Tioman, eine Trauminsel vor der Küste Malaysias
„Der Anblick der Küste, die sich wie ein Amphitheater erhebt, bot uns ein anmutiges Schauspiel ohnegleichen. Obwohl die Berge hoch emporragen, erscheinen die Felsen an keiner Stelle in eintöniger Kargkeit: alles ist bewaldet.“ Ohne es recht eigentlich zu wissen, formulierte der eloquente französische Weltumsegler Louis Antoine de Bougainville, der im Frühjahr 1768 die Insel Tahiti erreichte, mit dieser Impression die bis heute nachwirkenden Desiderate dessen, was an einer Insel klassischerweise als „schön“ zu gelten hat: klein und fein, die imposanten Vertikalen mit üppigem Grün geschmückt, mit Palmenhainen bis ans Ufer, kalkweißen Stränden, smaragdgrünem Wasser und einem Korallenriff als Grenze gegen die unendliche Weite des Meeres. Spätestens seit dem Weltbestseller „Meuterei auf der Bounty“ und den verschiedenen Hollywood-Verfilmungen sind die Entsprechungen dieser Vorstellungen im polynesischen Pazifik angesiedelt: Rarotonga, Morea, Bora Bora, Tahiti, Kauai und Molokai erheben alle mit einem gewissen Recht den Anspruch auf den Titel einer der schönsten Inseln der Welt.
Die südpazifischen Inseln, zweifellos von beachtlicher Schönheit, haben aber aus europäischer Sicht den Nachteil langer Anreise, und wer wird unter diesen Umständen nicht angenehm überrascht sein, vor den Küsten Malaysias von einer Insel zu erfahren, die die inländischen Werbeprospekte kurz und bündig als „eine der zehn schönsten Inseln der Welt“ bezeichnen: Tioman im Südchinesischen Meer. Wir hören: Als der Gott bei der Erschaffung der Erde die zehn schönsten Inseln der Welt zu verteilen hatte, da warf er die Eilande in mächtigem Schwung dorthin, wo sich schon das meiste Wasser befand – in den südlichen Pazifik. Eine der Inseln aber flog zu kurz und landete zwischen Malaysia und Borneo in tropisch-asiatischen Gewässern. Dort liegt sie noch heute, blühend und schön, eine vergessene Zwillingsschwester Bora Boras, die den Besucher verzaubert. So erklärt uns wenigstens sinngemäß der Malaie Abdul Mutiara in einer Mischung aus Bahasa und Englisch bereits auf dem Fährboot die Entstehung der Insel Tioman, und gespannt blicken wir zum Horizont, um endlich die Umrisse des Traumlands zu erspähen.
Inseln verfügen naturgemäß über den Vorteil, sich zunächst einmal aus einer gewissen Distanz zu präsentieren, und für kaum eine andere Insel gereicht diese Art der Annäherung derart zum Vorteil wie für Tioman. Etwa 20 Kilometer lang, 13 Kilometer breit und etwa 50 Kilometer vor der Küste des Fährortes Mersing gelegen, ähnelt sie in ihrem Umriß fast einem angebissenen Paradiesapfel mit zwei mächtigen Auswüchsen, dem Gunung Kajang und dem Bukit Seperok. Regenwald und Palmenhaine rücken bis an die Ufer vor, feinsandige Strände wechseln mit schroffen Felsenküsten, an denen sich die Brandung des Meeres bricht. Im milden Licht des Nachmittags erinnert Tioman tatsächlich an die schönsten Inselsilhouetten des Südpazifiks, und dank dieser Vorzüge wurde sie als Bali Hai im Hollywood-Spektakel „South Pacific“ für Millionen Menschen zum Inbegriff des Südseeparadieses.
„Zum erstenmal in meinem Leben sah ich den anmutigen Stamm und die grünen Wedel der Kokospalme, die mit Stroh gedeckten Hütten der Eingeborenen inmitten schattiger Haine und die Menschen selbst, die in Scharen auf dem Strande umherwanderten.“ Wer nach diesen viel versprechenden Annäherungen seine Erwartungen an den Impressionen des Bounty-Kadetten Roger Byams orientiert, der nach langer Seereise zum erstenmal eine Trauminsel erblickt, den erwartet bei der Landung in Kampung Salang allerdings eine böse Überraschung. Eigentlich sind nur die Kokospalmen in ausreichender Anzahl vorhanden, in den Hütten dagegen wohnen keine Einheimischen, sondern Urlaubergruppen aus Singapur, Hongkong, Deutschland und Italien, außerdem sind sie nicht mit Stroh, sondern mit Wellblech gedeckt, und am Strand wandern keine Menschen in großen Scharen einher, sondern sie liegen in der klassischen Sonnenanbeter-Stellung in so großen Scharen vor den abgestorbenen Korallenriffen, dass der Getränkenachschub nicht mehr funktioniert und die Aufstellung jedes neuen Sonnenschirms interkulturelle Konflikte erzeugt.
