Sukethu Metha: Bombay – Maximum City
Wer dieses Buch gelesen hat und Bombay von mehreren Reisen her zu kennen glaubte, der wird sich nachher so fühlen, als sei er über eine Glasplatte gelaufen und hätte von den gähnenden Abgründen unter sich nichts geahnt. Mir ging es jedenfalls so, und mir lief ein Schauder den Rücken herunter, als ich in dem vorliegenden Buch von einer Mordserie in Bombay las, die zu genau der gleichen Zeit geschah, als ich um die Ecke am Chowpattybeach im Sand lag und mir dachte: so schlecht ist es in Bombay nun auch wieder nicht. Wobei „schlecht“ oder „gut“ Begriffe sind, die für Bombay nicht passen, denn sie sind als Kategorien einfach eine Nummer zu klein. Bombay erscheint in dem vorliegenden Buch als eine vollkommen neuartige Gesellschaftsform, für die es noch keinen Namen gibt, als ein urbaner Naturzustand, in nicht nur der Mensch des Menschen Wolf geworden ist, sondern der von den Wölfen okkupierte Staat gleichsam als Obermonster mitagiert. Suketu Metha, der Bombay im Alter von 14 Jahren verließ und in den Dreißigern zurück kehrte, hat es auf sich genommen, diese alternative Zivilisation ohne Namen zu sezieren, und was er zutage fördert, ist ein Inferno: die durch und durch korrupte Kongressparrtei, die faschistische Shiv Sena, die kriminellen moslemischen Banden, die Berufskiller, die mordende und folternde Polizei, die sogenannte „bessere“ Gesellschaft, die Ärmsten der Armen, die für ein paar Rupien jeden Mord begehen – sie und viele andere mehr tanzen einen unablässigen Totentanz, ohne jemals aufhören zu können, weil ihnen im Augenblick des Aufhörens sofort der Tod droht. Die Geschichten, die der Autor dabei erzählt, sind schockierend genug, noch schockierender aber sind die Strukturen, die dahinter sichtbar werden – es sind die Strukturen einer Megastadt mit gleichsam doppelten Boden, einem urbanen Moloch, der für seine Bewohner mindestens zwei Wirklichkeiten bereithält, die ihm erschienen müssen wie Negative, die man übereinanderlegt und bei denen die Realität nicht mehr zu erkennen ist. Diese beiden Wirklichkeiten sind die offizielle Rechtsordnung, die Bombay ins Elend gestürzt hat und die kriminelle Ordnung, die sich die Mängel zunutze macht und von ihr lebt. Aus der Vielzahl von Beispielen, die Metha aufführt, erscheinen die Mietgesetze besonders verhängnisvoll: in Bombay existieren Millionen Obdachlose oder Slumbewohner, und gleichzeitig stehen Hunderttausende Wohnungen leer – nicht etwa, weil die Mieten zu hoch wären, sondern, weil die Mieter in Bombay aufgrund der herrschenden Mietgesetze praktisch unkündbar sind. Deswegen wird einfach nicht vermietet, und der Wohnraum, der vermietet ist und der von Mieter zu Mieter weiter vererbt werden kann, wird vom Eigentümer nicht instand gehalten. Kein Wunder, dass sich Mieter und Vermieter gegenseitig umbringen, was die unzähligen großen und kleinen Banden in Bombay erledigen. Die Verbrecherbanden sind hierarchisch organisiert, leben von Drogenhandel und Schutzgelderpressung, Entführungen und Auftragsmorden. Wer vor Gericht kommt, wird mit Bestechungsgeldern losgekauft oder freigesprochen, sodass die Polizei diesen Banden gegenüber vollkommen machtlos wäre, wenn sie ihrerseits das Richteramt nicht in eigene Hände nehmen würde und mit sogenannten „Encounters“ Kriminelle gezielt ermorden würden. Unzählig sind dergleichen „Hinrichtungen“, mit denen die Polizei Bombays die Banden dezimiert, wobei die Oberhäupter der Banden, die selbst mit einem Bein in der besseren Gesellschaft stehen, ihren Banden verbieten, wirklich zurückzuschlagen. Dergleichen Zustände, die der Autor in zum Teile extrem gefährlichen Interviews aufdeckt, werden durch die Religionsstreitigkeiten noch einmal kompliziert – zwischen Geldgier und Hass auf die jeweils anderen Religion pendelt der Muslim- oder der Hindukriminelle hin und her, und als Folge brennen und sterben Unschuldige zu Zehntausenden. Niemand wird das vorliegende Buch mit seinen über 700 Seiten in einem Durchgang lesen können. Man wird sogar zugeben müssen, dass die Akkumulation unglaublicher Geschichten am Ende sogar ein wenig ermüdet – und dass, obgleich der Autor seinen Bericht gut lesbar und übersichtlich strukturiert anbietet. Und wem man es empfehlen sollte, weiß ich auch nicht so recht. Denn wer dieses Buch gelesen hat, fährt nicht mehr ohne Weiteres in die größte Stadt der Welt. So muss ein Urteil über dieses Buch in einem größeren Kontext gefällt werden: Maximum City“ ist eine apokalyptisch anmutende Warnung vor der gesetzlosen Stadt, die möglicherweise am Ende der Geschichte stehen wird. Oder um es mit dem Autor zu sagen: „Gnade uns Gott!“