Kein Grund mehr zum Heimweh am Ende der Welt

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Spaziergänge durch die Vergangenheit und Gegenwart Sydneys

Der größte Schock der australischen Geschichte, so heißt es, bestand im ersten Anblick der Bucht von Sydney. Über ein halbes Jahr lang war die First Fleet unter dem Kommando von Kapitän Arthur Phillip mit einer Fracht von 736 Häftlingen über die Ozeane gekreuzt, nur um im heißesten Monat des australischen Sommers an einer Küste zu landen, die nach dem ersten Eindruck von Kapitän und Mannschaft an Ödnis kaum zu übertreffen war. „Ich behaupte, dass es auf der ganzen Welt kein schlimmeres Land gibt“, notierte ein  britischer  Offizier deprimiert in sein Tagebuch. „Alles um uns herum ist so unfruchtbar  und abweisend , dass man wahrlich sagen kann: Die Natur ist auf den Kopf gestellt.“

Aber es half nichts. Die Regierung ihrer britischen Majestät hatte die Gründung einer Sträflingskolonie am Ende der Welt befohlen, und Kapitän Arthur Phillip machte  sich  als erster Gouverneur der Antipoden daran, diesen Auftrag so gut als möglich zu erfüllen . Die Schiffe legten an, Geräte, Vorräte und Zelte wurden an Land gebracht, ehe am 26.1.1778 der Union Jack gleich unterhalb der heutigen Harbour Bridge  hochgezogen wurde: die Stadt Sydney  – so benannt  nach dem englischen Innenminister Lord Sydney – erschien als erste weiße Siedlung auf der  noch  geräumigen Bühne der  australischen Geschichte. Es dauerte nicht lange, da umkreisten die ersten Aborigines die provisorische Zeltstadt. Sie waren zum Schutz vor Moskitostichen mit übel riechenden Fischinnereien eingeschmiert, schwangen ihre Speere und riefen „warra, warra“ – „verschwindet“- als ahnten sie bereits dass die Landung der Weißen für sie nichts Gutes bringen würde. Bald jedoch entspannte sich die Stimmung: Speisen und Geschenke wurden ausgetauscht, ein Schiffsmaat musste auf Geheiß des Kapitäns in einen Waran, das Gastgeschenk der Aborigines, beißen, während sich die Delegation von Ureinwohnern an Pökelfleisch aus der Schiffsküche laben und  sich köstlich über einen Matrosen amüsieren durfte, dem der Kapitän befohlen hatte,  zur Erheiterung der Ureinwohner die Hosen herunterzulassen.

Damit aber war der fröhliche Teil der frühen Stadtgeschichte von  Sydney  auch  schon beendet. Da sich die Böden rund um die Botany Bay und die Sydney Cove als extrem unfruchtbar erwiesen und die Versorgungsflotten aus England nur unregelmäßig eintrafen, verwandelte sich die junge Kolonie schnell in ein Gefängnis am Rande des Hungertodes . Auf Diebstahl von Steckbohnen und Zuchtvieh stand der Galgen, Häftlinge und Wärter brachen tot   auf den Feldern zusammen, und selbst Arthur Phillip, der seine eigenen Gouverneursrationen   in den allgemeinen Vorrat überführt hatte, amtierte am Rande des Verhungerns. Halb wahnsinnig vor Verzweiflung versuchten die Sträflinge in Ruderbooten den Pazifik in Richtung Amerika zu überqueren, oder sie flohen in die Wildnis der Blue Mountains, hinter denen sie die üppigen Reisfelder Chinas vermuteten. Erst nach der Erschließung der fruchtbaren Böden von Parramatta und Toongabbie im Westen des heutigen Sydney und endgültig erst mit der Etablierung einer erfolgreichen Merino-Schafzucht normalisierte sich die Lage, wenn auch die Erinnerung an Sydneys erste Hungerjahre zum signifikanten  Bestandteil der australischen Geschichte wurde.

