Galizien und die Bukowina, die beiden fast vollkommen vergessenen Landschaften Osteuropas, erstreckten sich von den heute südostpolnischen Städten Tarnow und Przemysl bis nach Tschernowitz in der Südukraine. Es war eine multikulturelle Welt aus Ruthenen (Ukrainern), Polen, Juden, Deutschen, Rumänen, Zigeunern aber auch so kleinen Völkern wie Lemken, Bojken und Huzulen, die im 19. Jahrhundert in einem einzigen Reich vereinigt war – der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Politisch maßgeblich waren die Polen, die seit 1861 eine innere Autonomie zur Polonisierung Galiziens nutzten, um von hier aus in der Epoche der polnischen Teilung die Wiedererstehung Polens voranzutreiben. Ein geradezu babylonisches Sprachengewirr beherrschte diese Region, notdürftig konturiert, durch das verwaschene Armeeslawisch und durch Deutsch, die Sprache der Gebildeten, an die sich vor allem die Juden zur Abgrenzung von Polen und Ukrainern orientierten. Geprägt waren diese Landschaften von einer schreienden Armut – die Landwirtschaft war nicht nur rückständig sondern auch noch durch hohe Bevölkerungszuwachse belastet, was zu ethnischen Spannungen und schließlich zu Auswanderungswellen nach Amerika und ab den Achtziger Jahren auch nach Mitteleuropa führte. Im Mittelpunkt dieses Wandels stand die jüdische Bevölkerung, teilweise ergriffen von orthodox-chassidischen Bewegungen, teilweise fortschrittlich, gebildet und deutschfreundlich gesinnt. Sie waren vorwiegend im Bildungswesen, im Handel und Geldverleih beschäftigt und wurden, wie Reymont in seinem monumentalen Werk „Die Bauern“ zeigt, geduldet aber nicht geliebt. In ihrer überwiegenden Mehrheit wurden sie schließlich ob deutschfreundlich oder nicht, durch die nationalsozialistische Mordmaschinerie des Zweiten Weltkrieges vernichtet.
Pollocks Buch erzählt die Geschichte Galiziens mit unverkennbarer Sympathie und Anteilnahme – mitunter entgeht er nicht ganz der Gefahr, diese altgalizische Welt als eine multikulturelle Vorwegnahme der Gegenwart ein wenig zu verklären. Nur zwischen den Zeilen wird immer wieder deutlich, dass Galizien durchaus kein Burgund und kein Schwaben, sondern ein bitterarmer Hinterhof Europas war, in dem Aberglaube, Mord und Totschlag, Pogrome, Mädchenhandel, Räuberbanden und religiöser Wahn grassierten. Seine Städtebeschreibungen, die mit einem Portrait der Hauptstadt Lemberg (Lwow) enden, präsentieren stattdessen ein eher freundlicheres Bild lebendiger kleiner Zentren mit Märkten und Kirchen und lesen sich fast wie ein Reiseführer durch eine längst vergangene Zeit, zu dessen Stärken es gehört, ausführlich und illustrativ Zeitgenossen und Augenzeugen zu Wort kommen zu lassen. In manchen Passagen gleicht Pollocks Werk in seiner Stimmung von „Es war einmal…“ fast einem Märchenbuch. Doch wie bei allen Märchenbüchern ist dringend davon abzuraten, diese Welt noch einmal mit eigen Augen sehen zu wollen, denn sie ist verschwunden und als melancholische Erinnerung nur noch in Büchern wie dem vorliegenden präsent.