Nanjings Gegenwart ist stärker als seine Vergangenheit
Vier Superlative nimmt die Stadt Nanking für sich in Anspruch: Sie liegt
am Yangtse, dem längsten Strom Asiens, über den im Nordwesten der Stadt
zugleich die längste Brücke Chinas führt, sie besitzt das imposanteste Stadttor des Landes und die größte erhaltene Stadtmauer der Welt. Einen fünften, allerdings weniger beeindruckenden Rekord kann man inzwischen hinzufügen: Die Umgebung der Stadt gehört zu den am meisten verschmutzten Gebieten der Volksrepublik. Beginnt die Zugreise von Souzhou aus noch in beschaulicher Stimmung, türmen sich schon bald immer neue und größere Kohlehalden neben den Reisfeldern auf, am Horizont erscheinen die Silhouetten von Kraftwerken aller Art, und wie eine ewige Wiederkehr des Gleichen säumen die tristen chinesischen Wohnhäuser schon lange, ehe man die Millionenstadt erreicht, links und rechts die Gleise. An der Peripherie Nankings haben dann Großchemie und Schwerindustrie ein ökologisches Katastrophengebiet geschaffen, in dem die Riesenschornsteine zu allen Tages- und Nachtzeiten wie Feuerrohre der Hölle ihre Schadstoffe in einen rußigen Himmel jagen.
Als Stützpunkt staatswirtschaftlicher Kombinate, als Experimentierfeld marktwirtschaftlicher Modernisierung und als Standort bedeutender Monumente der chinesischen Geschichte repräsentiert die Gegenwart Nankings wie in einem Vexierbild den tiefgreifenden Wandel, der die gesamte chinesische Gesellschaft am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ergriffen hat. Wohnbuden und Wolkenkratzer, Grabmonumente und Spielsalons, Fahrradrikschas und Luxuslimousinen, Bambus und Zement in all ihren Erscheinungsformen verbinden sich hier zu einem verwirrenden Nebeneinander von Vergangenheit und Gegenwart. So kann es nur wenig verwundern, dass sogar im Nanking-Museum, in dem der Besucher einen ersten Einstieg in die mehr als zweitausend Jahre alte Geschichte der Stadt gewinnen kann, die in Pop-Farben auftretenden Schulklassen das Bild bestimmen. Als liebevoll herausgeputzte Sprösslinge der normierten chinesischen Ein-Kind-Familie staksen die kleinen gelben Kaiser fröhlich durch das im traditionellen Drachendachstil der Liao-Zeit aufwendig gestaltete Haus, laufen kichernd an den Ausstellungsstücken vorüber, für die sie sich weit weniger interessieren als für ihre Game Boys, deren unablässiges Piepsen wie eine futuristische Hintergrundmusik durch die Hallen tönt.
Solcherart beschallt, gewinnt der Besucher im Angesicht einer vielfältigen Auswahl von Keramiken, Totengewändern, Tuschezeichnungen, Malereien, Porzellanfiguren, Stein- und Bronzeskulpturen einen Eindruck von den verschlungenen Entwicklungspfaden der chinesischen Zivilisation, die, aus dem rauheren Norden kommend, das Yangtse-Gebiet im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung erreichte.
Wie Hangzhou, Souzhou, Wuxi und andere Städte gehörte Nanking seit Anbeginn der chinesischen Präsenz im Süden zu den bedeutendsten Siedlungen im Yangtse-Delta und war deswegen immer wieder in die Bürgerkriege verwickelt, die das Land zwischen der Han- und der Tang-Dynastie jahrhundertelang erschütterten. Auf der falschen Seite engagiert, wurde die Stadt, im Jahre 589 von Kaiser Wen Di, dem Gründer der Sui-Dynastie, erobert, zum ersten Mal komplett zerstört und geriet nun, in der Tang-Zeit wieder aufgebaut, länger als ein halbes Jahrtausend in den Schatten der Geschichte. Die Tang-Dynastie, die ihr Reich vom nordwestlichen Xian aus regierte, brach im zehnten Jahrhundert zusammen, es folgten die Song, die sich vergeblich der Angriffe der nördlichen Steppenvölker zu erwehren suchten und schließlich im zwölften Jahrhundert nach Hangzhou ausweichen msten. 1279 schließlich eroberten die Mongolen Kublai Khans auch den gesamten Süden Chinas und begründeten in Khanbaliq, dem späteren Peking, die Yüan-Dynastie. Als in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts unter den unfähigen Nachfolgern Kublai Khans Naturkatastrophen und Missernten das Reich erschütterten, entstanden deswegen vor allem im Yangtse-Gebiet immer zahlreichere Rebellengruppen, die den Sturz der Mongolenherrschaft propagierten. Der erfolgreichste dieser Rebellenführer, der Bettelmönch Zhu Yuanzhang, gab schließlich mit der Eroberung Nankings im Jahre 1356 das Signal für die allgemeine Erhebung gegen die Mongolen, die zwölf Jahre später zurück in die nördlichen Steppen fliehen mußten, aus denen sie anderthalb Jahrhunderte zuvor gekommen waren. Der Bettelmönch Zhu Yuanzhang aber begründete als Kaiser Hong Wu die Ming-Dynastie und erwählte Nanking, den Ort seines größten Sieges, zur Hauptstadt des Reiches.
