Der Anflug der Kung-Fu Kämpfer

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 Kaiserstädte, Klöster und Pagoden am Gelben Fluss

 „Wer  nach Henan  heiratet,  ist  ein Blödmann“  behauptet  ein  altes  chinesisches  Sprichwort, „denn entweder ist das Land überschwemmt oder ausgedörrt.“ Die Einwohner der mittelchinesischen Provinz Henan sehen das natürlich anders: ,,Die Menschen in Henan sind die besten Chinesen, nur sie sind in der Lage, sich gegen den großen Fluss zu behaupten.“ Ob Dummköpfe oder Chinesen der Extraklasse – das Schicksal der Bewohner Henans entschied sich tatsächlich seit Jahrtausenden in Auseinandersetzungen mit dem großen Schicksalsstrom Nordchinas, dem Huangh He, in unseren Breitengraden besser bekannt als dem„Gelber Fluss“.

Erstaunlicherweise ist der Gelbe Fluss tatsächlich gelb, denn er transportiert die fruchtbaren Lössmassen aus den Bergen und Wüsten Zentralasiens in die chinesische Tiefebene, wodurch er nicht nur seine Farbe gewinnt, sondern sein Flussbett alljährlich um bis zu zehn Zentimeter erhöht. Für die Menschen am großen Strom bedeutete dies, dass sie sich seit dem Anbeginn der geschichtlichen Zeiten um die Eindeichung des  Gelben Flusses mühen mussten. So ist der Huangh He, der im Laufe seiner Geschichte seinen Lauf schon mehr als zwei Dutzendmal geändert und in gewaltigen Überschwemmungen Millionen  Menschenleben gefordert hat, auch eine der großen Plagen des Nordens. Auf der anderen Seite ermöglichte das fruchtbare Land, das der Fluss seit undenklichen Zeiten anschwemmt, den Aufbau der chinesischen Kultur, so dass die Provinz Henan für sich in Anspruch nimmt, die Wiege dieser Zivilisation zu sein.

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Als Produkte einer ertragreichen Flusskultur entstanden an den Ufern des Gelben Flusses die großen Kaiserstädte Luoyang und Kaifeng, die in mittelalterlichen Zeiten mit einer Einwohnerzahl von je einer Million Menschen zu den größten Städten der Welt gehörten. Als Endstationen der Seidenstraße verbanden sie die Handels- und Produktionszentren Chinas mit den islamischen und mediterranen Kulturräumen des Westens, und die Herrscher der Wei- und der Tang-Dynastie errichteten im Umkreis von Luoyang einige der bedeutendsten buddhistischen Monumentalbauten, die es im heutigen China zu sehen gibt.

Wer auf dem Weg von Peking nach Shanghai durch die Provinz Henan kommt, wird von diesem geschichtlichen Erbe allerdings nur noch wenig bemerken. Seitdem der Gelbe Fluss in der kommunistischen Ära durch ein fast zweitausend Kilometer langes Deichsystem gezähmt worden ist, hat sich die Provinz mit einer Einwohnerzahl von über achtzig Millionen Menschen zu einer den am dichtesten besiedelten Gebieten Chinas entwickelt. Auf deichartigen, hochgebauten Gleisen Hügeln durchschneiden die Eisenbahntrassen die Provinz, und wer auf dieser Strecke von Luoyang nach Kaifeng reist, blickt auf eine der pulsierenden Herzkammern Chinas. Bizarr geschnittene Lößschluchten wechseln mit dampfenden Parzellen, auf denen die Bauern Reis, Gemüse und Kartoffeln anbauen. Dann erscheinen am Rande von Luoyang, Zhenzhou und Kaifeng die Silhouetten von Industrielandschaften – rauchende Schornsteine umrahmen die alten Städte, die erst wieder in diesem Jahrhundert aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht sind.

