Das vorliegende Buch hat es in wenigen Jahren geschafft, für viele interessierte Leser zu einer Art Standardwerk über Afrika zu werden. Der Autor durfte darüber sogar im Freitagskreis von Helmut Schmidt referieren und wurde „von dem Herrn Bundespräsidenten“ in den Afrika-Beirat berufen. Der Buchtitel „Ach, Afrika“ ist inzwischen geradezu schulbildend für die Haltung geworden, einem Gegenstand mit Kummer und Sympathie gleichermaßen zugewandt zu sein (neuerdings werden auch Europaseminare unter dem Titel „Ach, Europa“ durchgeführt). Für die meinungsstarke Leserklientel aus dem Umfeld von ZEIT, Spiegel und Süddeutsche definiert das vorliegende Buch den politisch korrekten Standard dafür, wie kritisch heute von ehemaligen Kolonialmächten über Afrika gesprochen werden darf. Grund genug, nach der Lektüre der Afrikabücher von Petr Scholl-Latour auch dieses Buch endlich einmal hochzuladen und während einer Afrikareise zu lesen. Was also habe ich aus der Lektüre mitgenommen?
Um gleich die Antwort gegeben: sehr viele interessante Details, aber wenig Grundsätzlich Neues. Wie es sich für einen politisch korrekten Journalisten gehört, wird erst einmal die eigene Afrika-Wahrnehmung thematisiert und herausgearbeitet, dass das westliche Afrikabild eine Art Stereotyp ist, das den Afrika stigmatisiere und die Wahrnehmung dessen, was wirklich ist, behindert. Dieses kolonialgeschichtliche „Brett vor dem Kopf“, an dem nach Grills Meinung vieler seiner Kollegen leiden, bereitet auch dem Autor viel Kummer, so dass er immer dann, wenn die Befunde gar zu haarsträubend werden, in beispielhafter Sensibilität sich selbst sorgenvoll befragt: Urteile ich hier nicht zu eurozentrisch?
Trotzdem sind die einzelnen Kapitel des Buches mit großem Gewinn zu lesen. Insgesamt bieten sie eine Art Tour d´horizon durch die afrikanischen Verhältnisse, die der Autor aus seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Afrika-Korrespondent der ZEIT kennt. Die ungünstigen infrastrukturellen und geografischen Verhältnisse werden ebenso dargestellt wie die Entwicklungshemmnisse aufgrund tribalistischer Traditionen, die entsetzliche Aids Thematik wird ebenso in einem eigenen Kapitel behandelt wie der Völkermord in Ruanda-Burundi. Besonders interessant fand ich in diesem Zusammenhang die Anmerkungen über die „Weißen Elefanten“, d. h. über jene sinnlosen Mammutprojekte, die den Kontinent ruinieren, ohne irgendeinen Nutzen zu zeitigen. Ein Hinweis darauf, dass „Weiße Elefanten“ keine Spezialität Afrika sind, sondern auch auf andern Kontinenten anzutreffen sind fehlt allerdings(Die deutsche Energiewende lässt grüßen). Absolut lesenswert und vielleicht das beste Kapitel des Buches bilden Grills Ausführungen über den afrikanischen Sklavenhandel. In deutlicher Abgrenzung zum Ondit verweist der Autor darauf, dass der transatlantische Sklavenhandel ohne die tatkräftige Mithilfe westafrikanischer Reiche wie Mali, Bornu, Songhai oder Sokolu undenkbar gewesen wäre – und mokiert sich darüber, dass die Afrikaner heute davon überhaupt nichts mehr wissen wollen.
Doch so ungünstig sich all diese Faktoren auch auswirken mögen – der entscheidende Grund für die anhaltende Malaise Afrikas ist für Bartholomäus Grill ein anderer: es ist die menschenverachtende Gier der afrikanischen Eliten, die ihre Staaten, Menschen und Naturräume in unglaublicher Weise ausbeuten. Mobutu, Mugabe, Moi, Amin, Bokassa und wie die Kriminellen an den Staatsspitzen auch heißen mögen sind nach Grill für „80 %“ der Not des Kontinentes verantwortlich. Wo der Autor in der ersten Auflage des vorliegenden Buches Südafrika nach der Apartheit noch als Hoffnungsschimmer und Vorbild für Afrika erkennen wollte, korrigiert er sich im letzten Kapitel der Neuauflage, in dem er kein Blatt mehr vor den Mund nimmt und die schrecklichen Zustände am Kap beim Namen nennt. Alle die im deutschen Staatsfernsehen anlässlich der Fußballweltmeisterschaft von 2010 die säuselnden Kommentare von der multikulturellen und friedvollen „Regenbogennation“ haben hören müssen, sollten jetzt die Ohren klingeln. Es legt dem Autor Ehre ein, dass er im Unterschied zu den öffentlich-rechtlichen Medien das Desaster am Kap nicht schönredet, sondern Ross und Reiter nennt.
Sprachlich ist das Werk allererste Sahne – mehr noch: die geschliffene Journalistenprosa von Bartholomäus Grill sucht ihresgleichen: es ist eine einzige Suada des Mitfühlens, der Trauer, der Klage, der Betroffenheit, die immer zwischen Dur und Moll (Kritik und Verständnis) hin und her pendelt – ohne allerdings zu einem bündigen Akkord zu finden. In diesem permanenten Sowohl-Als-Auch und der Unwilligkeit, übergreifende Zusammenhänge herzustellen, liegt vielleicht der einzige wirkliche Schwachpunkt des Buches. Der emotional stark engagierte Autor Grill schimpft an vielen Stellen über Afrika wie ein Rohrspatz, putzt aber jeden Kollegen nieder, der das gleiche tut und in seinen Urteilen den Bereich der politisch erlaubten Afrikakritik überschreitet. Das Bartholomäus Grill selbst Peter Scholl Latour in verblüffender Arroganz mit einigen abwertenden Bemerkungen abtut(„Veteranenweisheiten“), ist allerdings ein glattes Eigentor, denn bei aller Anerkennung für „Ach, Afrika“ sind die Bücher von Scholl-Latour doch noch einmal eine ganz andere Hausnummer.