Von der Pracht der einstigen Kaiserstadt ist nach den Zerstörungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts wenig Eindrucksvolles geblieben, und es gehört zu den Paradoxien der Geschichte, dass man einen Eindruck vom verblichenen Glanz Nankings, der südlichen Hauptstadt, am ehesten in den Mauern Pekings, der nördlichen Hauptstadt, erhalten kann. Dort ließen die Nachfolger Hong Wus sowohl ihre Gräber wie ihre Paläste nach dem Muster der Originale erbauen, die der erste Ming-Kaiser in Nanking hatte errichten lassen.
Heute stimuliert nur noch ein achthundert Meter langer Skulpturenpfad mit riesenhaften Kriegern und Fabeltieren, der am Fuße der Purpurberge zum Haupttor und zum zerstörten Mausoleum Hong Wus führt, über dessen Zinnen eine müde flatternde kaiserliche Kriegsfahne weht, die historische Phantasie. Und ein einziges Tor und fünf unansehnliche Marmorbrücken sind vom Palast des ersten Ming-Kaisers auf die Gegenwart gekommen. Gänzlich erhalten aber ist die gewaltige Stadtmauer, das Werk einer zwanzigjährigen Arbeit von zweihunderttausend Menschen, die die Herrschaft der Ming für die Ewigkeit sichern sollte und die doch schon fünf Jahrhunderte später zu einem Schatten ihrer selbst geworden war. Wie eine endlose graue Steinschlange, mit rissigen Ziegeln ausgebessert, an manchen Stellen bereits von Gestrüpp und Farnen überwuchert, trennt sie in einer Länge von knapp 33 Kilometern wie ein zu eng gewordener Panzer die Innenstadt von der inzwischen auf fünf Millionen Menschen explodierten Metropole.
Immerhin blieb Nanking auch ohne den Rang der Reichshauptstadt das unbestrittene Zentrum des Südens. Reis und Tee, Samt, Seide und Brokat bildeten unter den Ming wie unter den ihnen im siebzehnten Jahrhundert folgenden Mandschu-Herrschern die Grundlage eines dauerhaften Wohlstandes, der erst durch die tiefgreifenden Umwälzungen des neunzehnten Jahrhunderts erschüttert wurde. Schon 1842 mussten die Chinesen nach dem verlorenen ersten Opiumkrieg fünf Häfen für den ausländischen Handel öffnen. Die schockartige Konfrontation mit überlegener europäischer Technik und einer vollkommen andersartigen Kultur, die innenpolitische Erstarrung unter den späten Mandschu-Kaisern, aber auch das gewaltige Bevölkerungswachstum führten
schließlich zu einer der größten Katastrophen der chinesischen Geschichte: zur Taiping-Rebellion. Zwanzig Millionen Menschen sollen damals – zwischen 1851 und 1864 – ums Leben gekommen sein, und als imponiere diese unglaubliche Zahl den kommunistischen Machthabern, deren Regime in seiner maoistischen Phase kaum weniger Leben gekostet hat, wird die Erinnerung an die Taiping-Rebellen und ihren religiösen Sozialismus heute in einem Museum in der Nähe der südlichen Stadtmauer geradezu liebevoll gepflegt. Obwohl große Heldenreliefs im Stil des sozialistischen Realismus den Weg zum Eingang in einer kleinen Seitenstraße der Zhongshan Nanlu weisen, ist der Publikumsandrang allerdings bescheiden. Gleich hinter dem Museumseingang sieht sich der Besucher der überdimensionalen Porträtbüste Hong Xinquans gegenüber, den seine unglaubliche Karriere vom Bauernsohn aus Guangdong zum Kaiserthron des himmlischen Reiches (Tai-ping) führte. Entlang einer Galerie halbverrosteter Kanonen führt der Weg weiter in eine große Halle, in der auf zeitgenössischen Karten und Zeichnungen die Geschichte der Taiping-Rebellion entfaltet wird, die wahrlich merkwürdig ist.
