel sondern als notwendiger Bestandteil der geschäftlichen Kalkulation, wurde doch durch den massenhaften Tod unter Deck reichlich Laderaum für Waren frei, die man in Rio oder Kapstadt bunkern und in Sydney gegen gutes Geld verkaufen konnte. Erst als William Redfern, ein ehemaliger Sträfling und nach seiner Freilassung der erste Arzt Australiens, im Auftrag des Gouverneurs einen Report über die Praxis der Deportationen nach London sandte, wurden auf Geheiß der englischen Krone Mindeststandards für Verköstigung, Desinfektion und Unterbringung eingeführt, so dass innerhalb kurzer Zeit die Sterblichkeitsquoten um 75 % zurückgingen. Macquarie machte außerdem konsequent von seinem Recht Gebrauch, in Fällen besonderer Bewährung vorzeitige Begnadigungen auszusprechen, eine Politik, deren Erfolge nicht lange auf sich warten ließen. Als im Jahre 1813 endlich ein Übergang über die Blue Mountains gefunden wurde und sich die Kunde von fruchtbarem Weideland jenseits des Gebirges wie ein Lauffeuer verbreitete, gelang sechzig ausgesuchten Häftlingen, denen dafür die Freiheit versprochen worden war, innerhalb von nur einem halben Jahr die Errichtung einer provisorischen Straße von Sydney in das Innere des Kontinents. Schließlich wurde Sydney, nach Macquaries Meinung bei seiner Ankunft nichts weiter als „ein elender Schweinekoben“ endlich so ausgebaut, dass man innerhalb der Stadtgrenzen auch noch an etwas anderes denken konnte, als an die baldestmögliche Heimkehr nach England. Anstelle von Elendsquartieren und Schenken, die größtenteils ihre Lizenz verloren, entstanden nach den Ideen des Gouverneurs und den Plänen Francis Greenways die schon erwähnten Hyde Park Barracks, das Sydney-Hospital, Straßenbeleuchtungsanlagen, Parks, Schulen, Kirchen und öffentliche Fabriken, in denen die mittellosen Freigelassenen Arbeit und Lohn finden konnten.
Das Mutterland hat diese Leistungen Gouverneur Macquarie schlecht gedankt. Der Anstieg der Kosten für die Kolonialverwaltung und eine perfide Kampagne der einheimischen Merinoschaf-Barone gegen den vermeintlich zu sträflingsfreundlichen Gouverneur führte schließlich im Jahre 1821 zur Abberufung Lachlan Macquaries nach England, wo er schon drei Jahre später verstarb. Doch die Sydneysider wären für ihren Hintersinn nicht berühmt, wüssten sie das Angedenken an ihren eigentlichen Stadtgründer nicht durch eine Reminiszenz der besonderen Art zu bewahren. ,,Miss Macquaries Chair“ heißt einer der schönsten Aussichtspunkte der Stadt, von dem aus sich die größte und älteste Stadt Australiens nicht nur in ihrer gegenwärtigen lmposanz sondern auch in ihrer geschichtlichen Gewordenheit erschließt. Es ist fast so, als wollten die Sydneysider durch den offerierten Ausblick von „Miss MacQuarries Chair“ demonstrieren, wie die konstruktive städtebauliche Linie, die Macquarie und Greenway im frühen 19. Jahrhundert begonnen hatten, im Sydney des 20. Jhdts. gleichsam zuendegeführt wurde. Denn von der Spitze der kleinen Halbinsel östlich vom Gouverneurs House, wo die Gattin des Gouverneurs oft heimwehkrank von der Rückkehr nach England geträumt haben soll, erschließt sich heute eines der schönsten Städtepanoramen der Erde, das jeden Gedanken an Heimweh verscheucht: die prachtvolle Bucht von Sydney im nebeneinander von Opernhaus, Harbour Bridge und der Skyscraper Silhouette von Downtown Sydney.
