W. S. Reymont: Die Bauern
Unter den ganz großen Werken der Weltliteratur, die einer internationalen Lesergemeinde fast gänzlich unbekannt geblieben sind, nimmt W.S. Reymonts Meisterwerk „Die Bauern“ sicher den ersten Rang ein. Noch nicht einmal der Nobelpreis des Jahres 1924 und die Anerkennung der bedeutenden Kollegen verbürgte dem Werk die gebührende Beachtung. Dafür fungiert es in Polen neben „Pan Thadäusz“ und „Tage und Nächte“ als Nationalepos Nummer 1. Allerdings wird man fairerweise zugeben müssen, dass man die Lektüre dieses opulenten Tausendseiters nicht mal so nebenbei bewältigen kann. Ich habe es während einer entspannten Ferienwoche in Ostpolen gelesen und kann das Buch uneingeschränkt empfehlen. Was also gibt es zu lesen?
Reymonts Werk beschreibt ein Jahr im Zeitenlauf des polnischen Dorfes Lipce, irgendwann im späten Neunzehnten Jahrhundert, irgendwo im russisch besetzten Teil des damals von der europäischen Landkarte verschwundenen Polens. Eine komplette bäuerliche Welt entsteht vor den Augen des Lesers – Hofbauern, Knechte Tagelöhner, Priester, Dorschulzen, jüdische Schankwirte, Gutsherren, Bettler, Händler, Zigeuner, Gendarmen, der russische Nadschalnik und viele andere mehr bilden das Personal des Romans. Die Landschaft des östlichen Polens gibt das Bühnenbild, und aus der unverwechselbar und blutvoll geschilderten Psychologie der Figuren generiert sich die Handlung, der der Leser von der ersten bis zur letzten Seite mit Spannung folgt.
Im Mittelpunkt des Buches steht die Hofbauernfamilie der Borynas, geführt vom verwitterten Altbauern Mattheus Boryna, der noch im Alter von 58 Jahren die blutjunge und bildschöne Jagna freit. Diese Hochzeit bringt das gesamte Familiengefüge durcheinander, vor allem, weil der älteste Borynasohn Antek, obwohl mit der tüchtigen Anna verheiratet, sich auch in die schöne Jagna verliebt hat. Antek wird von seinem Vater verstoßen, vom Priester während der Messe öffentlich verflucht und beginnt doch eine Affäre mit seiner jugendlichen Stiefmutter. Der Dorfschulze, der Schmied, der Zimmermann, der Priesternovize, die betrogene Anna und viele andere mehr verfolgen ihre eigenen Pläne, aus denen sich insgesamt die allzu menschliche Geschichte des Dorfes ergibt.
Sie aber ist eingebettet in die vier wahren Hauptfiguren des Werkes, die Jahreszeiten, die das Leben und das Arbeiten der Bauern von Lipce prägen. Nichts kann leichter in die Hose gehen als Naturlyrik, das stimmt, aber was es in diesem Buch an Naturbeschreibungen zu lesen gibt, ist einzigartig: das ganze Werk ist ein poetischer Hymnus an die Natur in ihrer Wandelbarkeit, eine Anbetung der Sonne, des Windes, des Waldes und seiner Geräusche, und all den vielfältigen Spiegelungen, die diese Erscheinungen in den Seelen der Menschen erzeugen. Genaugenommen sind die Gefühle und Strebungen der Protagonisten auch nur die Fortsetzungen der Jahrezeiten, gedrängter, häufig wechselnder aber ebenso unberechenbar beherrschen sie die Akteure, die sich heute schlagen und morgen vertragen. Reymonts Meisterschaft besteht unter anderem auch darin, den Leser an der Präsenz dieser Stimmungen so teilhaben zu lassen, dass man jede Figur zu jeder Zeit verstehen kann.
Je weiter das Werk voranschreitet, desto deutlicher schält sich neben der Geschichte der Borynas ein zweiter Handlungsschwerpunkt heraus: der Konflikt zwischen dem polnischen Dorf und der benachbarten Gutsherrschaft, der finanziell der Bankrott droht. Der Gutsbesitzer ist bei den jüdischen Geldverleihern überschuldet und versucht den Gemeindewald an die Holzfäller zu verkaufen, was zu einem Aufstand des Dorfes führt. Schließlich tauchen auch noch deutsche Siedler auf, denen der Gutsherr sein Land verkaufen will, was das Dorf zum zweitenmal in Aufruhr versetzt. Am Ende muss der Gutsherr den Bauern von Lipce eigenes Land im Austausch gegen den Gemeindewald verkaufen, so dass das Dorf sich ausdehnen kann und langsam aber sicher in die Gutsherrschaft hineinwächst. Die letzte Krise entzündet sich am Befehl der Obrigkeit, eine neue Schule zu errichten (und zu finanzieren), in der nur in russischer Sprache unterrichtet werden soll. Gegen diesen Befehl gibt es nur gemurmelten Widerstand – zu groß ist die Präsenz der Polizei bei der entscheidenden Sitzung. Der bisherige Lehrer, der rätselhafte Vagant Rochus, der den Kindern die polnische Sprache und Schrift lehrte, muss nun vor den Nachstellungen der Obrigkeit fliehen.
Reymont hat sein Opus mit den vier Büchern „Herbst“, „Winter“, „Frühling“ und „Sommer“ in den Jahren 1902-1909 in Paris verfasst, hier hat er Tag für Tag in einer vollkommen fremden Umgebung an der Saga des polnischen Bauerntums geschrieben. Am Ende ist daraus ein literarisches Monument geworden, mit dem sich jeder beschäftigen sollte, der sich für die Kultur und den Nationalcharakter Polens interessiert.