Nach oberflächlichen Kontakten mit christlichen Missionaren und mehreren vergeblichen Versuchen, das konfuzianistische Beamtenexamen zu bestehen, erkannte sich Hong Xinquan nach einer „Offenbarung“ als jüngerer Bruder von Jesus Christus und begann aus den Versatzstücken der ihm bekannten europäischen Ideologien eine Lehre zu propagieren, die den Gemeinbesitz an Grund und Boden ebenso vorsah wie die totale sexuelle Askese und die Gleichberechtigung von Mann und Frau. An der Spitze einer begeisterten Anhängerschaft und unterstützt von militärisch kompetenten Unterführern, gelang es ihm, nach einem zweijährigen Siegeslauf ohnegleichen, 1853 Nanking zu erobern, das in Tai-king, Hauptstadt des himmlischen Reiches, umbenannt wurde. Während seine Gefolgsleute wie eine Vorwegnahme der Barbareien der Kulturrevolution die Ming-Monumente in Nanking verwüsten, residierte der himmlische
Kaiser an der Spitze einer ganzen Truppe von himmlischen Königen und
Unterkönigen im Garten Zhanyuan gleich neben dem heutigen Museum als eine Art chinesischer Jan Bockelson, bis sein Wiedertäuferreich zusammenzubrechen begann – durch blutige Machtkämpfe, in denen sich die Führer gegenseitig umbrachten. Schließlich konnten die regulären Truppen des nördlichen Kaiserhofes, von ausländischen Instrukteuren beraten, 1864 Nanking zurückerobern und ein furchtbares Strafgericht verhängen.
Nichts erinnert an der äußeren Erscheinung des Gartens Zhanyuan daran, dass sich hier, gleich neben der großen Halle des Taiping-Museums, dereinst das Zentrum des größten Bauernaufstandes der Weltgeschichte befand: schadhafte Wandelgänge über kleinen Teichen mit trübem Wasser, ungepflegte Grünanlagen und reichlich Abfall in den Ecken des Parks zeigen, dass die offiziell betriebene Ehrung der Rebellen bei der Bevölkerung
auf keine Resonanz mehr stößt. Noch zu frisch sind die Erinnerungen an die
Exzesse der Kulturrevolution, als dass die Menschen hier Sympathie für eine
Bewegung haben könnten, die in ihrem Gleichmachertum und ihrem puritanischen Rigorismus dem Geist der Modernisierungen im gegenwärtigen China diametral entgegensteht.
Um so intensiver allerdings wird in Nanking – wie auch im gesamten chinesischen Kulturbereich – das Gedenken an Sun Yat Sen gepflegt. Als Bürgermeister Kantons wie als provisorischer Präsident einer machtlosen Republik gescheitert, gilt der Gründer der Kuomintang-Partei und der Initiator des bürgerlich-kommunistischen Bündnisses nach seinem frühen Tod im Jahre 1925 trotzdem als Vater des modernen China, was insofern wieder fast plausibel scheint, weil derzeit niemand weiß, in welche der beiden politischen Richtungen sich die chinesische Geschichte im einundzwanzigsten Jahrhundert weiterentwickeln wird.
In den Jahren 1926 bis 1929, in der Zeit also, in der die nunmehr von Tschiang Kai-schek geführte Kuomintang-Partei mit den Kommunisten bereits gebrochen hatte und der junge Mao seine ersten Ideen über die Bauernrevolution entwickelte, entstand am Rande der östlichen Purpurberge ganz in der Nähe der Ming-Gräber ein aufwendiges Kaisergrab für Sun Yat Sen, das heute zum festen Bestandteil politischer Pilgertouren in China geworden ist. „Die Welt gehört allen“, steht in chinesischen Schriftzeichen in der Eingangshalle vor den großen Treppen, die mit 392 Stufen zum Mausoleum führen – immer weiter hinauf über eine schräge Bühne, auf der die Touristen aus allen Teilen Chinas keine andere Sorge zu kennen scheinen, als sich in der richtigen Pose vor dem Grab des Republikgründers fotografieren zu lassen. Ähnlich den großen Buddhastatuen in tibetischen Klöstern empfängt die monumentale Skulptur eines sitzenden und ernst dreinblickenden Präsidenten die Besucher. Geradezu rührend in seiner Winzigkeit wirkt dagegen die Marmorfigur des Sun Yat Sen auf einem weißen und schmucklosen Sarg im eigentlichen Grabraum.