Die Hafenfront von Sydney, wie sie entweder von Miss Macquaries Chair, vom Milson Point auf der anderen Seite der Bucht oder von einem der Ausflugsboote in der Sydney Cove betrachtet werden kann, ist es vor allem, die Sydney den Ruhm eintrug, neben Rio de Janeiro und Kapstadt die schönste Stadt der Welt zu sein, – was im Falle Sydneys auch deswegen viel heißen will, weil hier anders als in Rio oder Kapstadt das Stadtbild ohne eine malerische Berg- und Felsenkulisse allein durch seine Architektur auf den Besucher wirken muss. Die vertikalen Kontraste, die in Rio und Kapstadt als Geschenke der Natur lange vor der Entstehung menschlicher Siedlungen bereitlagen und als Zuckerhut und Tafelberg einen Großteil der ästhetischen Wirkung erzeugen, mussten in Sydney durch Menschenhand geschaffen werden. Wie drei asynchrone aber aufeinander bezogene Wellen ergeben die geöffnete Muschelschalen des Opernhauses, der kühne Schwung der Skyscraper Silhouette von Downtown und die gigantische Wölbung, in der die Harbour Bridge das Hafenbecken überspannt, den Eindruck einer perfekten Harmonie von Urbanität und Natur, von der sich in den frühen Tagen der Sydneysider Geschichte niemand auch nur in Ansätzen etwas hätte träumen lassen.
So befand sich etwa auf der Halbinsel gleich neben Miss Macquaries Chair, auf der später Sydneys weltberühmtes Opernhaus entstehen sollte, in den frühen Gründungstagen der Stadt die ärmliche Behausung eines Iora-Aboringines, der unter dem Namen Bennelong in seinem Schicksal die tragische Zukunft vorwegnehmen sollte, mit der Seinesgleichen nach der Landung der Weißen zu rechnen hatten. Als junger Mann von Gouverneur Phillip aufgenommen und erzogen, begleitete Bennelong seinen Lehrer im Jahre 1792 zurück nach England, wo sein Auftritt jedoch enttäuschte, entsprach der junge Aborigine doch so gar nicht den Phantasiebildern vom „edlen Wilden“ die in den europäischen Köpfen am Ende des 18. Jahrhunderts herumspukten. So wurde Bennelong schon 1795 mit dem neuen Gouverneur Hunter wieder nach Sydney zurückgeschickt, verfiel dort der Trunksucht und starb im Jahre 1813 kaum vierzig Jahre alt genau an jenem Ort, an dem sich heute in einer makabren Sinnhaftigkeit das Sydney Opera House, das grandiose Wahrzeichen des weißen Australiens, erhebt.
Heute der Stolz der Stadt war das Sydney Opera House wie viele Schöpfungen der modernen Architektur anfänglich allerdings alles andere als unumstritten: die abstrakte Konzeption des Gebäude wollte vielen bodenständigen Sydneysidern nicht gefallen, die Baukosten, ursprünglich auf sieben Millionen australische Dollar veranschlagt, explodierten auf über einhundert Millionen, und schließlich warf sogar der dänische Architekt Jörn Utzon das Handtuch, als ihm die Änderungswünsche seiner Auftraggeber über den Kopf zu wachsen drohten. Dass das Werk dann doch noch im September 1973 durch niemand Geringeren als das Staatsoberhaupt Queen Elisabeth II eingeweiht werden konnte, verdankten die pragmatischen Stadtväter der bewähren Idee, die Baukosten einfach durch eine Lotterie zu finanzieren. Mit den Jahren und der internationalen Anerkennung, die das Gebäude fand, wuchs auch die Liebe der Sydneysider zu ihrem Wahrzeichen, dessen bedeutendsten Eigenschaft wohl darin liegt, dass jedermann in ihm etwas anderes zu sehen vermag: eine Familie perlweißer Muscheln, die ihre Schalen alle gleichzeitig öffnen, wie ein Schiff, das mit vollen Segeln in die Sydney Cove zu starten scheint oder einfach wie ein fragmentierter Baldachin, unter dessen Dächern die Ideen der Welt ihren Platz finden können – schier unendlich sind die Assoziationen, die das Werk in seinen Betrachtern erzeugt, so dass das Sydney Opera House von der Times zum „Bauwerk des Jahrhunderts“ gekürt wurde.