Die Stadt Luoyang ist nicht nur das touristische Zentrum Henans sondern auch ein idealer Ort, um den Rhythmus des chinesischen Lebens zu beobachten. Tai-Shi in der Morgendämmerung, Marktgewühl am Vormittag, Nudelspeisung, Teetrinken, Spucken und Fahrradfahren von Morgens bis Abends – aus diesen Elementen scheint sich der Alltag des Normalchinesen zusammenzusetzen. Mit der Fertigkeit des Fahrradfahrens in China verhält es sich übrigens ein wenig wie mit allen Unarten: man lernt sie schnell und findet schon nach  kurzer Zeit seinen Spaß daran. Erste Lektion: Größere Gefährte, gleich aus welcher Richtung sie heranrollen, haben immer Vorfahrt. Zweite Lektion: Fußgänger auf der Fahrbahn sind kein Anlass, Hupe oder Klingel ertönen zu lassen: von ihnen wird einfach erwartet, dass sie ihre Beine unter die Arme nehmen und über die Straßen flitzen. Dritte Lektion: immer möglichst in der Mitte des Verkehrsstromes radeln, denn an den Straßenrändern wird die Feinjustierung der Zweiräder durch die überbordenden Märkte erheblich erschwert . Karren, Tische, Waren, das Verkaufspersonal, alles quillt über die Bürgersteine auf die Straße, und mehrfach stündlich kracht ein abgedrängtes Fahrrad  samt  seinem Besitzer in das Gemüse oder die Plastiktöpfe. Riskanten Links- und Rechtsabbiegungen auf großen Straßen nähert sich der fortgeschrittene westliche Zweiradfahrer wie beim Sechstagerennen immer nur im Windschatten erfahrener Fahrer, um dann in die sich nur kurzfristig öffnenden Verkehrslücken blitzartig hineinzustoßen.

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Natürlich kommt kein Tourist nach Luoyang, um nur Fahrrad zu fahren. Luoyang hat viel mehr zu bieten, allem voran die chinaweit berühmten Longmen Grotten im Südosten Luoyangs.  Hier haben die Herrscher der Wei- und die Tang-Dynastie im sechsten und  siebten Jahrhunderts ihren Traum vom buddhistischen Paradies innerhalb eines komplett durchlöcherten  Bergrückens verwirklicht. Innerhalb dieses Berges haben Generationen  chinesischer  Künstler mehrere tausend höhlen-  und hallenförmigen Grotten mit insgesamt einhunderttausend Buddha-Statuen ausgestatteten.  Zentimetergroße Miniaturdarstellungen, überlebensgroße  Buddha-Skulpturen  und  sechzehn Meter große Kolosse – stehend, sitzend, liegend, meditierend, allein oder in Gruppen, segnend, schlafend, in die Welt oder ins Nirwana einfahrend -repräsentieren die Vielfalt der buddhistischen Ikonographie. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass sich die Grotten von Luoyang immer weiter leeren.   Die Jagd westlicher Sammler nach buddhistischen Plastiken hat zum Verschwinden ganzer Höhlenwände geführt. Wandfragmente mit kostbaren  Malereien  und  Tausende  abgeschlagener Buddha-Köpfe aus Luoyang sind inzwischen schon flächendeckend über die Museen der westlichen Welt verteilt.

Trotzdem ist das, was noch zu sehen ist, noch immer imponierend. Im Zentrum der Longmen-Grotten erreicht der Besucher hinter einer breiten Treppe die Feng Xian-Grotte, eine kathedralenartige Bergmulde, in deren Mitte der große siebzehn Meter hohe Buddha Vairocana, umgeben von ähnlich kolossalen Schülern und Schutzgeistern, wie ein gnädiger Weltenherrscher über die Ufer des Yi-Flusses hinwegblickt .