Sun Yat Sen, der im Laufe seines Lebens mehrfach politisches Asyl in Japan erhielt, hat das furchtbare Schicksal, das die Japaner der Stadt Nanking bereiteten, nicht mehr erleben müssen. Sie, die schon 1931 mit der Gründung des Marionettenstaates Mandschukuo unter dem letzten chinesischen Kaiser Pu YI den gesamten Norden Chinas okkupiert hatten, begannen 1937 ihren lange geplanten Eroberungskrieg, der durchaus völkermörderische Züge annahm. Waren schon die Massaker, Plünderungen und Vergewaltigungen in Hangzhou, Souzhou und Wuxi von unvorstellbarer Grausamkeit geprägt, so wurde dies alles von dem übertroffen, was sich nach der Einnahme der Stadt Ende 1937 abspielte. 300000 Menschen fielen einem systematischen Gemetzel der Besatzungstruppen zum Opfer, eine Katastrophe, die im allgemeinen Bewusstsein des Westens längst vergessen ist, die aber das chinesisch-japanische Verhältnis bis heute beeinträchtigt. Ein Besuch im Nanking-Memorial, weit außerhalb der Stadtmauern in der Nähe des Yangtse, gehört deswegen zu den erschütterndsten und zugleich lehrreichsten Erlebnissen während einer China-Reise. Denn im Unterschied zu den Nationalsozialisten, den Roten Khmer oder anderen Massenmördern, die kaum Bildzeugnisse ihrer Untaten hinterließen, haben die japanischen Invasoren reichlich Fotomaterial von ihren Massakern erstellt, das nach dem Zweiten Weltkrieg teilweise veröffentlicht wurde und es möglich machte, die grauenhaften Tage von Nanking in einer eindringlichen Ausstellung zu dokumentieren. Bilderfolgen, in denen ein barfüßiger Kuli grundlos erschossen wird und Soldaten auf Zivilisten mit ihren Bajonetten einstechen, eine Fotosequenz, in der jede Phase einer Enthauptung festgehalten ist – all dies wirkt wie die Ausgeburt einer kranken Phantasie und ist dennoch historische Wirklichkeit, die gerade erst sechzig Jahre alt ist.
Die Chinesen, die durch diese Ausstellung laufen, sind so ruhig, wie man es sonst nirgendwo erlebt. Ruhig ist es auch im Hof hinter der Gedenkhalle, auf der eine riesenhafte marmorne Frauenskulptur auf einem Feld weißer Steine steht und wie suchend nach ihrer Familie Ausschau hält.
Nach diesen Eindrücken erscheint das große Panoramabild der gegenwärtigen Millionenstadt Nanking am Ausgang des Museums wie ein unglaublicher Zeitsprung – und doch ist die vollständig zerstörte Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererstanden, nicht unbedingt schöner, aber größer und lebendiger als jemals zuvor. Unter der drakonischen Leitung der kommunistischen Partei, deren siegreiche Armee bei Nanking im April 1949 den Yangtse überschritt, wurden Hunderttausende Häuser neu gebaut, Millionen Bäume neu gepflanzt, aber auch Milliarden Yüan in die Fabriken am Stadtrand investiert, denen die Stadt ihren heutigen Rang als Industriestandort verdankt.
Herausragendes Symbol der Neugeburt aber wurde die große Yangtse-Brücke im Nordwesten der Stadt, ein Projekt, dessen Umfang an die großen Monumentalbauten der chinesischen Geschichte erinnert. Fast zehntausend Arbeiter waren acht Jahre lang damit beschäftigt, je eine knapp sieben Kilometer lange Trasse für den Eisenbahn- und den Autoverkehr über den Fluss zu errichten. Anschaulich werden die gewaltigen Dimensionen dieser Brücke, die unter den technischen Bedingungen der frühen sechziger Jahre zu den großen architektonischen Leistungen Asiens gerechnet werden muss, nur aus der Distanz – etwa vom obersten Stockwerk des Hongqiao-Hotels, von dem aus man am Morgen die große Brücke auf ihrer halben Länge im Morgennebel verschwinden sieht, als besäße sie überhaupt kein Ende.
Jetzt hat in Nanking ein neues Kapitel begonnen, von dem noch niemand weiß, wie es enden wird. Das alte Fuzimiao-Viertel in der Nähe der südlichen Stadtmauer ist in seiner alten Gestalt fast völlig verschwunden. Wiedererstanden sind mit dem Flair historischer Patina renovierte Adelshäuser und Tempelfassaden, hinter denen der modernen chinesischen Religion gehuldigt wird: dem Konsumismus. Hier bietet sich für jene Menschen, die an den Rändern der Stadt bis zur Erschöpfung arbeiten, die Erfüllung der Träume in Form eines verlockenden Warenangebots mit Schweizer Uhren, italienischen Schuhen, amerikanischen Jeans, deutschen Autos und japanischer Elektronik. Dass es immer mehr sein werden, die immer mehr werden kaufen können, ist derzeit das Credo nicht nur in Fuzimiao, sondern in ganz China.