Das Sydney unserer Tage hat mit dem trüben Ort der Not und des Kummers, über den Arthur Phillip  regierte,  kaum   mehr  gemeinsam   als  den  Namen   und   die  Geographie .  Und möglicherweise den Hunger, denn der Sdydneysider unserer Tage ist ein treuer Dauerkunde aller nur erdenklicher Schnellrestaurants, der zugunsten von Menge und  Nahrhaftigkeit gerne auf das ganze Arsenal der kulinarischer Tricks verzichtet, auf die sich die Bürger von Melbourne so viel zugutehalten . Takeaways, Counter Corner Food, inzwischen auch das ganze Angebot der asiatischen Schnellküchen von Mie Po bis Sate Ayam, Chicken Curry, Döner, Kebab, Thali, Charpatti oder Dal treffen in Sydney auf eine rege Nachfrage – ganz gleich ob sich die sich die Orte der Verköstigung in der Oxford Street, im Chinesenviertel von Downtown Sydney , in „The Rocks“ oder in Kings Cross befinden, dem wahrscheinlich einzigen Rotlichtviertel der Welt, in dem mehr gegessen als gesündigt wird . image004-001

Die Vielfalt der Speisen ist allerdings nur ein Refelx der Multikulturalistät, auf die sich wiederum Sydney viel zugutehält. Schon am frühen Morgen   passieren die irlandstämmigen Australier den Hyde Park auf dem Weg zur Frühmesse in der   benachbarten  St Mary’s Catheral,   europäische,  asiatisch  oder ozeanisch   aussehende Schüler schlendern durch „The Domain“, nicht minder bunt durchmischte  Kindergartengruppen spielen   auf   den   Rasen,   Bankangestellte im lupenreinen  Britenlook lesen ihre Zeitung in der Mittagspause, ein philippinisches Kindermädchen schiebt dem Kinderwagen durch den Park, während sich japanische Backpacker von den Strapazen der Rundgänge bei einem Nickerchen im Schatten einer Akazie erholen. Aufgeregt erscheinen in diesem urbanen Reigen allein die Angehörigen der internationalen Touristengemeinde während ihrer Fototermine  vor  dem  Archibald Foutain, der St. Mary ’s Cathedral oder der Kolossalskulptur Kapitän James Cooks, dem der fünfte Kontinent nicht nur die Entdeckung der Sydney Cove sondern auch  jene enthusiastischen Berichte verdankte, die die Spitzen der englischen Admiralität überhaupt erst auf die Idee brachten, nach dem Verlust der nordamerikanischen Kolonien am Ende der Welt eine neue Sträflingskolonie zu gründen. „In Wirklichkeit sind sie weit glücklicher als wir Europäer. Nicht nur wissen sie nichts von den  uns in Europa   so nötigen Annehmlichkeiten, sie sind auch glücklich, weil sie ihren Gebrauch nicht kennen. Die Ruhe, in der sie leben, wird durch die Ungleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen nicht gestört.“  schrieb  Kapitän Cook im März 1770 nach seiner Abreise aus der Botany Bay in sein Tagebuch. Auch wenn er damit die Lebensverhältnisse der örtlichen Aborigines idealisierte – als Beschreibung des heutigen Treibens im Hyde- und Cook Park von Sydney könnte es beinahe ungeändert durchgehen lassen.

Seit Kapitän Cooks  Entdeckung der südöstlichen Küste Australiens und der Ankunft der FirstFleet sind   weniger   als   zweieinhalb Jahrhunderte   vergangen, was nach europäischen maßstäben wenig scheint, aber immer noch weiter in die Vergangenheit zurückreicht als die Gründung von Singapur, Shanghai oder Hongkong. Doch im Unterschied zu   diesen asiatischen Metropolen fehlt der Stadt trotz aller gegenteiligen Beteuerungen der Reiseführer das historische Flair,-ganz einfach, weil  die  städtebaulichen Überreste ihrer Geschichte planiert der so perfekt restauriert wurden, dass der Betrachter bei ihrem Anblick keineswegs immer sogleich den Eindruck gewinnt, vor einem historischen  Gebäude zu stehen.  Dass  die Hyde Park Barracks (-am südlichen Ausgang des Hyde Parks im frühen 19. Jhdt. den neueintreffenden Sträflingen eine erste menschenwürdige  Unterkunft  boten,  ist  ihnen jedenfalls nicht anzusehen. Das benachbarte Sydney Hospital, das erste Krankenhaus Australiens, das der Häftlingsarchitekt Francis Greenway im Jahre 1819 aus den Erlösen einer Rum-Lotterie erbauen ließ, erinnert eher an ein Hotel als an ein Krankenhaus. Historisches Ambiente verbreiten in einer so sterilen Umgebung am ehesten noch die Denkmäler  –  wie etwa die Skulptur von Matthew Flinders, dessen Erkundungsreisen zwischen 1799 und 1803 rund um den gesamten Erdteil den Nachweis erbrachten, dass das nördliche Neuholland der Niederländer und das südliche New South Wales der Briten keine Inseln sondern Bestandteile eines einzigen Kontinents waren, für den sich nach Flinders Vorschlag ab dem Jahre 1817 der Namen  „Australien“ einbürgerte.