Gleich neben dem Sydney Opera House führt eine Flaniermeile zum Circular Quay, dem Verkehrsknotenpunkt de Stadt, von dem aus die Busse und Fähren in die nähere und weitere Umgebung von Sydney starten. Gerade mal dreißig Minuten dauert von hier aus die Fährfahrt zum Pazifikstrand von Manly, noch schneller funktioniert der Transport nach Darling Harbour, dem expedierenden Vergnügungsviertel der Stadt, und gerade mal zehn Minuten benötigt die Fähre zum Milsons Point auf der anderen Seite der Bucht. Das kunterbunte Nebeneinander von Fahrkartenschaltern, Andenkengeschäften, Flohmarktständen, Restaurants undtakeways, das Kommen und Gehen der Sydneysider auf dem Weg zur Arbeit oder nachhause, die Allgegenwart der Touristen als freundliche Komparsen des Geschehens und die musikalische Begleitung, mit der dieStraßenmusikanten dieses Treiben unterlegen, ergäben am Circular Quay ein Idyll an der Grenze zum multikulturellen Kitsch, würden nicht hier und da an den Häuserwänden und neben den Eingängen zu den Fährstationen derangierte Aborigines vor ihren Bettelschalen, ihren ärmlichen Auslagen oder ihren Didjeridoo-Imitaten wie ein memento mori daran ennnern, dass die so kraftvolle Entfaltung der europäisch-asiatischen Zivilisation im Südwesten des australischen Kontinents gleichbedeutend war mit dem deprimierenden Niedergang der australischen Ureinwohner.
Außer am Circular Quay wird man in Sydney den Ureinwohnern ohnehin nur noch in Museen oder der Northern Territory Hall in Darling Harbour begegnen. Aus dem Stadtbild scheinen sie ebenso spurlos verschwunden zu sein wie aus der Geschichte, jedenfalls dann, wenn man die restaurierten Überreste des Viertel „The Rocks“ als Maßstab nimmt. Der Hügel zwischen Circular Quay und Harbour Bridge, auf dem die weiße Besiedlung des Fünften Kontinentes in Gestalt baufälliger Zelt- und Holzkonstruktionen ihren Anfang nahm, hat sich nach Abrissen in den Siebziger Jahren und nach einer grundlegenden Sanierung im Vorfeld der Zweihundertjahrfeier in ein touristisches Schmuckstück verwandelt, mit dem den Besuchern aus aller die zurechtgestylte Außenansicht einer fröhlichen Geschichte präsentiert werden soll. Ob die Besucher dabei wirklich fündig werden, wird man bezweifeln dürfen – nicht nur, weil die Aborigines in dieser Open-Air-Chronik fehlen, sondern auch, weil die Vielzahl von Feinschmeckerläden und Top-Restaurants, Souvenirshops, Boutiquen, Visitor-Centers und Weinläden die ohnehin wenig augenfällige historische Substanz einfach überlagert. Am Cadman Cottage, dem mit fast zweihundert Jahre alten ältesten Haus Sydney, läuft man leicht vorüber, weil es ebenso gestylt zurechtrestauriert dargeboten wird wie eine beliebige Anzahl moderner Gebäude. Dass die Statue ,,First Impressions“ am Rock Square den Betrachter wirklich zwingend die ersten harten Jahre der Stadtgeschichte erinnert, werden auch die Wohlmeinenden nicht behaupten wollen. Wo unter dem Regiment der ersten Gouverneure Phillip und Hunter Schmalhans Küchenmeister war, offenbart sich nun die Außenansicht einer arrivierten und wohlhabenden Stadt, deren multikulturelle Einwohnerschaft sich hier allabendlich Tisch an Tisch mit wohlhabenden Touristen aus aller Welt kulinarisch verwöhnen lässt. So ist das Viertel „The Rocks“ in seiner heutigen Gestalt, so angenehm es sich als Shopping- und Erlebnismeile auch durchschreiten lässt, mit den bitteren Tagen zwischen Arthur Phillips und Lachlan Macquaries Regiment am ehesten in einer Art historischer Reziprozität verbunden, die die Üppigkeit der Gegenwart wie einen Kontrapunkt beschwört, wo früher der extreme Mangel herrschte .