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Am Ende des fünften Jahrhunderts, etwa zur gleichen Zeit, als mit dem Bau der Longmen Grotten begonnen wurde, erreichte der indische Mönch Bodhidharma die Provinz Henan und gründete am Fuße der Song-Berge zwischen Luoyang und Kaifeng  das Kloster Shaolin, einen Ort, dessen Bekanntheitsgrad inzwischen längst den Ruhm Luoyangs  in den Schatten stellt. Denn im Kloster Shaolin soll der fromme Mönch, den die Chinesen Damo nennen, nicht nur den Zen­ Buddhismus sondern auch  die Kampftechnik des ,,Kung Fu“ erfunden  haben, zwei Entwicklungen, die ihre Pointe im gelingenden Augenblick besitzen: Denn wie im Zen­ Buddhismus die blitzartige Erleuchtung Jahrzehnte der Meditation ersetzt, so streckt der geschulte Kung-Fu Kämpfer mit einem blitzartigen Tritt auch den wuchtigsten Gegner nieder. Seitdem nach der Überlieferung dreizehn kampfbegabte Kung-Fu-Kämpfer einem chinesischen Kaiser im siebten Jahrhundert das Leben gerettet hatten, erfreute sich das Kloster bereits allerhöchster Förderung. Weltberühmt allerdings wurde es erst im späten 20. Jahrhundert, als die Kung-Fu Filme aus Hollywood und Hongkong in der ganzen Welt das  Interesse  an fernöstlichen Kampfsportarten beflügelten.

So wird denn heute im Kloster Shaolin auch mehr trainiert als gebetet, und schon von weitem hört der Besucher das Klirren der Lanzen und Blechschwerter, mit denen die Angehörigen der staatlichen und privaten Kampfschulen ihre Fechtübungen durchführen. Auf der Wiese vor dem Klostertor hängen schwere Sandsäcke von den Bäumen und kaum eine Minute vergeht, ohne dass sich ihnen nicht ein Novize mit Gebrüll, Füße und Fäuste voraus, im Kampfanflug nähert, mit ihnen einen halben Meter über dem Boden kollidiert, um dann, elegant abfedernd, im Heu zu landen. Schon kommt der nächste Eleve angeflogen, kahlgeschoren auch er, weil offenbar die Glatze nicht nur die Flugeigenschaften des menschlichen Körpers verbessert sondern im Nahkampf als eine für den Gegner wenig griffige Kugel von Vorteil ist.

099Glatzköpfig sind auch die zahlreichen hölzernen Wu-Shu-Figuren, die im Innenhof des Shaolin- Klosters zur Erbauung der Besucher ausgestellt sind. Es wurde auch im mönchischen Alltag von Shaolin ganz offensichtlich reichlich getreten, geschlagen, geboxt oder gewürgt, denn wie die Kunstwerke zeigen, sinken die feindlichen Unholde reihenweise ins Gras und am Ende triumphiert der Abt an der Spitze seiner schlagkräftigen Truppe. Begraben wurden die berühmten Äbte von Shaolin am Ende ihres ereignisreichen Lebens oberhalb des Klostertempels im sogenannten Pagodenwald, einem wohltuend ruhigen Ort abseits von allen Sandsäcken und Kassettenrecordern  am Fuße der Song-Berge.

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Die Song-Berge  fügen der meditativen Atmosphäre der Longmengrotten und dem kämpferischen Ambiente von Shaolin das Element der Idylle hinzu. Zusammen mit dem Hunagshan und dem Emai Shan zählen sie zu den mythischen Berglandschaften Chinas, in denen die Schönheit der Umgebung die Nähe der guten Geister anzeigt. Vorbei an einigen der ältesten erhaltenen Pagoden Chinas führt der Weg zum Gao Chen Observatorium, an dem im dreizehnten Jahrhundert chinesische Astrologen die exakte Jahreslänge mit einer Abweichung von nur 26 Sekunden berechnet haben, und schließlich zur etwa 1450m hoch gelegenen Gipfelstation. Vor jeder erdenklichen Attraktion,  vor Pavillons, uralten Zypressen, Pagodentoren oder Brücken, am Fuße oder auf den Gipfeln der Hügel haben findige Privatunternehmer blumenbekränzte Stühle aufgestellt, auf denen sich die Ausflügler aus Luoyang und Kaifeng  zusammen mit ihrem kostbar geschmückten Einzelkind in festlicher Jubelpose ablichten lassen können. Für die besonderen Wünsche der Väter oder der älteren Söhne stehen wahlweise Kung-Fu-Kampfkleidung, Offiziersuniformen oder  ein Guerilla­ Outfit im Stile des Langen Marsches zur Verfügung. Für ein kleines Aufgeld kommt auch der Schäferhund des Fotographen mit ins Bild, der, an einer schweren Eisenkette gefesselt, auf Zuruf wie der Werwolf seine Zähne bleckt .

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