Einmal unterwegs muss der Spaziergänger, der von der Oxford Street und dem Hyde Park aus in Richtung Süden schlendert, nun nur noch eine gut frequentierte Straße überqueren, um den Royal Botanic Garden zu erreichen, einen subtropisch anmutendes  Refugium im Schatten der Wolkenkratzer,  in dem sich nicht  nur  zahlreiche  Regenwaldbiotope  aus anderen  Teilen  des Kontinentes  sondern  auch  das  „Gouvernement  House“, der  ehemaligen  Sitz  der  britischen Generalgouverneure, befindet. Die ältesten Bauarbeiten am Gouvernement  House sollen noch von Arthur Phillip, dem Kommandanten  der First Fleet, stammen,  später residierte in   nicht erhaltenen Gebäudeteilen   William Bligh, der berühmt-berüchtigte   Kapitän der ,,Bounty“, der als Gouverneur von New South Wales im Jahre 1808 in Sydney seine zweite Meuterei erlebte – und schließlich Lachlan  Macquarie,   der in Sydney wie ein Stadtgründer verehrt wird.

Dreierlei halten die Sydneysider ihrem bedeutendsten Gouverneur bis heute zugute. Zunächst beendete Lachlan Macquarie den Schindluder, der seit der Gründung der Kolonie mit  dem Leben der Deportierten getrieben wurde. Denn bis zu Macquaries Amtsantritt galt eine hohe Häftlingssterblichkeit während der Überfahrt keineswegs als Übel sondern als notwendiger Bestandteil der geschäftlichen Kalkulation, wurde doch durch den massenhaften  Tod unter Deck reichlich Laderaum für Waren frei, die man in Rio oder  Kapstadt  bunkern  und  in Sydney  gegen  gutes  Geld  verkaufen konnte.   Erst  als  William  Redfern,  ein  ehemaliger Sträfling und nach seiner Freilassung der erste Arzt Australiens, im Auftrag des Gouverneurs einen Report über die Praxis der Deportationen nach London sandte, wurden auf Geheiß der englischen Krone Mindeststandards für Verköstigung, Desinfektion und Unterbringung eingeführt, so dass innerhalb kurzer Zeit die Sterblichkeitsquoten um 75 % zurückgingen. Macquarie machte außerdem konsequent von seinem Recht Gebrauch, in Fällen besonderer Bewährung vorzeitige Begnadigungen auszusprechen,  eine Politik, deren Erfolge nicht lange auf sich warten ließen. Als im Jahre 1813 endlich ein Übergang über die Blue Mountains gefunden wurde und sich die Kunde von fruchtbarem Weideland jenseits des Gebirges wie ein Lauffeuer verbreitete, gelang sechzig ausgesuchten Häftlingen, denen dafür die Freiheit versprochen worden war, innerhalb von nur einem halben Jahr die Errichtung einer provisorischen Straße von Sydney in das Innere des Kontinents. Schließlich wurde  Sydney, nach Macquaries Meinung bei seiner Ankunft nichts weiter als „ein elender Schweinekoben“ endlich so ausgebaut, dass man innerhalb der Stadtgrenzen auch noch an etwas anderes denken konnte,  als an die baldestmögliche  Heimkehr nach England.  Anstelle von Elendsquartieren und Schenken, die größtenteils ihre Lizenz verloren, entstanden nach den  Ideen  des Gouverneurs und den Plänen Francis Greenways die schon erwähnten Hyde Park Barracks, das Sydney-Hospital, Straßenbeleuchtungsanlagen, Parks, Schulen, Kirchen und öffentliche Fabriken, in denen die mittellosen Freigelassenen Arbeit und Lohn finden konnten.