Wer wirklich Ruhe und Abgeschiedenheit sucht, ist gut beraten, sich in Kampung Salang erst gar nicht niederzulassen, sondern mit dem täglichen Postboot weiterzureisen. Im Uhrzeigersinn läuft das Postboot einmal täglich alle Kampungs an, eine manchmal erstaunlich stürmische Fahrt, bei der der Reisende nicht nur alle Strände und Buchten der Insel in Augenschein nehmen, sondern bei bewegtem Wellengang leicht phantasieren kann, man stände neben Captain Cook am Steuerbord der „Endeavour“ und erblickte Hawaii zum erstenmal. Unterhalb des ebenfalls beinahe eintausend Meter hohen Bukit Seperok pausiert das reguläre Boot sogar für anderthalb Stunden, so dass naturinteressierte Besucher den Lehrpfad des Sri-Asah-Parks begehen können, der über die typischen Bäume und Pflanzen des südostasiatischen Regenwaldes unterrichtet. Alles dampft zwischen üppigem Grün, und die Wanderer springen über zahlreiche Bäche, die sich kurz vor der Küste zu einem kleinen Wasserfall vereinen. Lauracaea, Burseracaea und Swintonia liest man auf kleinen Schildchen, und von den mächtigen Bäumen mit solch imposanten Namen hängen nicht weniger beeindruckende Lianen herab. Ein Urwaldriese hat mit seinem mächtigen Wurzelwerk einen runden Felsblock völlig umklammert, ein Sieg des Lebens über den Stein, und hoch in den Kronen der Bäume turnen die Makaken-Äffchen.
Leider ist das Leben vor den Küsten Tiomans nicht mehr so üppig wie in den dichten Tropenwäldern. Die Korallenriffe haben durch die Abwässer der großen Touristenressorts bereits Schaden genommen, und so gleicht eine Tauchexkursion in die Meerestiefen vor der Küste der Insel auch einer Lehrstunde in die schleichende Umweltzerstörung, die immer dort zuerst beginnt, wo man es am wenigsten sieht. Um der weiteren Vernichtung der Korallenriffe entgegenzuwirken, wurde in den letzten Jahren die Entsorgung der sanitären Anlagen an den verschiedenen Stränden verbessert. Außerdem wurde eine Zone von drei Kilometern als Tioman Marine Park der wirtschaftlichen Nutzung entzogen und mit einem Fischverbot belegt. Für die einheimischen Fischer bedeutet dies allerdings nur, jetzt mit ihren Booten weiter hinausfahren zu müssen, ohne für ihren Fang mehr Geld zu erhalten, denn die Konkurrenz ist groß auf den kleinen Märkten der malaiischen Dörfer.
Nur ein einziger holpriger Weg verbindet Kampung Juara im Osten mit Kampung Tekek, dem eigentlichen Hauptort der Insel im Westen – begehbar in einer gut zweistündigen Wanderung durch Gesträuch und Farn, über Wurzelwerke, Bäche und Felsbuckel, vorüber an imposanten Aussichtspunkten, begleitet von den vielfältigen Geräuschen des Urwalds. Der Weg endet an der kleinen Moschee von Tekek und dem einzigen Gemischtwarenladen der Insel, in dem sich die Rucksacktouristen aus Juara mit Rasierzeug, Kaffee und Käse eindecken. Die Luxusreisenden brauchen den Umkreis des Kampung Tekek überhaupt nicht zu verlassen, sie entsteigen bunten Propellermaschinen, die direkt aus den Metropolen Kuala Lumpur und Singapur die gutbetuchten malaiischen und chinesischen Besucher in weniger als zwei Stunden an die abgezirkelten Strände des Berjaya-Imperial-Hotels bringen. Hier wirken die Gästehäuser wie kleine Sultanspaläste, Tennis, Golf und Pool warten auf die zahlungskräftigen Besucher, und hoch über der Bucht kann man auf der Terrasse der Präsidentensuite den wahrscheinlich schönsten Anblick ganz Malaysias beim Tee genießen.
Erheblich bescheidener geht es in Kampung Juara auf der Ostseite der Insel zu. Die weltabgeschiedene Ruhe, für die früher Ko Samui und Lombok berühmt wurden, ist in diesem abgelegenen Winkel der Insel noch immer nicht verschwunden. Kilometerlang und menschenleer ist der weiße Strand, an dem die Reisenden auf ihren Routen zwischen Singapur und Bangkok, Jakarta oder Hongkong unter einem Spalier hochragender Palmen in ihren Hängematten eine erholsame Pause einlegen. Nicht mehr als ein Dutzend einfacher Hütten sind am ganzen Strand zu sehen, und der Speisezettel in den kleinen Restaurants beschränkt sich auf Tee, Fisch und Pfannkuchen. So hält denn Tioman tatsächlich für jedermann das Seine bereit, ein Bali Hai der westlichen Industriegesellschaft.