Andreji Szczypiorski: Die schöne Frau Seidelmann
Wie passen Bildung und Geistesart der deutschen Klassik mit der Inhumanität und Bestialität des nationalsozialistischen Massenmordes zusammen? Diese Frage thematisiert das weltweit diskutierte Werk „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell. Wie aber funktionieren Durchschnittlichkeit, Schlitzohrigkeit, Güte und Starrsinn – kurz: die Ingredienzien der menschlichen Normalität in die Welt des Holocaust? Diese nicht minder erörternswerte Frage behandelt der polnische Autor Andreji Szczypiorski in seinem Buch „Die schöne Frau Seidelmann“ – und noch vieles mehr!
Die schöne Frau Seidelmann, die Witwe des jüdischen Arztes Ignacy Seidelmann, wird im Jahre 1943 auf der Straße in Warschau von dem jüdische Denunzianten Bronek Blutmann als Jüdin identifiziert und der deutschen Besatzungspolizei übergeben. Ihr Schicksal scheint besiegelt, doch ehe man sich versieht, setzt sich ein Räderwerk der Mitmenschlichkeit und der Mauschelei in Gang, an deren Ende die schöne Frau Seidelmann aus dem Gefängnis entlassen wird und den Holocaust überlebt. Diese Rettungsgeschichte der schönen Frau Seidelmann (und der jüdischen Waisen Joasia) aber bildet nur das Bühnenbild für die kapitelweise Vorstellung eines ganzen Pottpouris polnischer Menschen, die vor dem Horizont des Grauens mit mehr oder weniger Erfolg versuchen, ihr Leben zu retten. Der Schneider Kujawski, der Eisenbahner Filip, der einsame Dr.Kordes, der Deutschpole Müller, der junge Pawelek, der Bandit Suchowiak, der hochbegabte Henio Fichtelbaum, die Nonne Weronika, der ehrenwerte Richter Romnicki und viele andere agieren in dem vorliegendes Buch jeder für sich in ihrem eigenen Universum voller Eigenheiten, Hoffnungen und Ängsten, die sie mal in die Rettung, mal in den Tod führen. Aber was immer den Figuren auch widerfährt, wie es dem Autor gelingt, jede dieser Personen mit wenigen Sätzen liebevoll und unverwechselbar zugleich zu skizzieren, gehört zu den kleinen Wundern dieses großen Buches. Hier ist ein großer Psychologe und Literat am Werke.
Aber das Buch bietet nicht nur eine raffiniert durchkomponierte und packende Beschreibung eines makabren Totentanzes in der Endphase des Zweiten Weltkrieges mit zahlreichen Ausblicken auf die nachfolgende kommunistische Ära, sondern auch literarische Reflexionen über Polen, Deutsche, Russen und Juden, wie man sie in dieser Durchdachtheit und Prägnanz noch nicht gelesen hat. Die Deutschen, schreibt Szczypiorski, können alles besser, besser schreiben, besser musizieren, besser arbeiten und besser töten, während im „Moskowiter“ stets das unberechenbare Quäntchen Wahnsinn lauert, aus dem aber auch dann und wann „ein klein wenig von der einfachen Menschenseele sickert“ (S. 145). Was aber bedeutet Polen zwischen diesen beiden Mühlsteinen? Für Szczypiorski ist es der Großraum, wo der Tatar gen Mekka betete, der Deutsche seinen Luther las, der Jude die Thora verehrte und der Pole seine Kerzen vor der Madonna von Tschenstochau anzündete, es ist „die Achse des Weltalls, wo sich das Törichte und das Erhabene verflochten, der nichtswürdigste Verrat mit der reinsten Selbstaufopferung. An dieser einzigen Stelle blickte die wilde, bräunliche und durchtriebene Schnauze Asiens seit undenklichen Zeiten von nahem in die fette, anmaßende und dumme Fresse Europas, hier und nirgendwo sonst schauten die verronnenen und sensiblen Augen Asiens in die vernünftigen Augen Europas. Hier war der Mittelpunkt der Erde, die Achse des Weltalls, wo der Westen den Osten in die Arme nahm und der Norden dem Süden die Hand entgegenstreckte.“ ( S. 52f.)
Für alle, die nicht nur ein literarisch anspruchsvolles Buch lesen und gut unterhalten werden wollen sondern die sich wirklich für Polen interessieren eine ungemein lohnende Lektüre.