Das Mutterland  hat  diese Leistungen  Gouverneur Macquarie  schlecht gedankt.  Der Anstieg der  Kosten  für  die  Kolonialverwaltung   und  eine perfide  Kampagne  der  einheimischen Merinoschaf-Barone gegen den vermeintlich zu sträflingsfreundlichen    Gouverneur   führte schließlich  im Jahre  1821 zur Abberufung  Lachlan Macquaries  nach England, wo er schon drei Jahre  später verstarb.  Doch die        Sydneysider wären  für ihren Hintersinn  nicht  berühmt, wüssten sie das Angedenken an ihren eigentlichen Stadtgründer nicht durch  eine Reminiszenz der  besonderen   Art  zu  bewahren.   ,,Miss  Macquaries  Chair“  heißt  einer  der  schönsten Aussichtspunkte der Stadt, von dem aus sich die größte und älteste Stadt Australiens nicht nur in  ihrer  gegenwärtigen   lmposanz   sondern   auch   in  ihrer  geschichtlichen   Gewordenheit erschließt.  Es ist  fast  so,  als wollten  die  Sydneysider  durch  den  offerierten  Ausblick  von „Miss   MacQuarries Chair“ demonstrieren, wie die konstruktive städtebauliche Linie, die Macquarie und Greenway im frühen 19. Jahrhundert begonnen hatten, im Sydney des 20. Jhdts. gleichsam zuendegeführt wurde. Denn von der Spitze der kleinen Halbinsel östlich vom Gouverneurs  House, wo  die  Gattin  des Gouverneurs  oft  heimwehkrank  von  der Rückkehr nach     England geträumt haben soll, erschließt sich heute eines  der  schönsten Städtepanoramen der Erde, das jeden Gedanken an Heimweh verscheucht: die prachtvolle Bucht von Sydney im nebeneinander von Opernhaus, Harbour Bridge und der Skyscraper Silhouette von Downtown Sydney.

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Die Hafenfront von Sydney, wie sie entweder von Miss Macquaries Chair, vom Milson Point auf der anderen Seite der Bucht oder von einem der Ausflugsboote in der Sydney Cove betrachtet werden kann, ist es vor allem, die Sydney den Ruhm eintrug, neben Rio de Janeiro und Kapstadt die schönste Stadt der Welt zu sein, – was im Falle Sydneys auch deswegen viel heißen will, weil hier anders als in Rio oder Kapstadt das  Stadtbild  ohne eine malerische Berg- und Felsenkulisse allein durch seine Architektur auf den Besucher wirken muss. Die vertikalen Kontraste, die in Rio und Kapstadt als Geschenke der Natur lange vor der Entstehung menschlicher Siedlungen bereitlagen und als Zuckerhut und Tafelberg einen Großteil der ästhetischen Wirkung erzeugen, mussten in Sydney durch  Menschenhand geschaffen werden. Wie drei asynchrone aber aufeinander bezogene Wellen ergeben die geöffnete Muschelschalen  des Opernhauses, der kühne  Schwung der Skyscraper  Silhouette von Downtown und die gigantische Wölbung, in der die Harbour Bridge das Hafenbecken überspannt, den Eindruck einer perfekten Harmonie von Urbanität und Natur, von der sich in den frühen Tagen der Sydneysider Geschichte niemand auch nur in Ansätzen etwas hätte träumen lassen.

