Ford: Die Lage des Landes
Ich habe dieses Buch nach einer Lesung von Richard Ford in Köln gekauft. Der Meister kam verspätet und er glich jenen Dichtern, von denen Hesse sagt, dass sie blass und schwächlich daher kommen, weil sie ihr Bestes ihren Büchern gegeben haben. Aber niemand störte das, alle Zuhörer brannten darauf, Neues von Frank Bascombe zu erfahren, dem Alter Ego einer ganzen Generation einem Mann, der sich redlich bemüht, sein Leben zu leben und der nun kurz vor dem Finale steht, das heißt: vor Endlichkeit, Alter, Einsamkeit und Tod.
Frank Bascombe, den wir vor noch im alten Jahrtausend in „Sportreporter“ kennen gelernt haben und der uns in „Independent Day“ vor einem Jahrzehnt als Mittvierziger wieder begegnete, ist nun ( wie viele seiner Leser in Echtzeit! ) ein Mittfünfziger geworden. Nach der „Existenzphase“, die das Thema von „Independent Day“ gewesen ist, hat Bascombe nun die „Permanenzphase“ erreicht, jene Phase, in der man sich selbst ins Gesicht sehen und sich ehrlich eingestehen muss: Das war es! Es kommt nichts mehr. Ich bin genau der, der ich geworden bin.
Fords Werk aber besäße nicht seinen außergewöhnlichen Rang, wenn das, was es bei dieser Lebensbilanzierung zu lernen gibt, nicht weit über Bascombes private Existenz hinausweisen würden. Frank Bascombes Reflexionen, Besuche und Gespräche im Umfeld des Thanksgivingfestes des Jahres 2000 präsentieren dem Leser stattdessen wirklich und wahrhaftig die „Lage des Landes“ – und das gleich in einem mehrfachen Sinn. Zunächst geht es um das, was die Amerikaner als „State of the Nation“ bezeichnen, also eine Gesamtschau der politischen und wirtschaftlichen Zustände, die sich gerade am Ende des Jahres 2000 im Angesicht des einbrechenden Technologiemarktes und des Bush-Gore Wahldebakels alles andere als heiter ausnehmen Sodann umschreibt die Wendung „Die Lage des Landes“ die Lage eines Hauses oder Grundstückes, was auf die Bascombesche Berufstätigkeit als Immobilienmakler anspielt. Und schließlich kennzeichnet die Wendung „Die Lage des Landes“ die Befindlichkeit eines Menschen innerhalb einer sozialen Gemeinschaft. Indem Ford diese im Titel konnotativ verschlungenen Ebenen scheinbar mühelos ineinander verschachtelt, entsteht ein ungemein verästeltes aber stimmiges Vexierbild der modernen Gesellschaft, zugleich aber auch das Portrait eines postmodernen „Mannes ohne Eigenschaften“, in dem sich ein jeder, wenn er nur genau genug hinschaut, wieder erkennen kann.
Denn die Schicksalsschläge, die Bascombe im „Sportreporter“, in „Independent Day“ und nun in der „Lage des Landes“ bewältigen muss, besitzen ja beileibe nichts Außergewöhnliches. Sein Unglück ist das Unglück von Millionen, das deswegen trotzdem nicht weniger schmerzt. Nun, im dritten Teil der Bascombe Trilogie, hat ihn, mitten im Hochgefühl eines insgesamt gelungenes Lebens, seine zweite Frau Sally verlassen, weil ihr jahrzehntelang verschwundener und durchgeknallter Ehemann Wally plötzlich wieder aufgetaucht ist – und als sein dies nicht genug, wird kurz darauf bei Bascombe Prostatakrebs diagnostiziert. Das ist das Bühnenbild, auf dem nacheinander die alten Bekannten aus den ersten beiden Bänden der Bascombe Trilogie auftreten, um ihren abschließenden Part in diesem Lebensschauspiel zu spielen. Da ist natürlich die durch und durch egomanische erste Ehefrau Anne Dykstra, sodann die lesbische Tochter Clarissa, der schräge und eigenwillige Sohn Paul, die diversen Partner der Kinder, die Freunde und Nachbarn, und sogar die dralle Vicky, die dem armen Frank dereinst im „Sportreporter“ das Herz gebrochen hatte, gibt nun mit fünfzehn Kilogramm mehr auf den schönen Hüften ein kurzes Gastspiel.Was Bascombe und den Seinen in den drei Tagen rund um das Thanksgivingfest im Einzelnen widerfährt und sich schließlich in einem schrillen Finale entlädt, braucht hier nicht erzählt zu werden. Eigentlich ist es nicht viel, und doch umfasst das wenige, was geschieht, in seiner literarischen Präsentation den Bedeutungsgehalt eines ganzen Lebens. Die unglaubliche Vielfalt an Realität, an Reflexion, aber auch an untergründigem Humor, an Weisheit und sprachlicher Brillanz, die der Autor dabei entfaltet, kann man überhaupt nicht zusammenfassen – sondern einfach nur lesen. Alles in allem glaube ich, dass es nur ganz wenige geben wird, die das Buch am Ende nicht ergriffen beiseite legen werden – ergriffen nicht nur von der Genialität des Autors sondern auch von dem Erlebnis, einen tiefen Einblick in die literarische Blaupause der eigenen Existenz erhalten zu haben. Anders kann nicht es nicht sagen.