Wie sehr sich die geschichtliche Rekonstruktion von „The Rocks“ im Schatten der Gegenwart befindet, wird auch durch die große Zufahrtsstraßen verdeutlicht, die oberhalb von „The Rocks“ zur Habour Brücke führen, jener großen Bogenbrücke, die die Sydney Cove an ihrer schmalsten Stelle überspannt und Downtown Sydney mit den südlichen Stadtteilen verbindet. Die über einen Kilometer lange und knapp fünfzig Meter breite Eisenbrücke mit ihren acht Autospuren, ihren Schienentrassen, Radfahrer- und Fußgängerüberwegen war schon zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung im Jahr 1932 mit Absicht so grotesk überdimensioniert, dass sie die Verkehrsanforderungen künftiger Zeiten mühelos bewältigen konnte . Man wollte eben für die Zukunft bauen – ein Konzept, das in den nächsten beiden Generationen insofern aufging, als Sydneys Stadtverkehr schrittweise den Dimensionen der Brücke hinterherwuchs, bis er sie ab den Neunziger Jahren schließlich zu sprengen drohte. So ist die Zukunft, wie man sie im Jahre 1932 planen konnte, schneller als erwartet vergangen, so dass nur der Bau eines zusätzlichen Tunnels unter der Sydney Cove den drohenden Verkehrskollaps verhinderte.
Aber die Harbour Bridge, die die Sysdneysider vertraulich „The Clifihanger“, den Kleiderbügel, nennen, ist natürlich mehr als nur eine Verkehrsverbindung. Längst ist sie neben dem Opernhaus und dem Ayers Rock zu einem weltberühmten Wahrzeichen ganz Australiens geworden und darüber hinaus auch zu einer atemberaubenden Aussichtsplattform, für all diejenigen, die schwindelfrei und neugierig genug sind, die Brücke zu ersteigen. Denn nachdem die Harbour Bridge immer wieder zum Schauplatz waghasliger Kletterpartien und streng verbotener Para-Sail-Events geworden war, hat man sich im Jahre 1998 entschlossen , aus der Not eine Tugend zu machen, und eine Besteigung der Harbour Bridge im Rahmen einer geführten und gesicherten dreistündigen Klettertour für jedermann zu ermöglichen. Allerdings wird man für dieses Abenteuer ausgerüstet, als würde man eine Mondfahrt unternehmen. Nach einem ausführlichen Briefing und einer Alkoholkontrolle muss jeder Interessent einen Spezialanzug anlegen, in dem er mitsamt einem Kopfhörer, einemFunkgerät, einer Fließjacke und den Harbour-Bridge-Spezialschuhen so bombenfest mit einer Stahlsicherung mit Brückenstreben und Kletterkameraden verbunden wird, dass es auch für einen wild entschlossenen Selbstmörder ganz und gar unmöglich wäre, sich in die Tiefe zu stürzen.
Erschienen dem einen oder anderen Teilnehmer die Sicherheitsvorkehrungen zunächst ein wenig übertrieben, werden die meisten spätestens dann ihre Meinung ändern, wenn sie über einen schmalen und beängstigend dünnen Stahlgitterweg in schwindelerregender Höhe balancieren und dabei durch die engmaschigen aber durchsichtigen Gitterstreben in den gähnenden Abgrund unter ihren Füßen blicken müssen. Erst wenn die großen Pylone erreicht sind, gestaltet sich der Aufstieg etwas weniger schwindelerregend. Nach einem kurzen Treppenaufstieg betreten die Brückenkletterer schließlich die breiten und waagerechten Oberseiten der Bogenstreben, auf denen man in einer knappen Viertelstunde den Scheitelpunkt der Brücke erreicht. Schon während des Aufstiegs, erst recht aber am höchsten Punkt der Brücke, unterhalb der fünfzehn Meter hohen Flagge von New South Walews beginn die gewöhnlichenen Wahrnehmungsmodalitäten zu versagen. Weite und Tiefe scheinen sich umzukehren, und ein eigenartiges Gefühl aus Schaudern und Glück ergreift die Bridgeclimber zweihundert Meter über dem Wasser . Die Wolkenkratzersilhouetten von Downtown Sydney wirken nur noch wie zierlichen Umrisse einer Spielzeugstadt, winzige Schiffe, umkräuselt von weißen Wellenrändern, ziehen ihre Kreise weit unten in der Bucht, und das Sydney Opera House erscheint aus dieser Perspektive wie eine Armada von drei Schiffen, die sich aufmachen, mit gesetzten Segeln den Pazifik zu befahren .