So befand sich etwa auf der Halbinsel gleich neben  Miss Macquaries Chair, auf der später Sydneys weltberühmtes Opernhaus entstehen sollte, in den frühen Gründungstagen der Stadt die ärmliche Behausung eines Iora-Aboringines, der unter dem Namen Bennelong in seinem Schicksal die tragische Zukunft vorwegnehmen sollte,  mit der Seinesgleichen nach der Landung der Weißen zu rechnen hatten. Als junger Mann von Gouverneur  Phillip aufgenommen und erzogen, begleitete Bennelong  seinen Lehrer im Jahre 1792 zurück nach England, wo sein Auftritt jedoch enttäuschte, entsprach der junge Aborigine doch so gar nicht den Phantasiebildern vom „edlen Wilden“ die in den europäischen Köpfen am Ende des 18. Jahrhunderts herumspukten. So wurde Bennelong schon 1795 mit dem neuen Gouverneur Hunter wieder nach Sydney zurückgeschickt,  verfiel dort der Trunksucht und starb im Jahre 1813 kaum vierzig Jahre alt genau an jenem Ort, an dem sich heute in einer makabren Sinnhaftigkeit das Sydney Opera House, das grandiose Wahrzeichen des weißen Australiens, erhebt.

Heute der Stolz der Stadt war das Sydney Opera House wie viele Schöpfungen der modernen Architektur  anfänglich allerdings alles andere als unumstritten:  die abstrakte Konzeption  des Gebäude   wollte                 vielen bodenständigen Sydneysidern  nicht  gefallen,   die   Baukosten, ursprünglich  auf  sieben  Millionen  australische  Dollar  veranschlagt,   explodierten  auf  über einhundert  Millionen,  und  schließlich  warf  sogar  der  dänische  Architekt  Jörn  Utzon  das Handtuch,  als ihm  die Änderungswünsche  seiner  Auftraggeber  über  den Kopf  zu  wachsen drohten. Dass das Werk dann doch noch im September 1973 durch niemand Geringeren als das Staatsoberhaupt  Queen Elisabeth II eingeweiht werden konnte, verdankten die pragmatischen Stadtväter der  bewähren Idee, die Baukosten einfach durch eine Lotterie zu finanzieren.   Mit den  Jahren  und  der  internationalen  Anerkennung,  die  das  Gebäude  fand,  wuchs  auch  die Liebe der Sydneysider zu ihrem Wahrzeichen,  dessen bedeutendsten  Eigenschaft  wohl darin liegt,  dass jedermann  in  ihm  etwas  anderes  zu  sehen  vermag:  eine Familie  perlweißer Muscheln, die ihre Schalen alle gleichzeitig  öffnen, wie ein Schiff, das mit vollen  Segeln in die  Sydney  Cove  zu  starten  scheint  oder  einfach  wie  ein  fragmentierter  Baldachin,  unter dessen Dächern  die Ideen  der Welt  ihren Platz  finden können  – schier unendlich  sind  die   Assoziationen,  die das Werk   in seinen Betrachtern  erzeugt, so dass das Sydney Opera House     von der Times zum „Bauwerk des Jahrhunderts“ gekürt wurde.

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Gleich  neben  dem  Sydney  Opera  House  führt  eine Flaniermeile  zum  Circular  Quay,  dem Verkehrsknotenpunkt  de Stadt, von dem aus  die Busse und Fähren in die nähere und weitere Umgebung von Sydney starten. Gerade mal dreißig  Minuten dauert von hier aus die Fährfahrt zum  Pazifikstrand   von  Manly,   noch   schneller   funktioniert   der  Transport  nach  Darling Harbour,  dem  expedierenden  Vergnügungsviertel  der  Stadt, und  gerade  mal  zehn Minuten benötigt die Fähre zum Milsons Point auf der anderen Seite der Bucht. Das kunterbunte Nebeneinander von Fahrkartenschaltern, Andenkengeschäften, Flohmarktständen, Restaurants  undtakeways,  das Kommen  und  Gehen  der Sydneysider auf dem  Weg  zur Arbeit   oder  nachhause,   die  Allgegenwart   der  Touristen   als  freundliche  Komparsen   des Geschehens und  die  musikalische  Begleitung,   mit  der  dieStraßenmusikanten   dieses Treiben unterlegen,  ergäben am Circular Quay ein Idyll an der Grenze zum multikulturellen Kitsch, würden  nicht  hier  und  da an den Häuserwänden  und  neben  den Eingängen  zu  den Fährstationen   derangierte Aborigines vor ihren Bettelschalen, ihren ärmlichen Auslagen oder ihren  Didjeridoo-Imitaten  wie  ein  memento  mori  daran  ennnern,  dass  die  so  kraftvolle     Entfaltung der europäisch-asiatischen Zivilisation im Südwesten des australischen Kontinents gleichbedeutend war mit dem deprimierenden Niedergang der australischen Ureinwohner.

Außer am Circular Quay wird man in Sydney den Ureinwohnern ohnehin nur noch in Museen oder der Northern Territory Hall in Darling Harbour begegnen. Aus dem Stadtbild  scheinen sie ebenso spurlos verschwunden zu sein wie aus der Geschichte, jedenfalls  dann, wenn man die restaurierten Überreste des Viertel „The Rocks“ als Maßstab nimmt. Der Hügel zwischen Circular Quay und Harbour Bridge, auf dem die weiße Besiedlung des Fünften Kontinentes in Gestalt baufälliger Zelt- und Holzkonstruktionen  ihren Anfang nahm, hat sich nach  Abrissen in   den   Siebziger   Jahren   und   nach   einer   grundlegenden    Sanierung   im   Vorfeld  der Zweihundertjahrfeier  in ein  touristisches  Schmuckstück verwandelt,  mit dem den  Besuchern aus aller  die  zurechtgestylte   Außenansicht  einer fröhlichen Geschichte präsentiert werden soll. Ob die Besucher dabei wirklich fündig werden, wird man bezweifeln dürfen – nicht  nur,  weil  die  Aborigines  in  dieser  Open-Air-Chronik  fehlen, sondern auch, weil die Vielzahl von Feinschmeckerläden  und  Top-Restaurants, Souvenirshops, Boutiquen, Visitor-Centers und Weinläden die ohnehin wenig augenfällige historische  Substanz  einfach überlagert.  Am  Cadman  Cottage,  dem  mit    fast  zweihundert Jahre   alten   ältesten   Haus   Sydney,   läuft   man   leicht   vorüber,   weil   es   ebenso   gestylt zurechtrestauriert  dargeboten  wird  wie  eine beliebige  Anzahl  moderner  Gebäude.  Dass  die Statue ,,First Impressions“ am Rock Square den Betrachter wirklich zwingend die ersten harten Jahre der Stadtgeschichte erinnert, werden auch die Wohlmeinenden nicht behaupten wollen. Wo unter dem Regiment der ersten Gouverneure Phillip und Hunter Schmalhans Küchenmeister war, offenbart sich nun die Außenansicht einer arrivierten  und  wohlhabenden Stadt, deren multikulturelle Einwohnerschaft sich hier allabendlich Tisch an Tisch mit wohlhabenden Touristen aus aller Welt kulinarisch verwöhnen lässt. So ist das Viertel „The Rocks“ in seiner heutigen Gestalt, so angenehm es sich als Shopping- und Erlebnismeile auch durchschreiten lässt, mit den bitteren Tagen zwischen Arthur Phillips und Lachlan Macquaries Regiment am ehesten in einer Art historischer Reziprozität verbunden, die die Üppigkeit der Gegenwart wie einen Kontrapunkt beschwört, wo früher der extreme Mangel herrschte .

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Wie sehr sich die geschichtliche Rekonstruktion von „The Rocks“ im Schatten der Gegenwart befindet, wird auch durch die große Zufahrtsstraßen verdeutlicht, die oberhalb von  „The Rocks“ zur Habour Brücke führen, jener großen Bogenbrücke, die die Sydney Cove an ihrer schmalsten Stelle überspannt und Downtown  Sydney mit den südlichen Stadtteilen verbindet.   Die über einen Kilometer lange und knapp fünfzig Meter breite Eisenbrücke mit  ihren acht Autospuren, ihren Schienentrassen, Radfahrer- und Fußgängerüberwegen war schon zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung im Jahr 1932 mit Absicht so grotesk überdimensioniert, dass sie die Verkehrsanforderungen künftiger Zeiten mühelos bewältigen konnte . Man wollte eben für die Zukunft bauen – ein Konzept, das in den nächsten beiden Generationen insofern aufging, als  Sydneys Stadtverkehr  schrittweise den  Dimensionen  der Brücke hinterherwuchs,  bis er sie ab den Neunziger Jahren schließlich zu sprengen drohte. So ist die Zukunft, wie man sie im Jahre 1932 planen konnte, schneller als erwartet vergangen, so dass nur der Bau eines zusätzlichen Tunnels unter der Sydney Cove den drohenden Verkehrskollaps verhinderte.

Aber   die  Harbour   Bridge,    die   die   Sysdneysider   vertraulich  „The   Clifihanger“,   den Kleiderbügel,  nennen,  ist  natürlich  mehr  als  nur  eine  Verkehrsverbindung.  Längst  ist  sie neben  dem  Opernhaus  und  dem  Ayers  Rock  zu  einem  weltberühmten  Wahrzeichen  ganz Australiens geworden und darüber hinaus auch zu einer atemberaubenden  Aussichtsplattform, für all diejenigen, die schwindelfrei und neugierig genug sind, die Brücke zu ersteigen. Denn nachdem  die  Harbour  Bridge   immer  wieder  zum  Schauplatz  waghasliger  Kletterpartien und   streng   verbotener   Para-Sail-Events   geworden   war,   hat   man   sich   im   Jahre   1998 entschlossen , aus der Not eine Tugend zu machen, und eine Besteigung  der Harbour Bridge im Rahmen  einer  geführten  und  gesicherten  dreistündigen  Klettertour  für jedermann    zu ermöglichen.  Allerdings  wird  man  für  dieses  Abenteuer  ausgerüstet,  als  würde  man  eine Mondfahrt unternehmen. Nach einem ausführlichen  Briefing und einer Alkoholkontrolle  muss jeder  Interessent  einen Spezialanzug anlegen,  in dem  er   mitsamt  einem  Kopfhörer,  einemFunkgerät,   einer  Fließjacke  und  den  Harbour-Bridge-Spezialschuhen   so  bombenfest    mit einer   Stahlsicherung       mit        Brückenstreben     und    Kletterkameraden  verbunden wird, dass es auch für einen wild entschlossenen Selbstmörder ganz und gar unmöglich wäre, sich in die Tiefe zu stürzen.

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Erschienen dem einen oder anderen Teilnehmer die Sicherheitsvorkehrungen zunächst ein wenig übertrieben, werden die meisten spätestens dann  ihre Meinung  ändern,  wenn  sie   über  einen  schmalen  und  beängstigend   dünnen Stahlgitterweg in schwindelerregender Höhe balancieren und dabei durch die engmaschigen aber durchsichtigen Gitterstreben in den gähnenden Abgrund unter ihren Füßen blicken müssen. Erst wenn die großen Pylone erreicht sind, gestaltet sich der Aufstieg etwas weniger schwindelerregend. Nach einem kurzen Treppenaufstieg betreten die Brückenkletterer schließlich die breiten und waagerechten Oberseiten der Bogenstreben,  auf  denen  man  in einer  knappen Viertelstunde den Scheitelpunkt der Brücke erreicht. Schon  während  des  Aufstiegs,  erst  recht  aber  am  höchsten  Punkt der  Brücke,  unterhalb  der fünfzehn Meter hohen Flagge von New South Walews beginn die gewöhnlichenen Wahrnehmungsmodalitäten zu versagen. Weite und Tiefe scheinen sich umzukehren, und ein eigenartiges  Gefühl aus Schaudern und Glück  ergreift die Bridgeclimber  zweihundert  Meter  über dem Wasser . Die  Wolkenkratzersilhouetten von Downtown Sydney wirken nur noch wie zierlichen    Umrisse    einer    Spielzeugstadt,    winzige    Schiffe,    umkräuselt    von    weißen Wellenrändern,   ziehen ihre Kreise weit unten   in der Bucht,   und  das Sydney Opera House erscheint  aus dieser Perspektive wie eine Armada von drei Schiffen, die sich aufmachen, mit gesetzten Segeln den Pazifik zu befahren .

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