Uhlig: Die Seidenstraße

In der Geschichtswissenschaft hat man sich mitunter gefragt, warum sich der eurasische Großkontinent so viel schneller und höher entwickelte als der amerikanische Kontinent. Daran, dass Amerika erst vor gut 40.000 Jahren von Ostasien aus besiedelt wurde, kann es nicht liegen, denn zu dieser Zeit stand auch der eurasische homo sapiens gerade erst in den Startlöchern. Der Anthropologe Jared Diamond und andere haben eine überraschende Antwort gegeben: es liegt an der Geografie. Im Unterschied zu Amerika, dessen Hochkulturen sich auf einer Nord-Südachse befanden, was den Kulturaustausch mit den Mitteln der damaligen Zeit unmöglich machte, befanden sich die beiden großen Eckkulturen Eurasiens, China und der Mittelmeerraum (mit Syrien und dem Iran in der Mitte), auf einer Ost-West Achse, d. h. auf vergleichbaren Breitengraden und in ähnlichen Klimazonen, was den kulturellen und zivilisatorischen Austausch zwischen ihnen erleichterte.  In dieser Perspektive war die Seidenstraße, die diese Eckkulturen miteinander verband, die Achse der alten Welt.

  Womit wir beim Thema des vorliegenden Buches wären: der Seidenstraße. Der deutsche Religionswissenschaftler Helmut Uhlig (1922-1997) hat sich sein Leben lang mit diesem Thema beschäftigt und kurz vor seinem Ableben das vorliegende Buch als Summe seiner  Erkenntnisse und Forschungen vorgelegt. Auch wenn es nun auch schon wieder 25 Jahre alt ist, ist es, was seine grundlegenden Akzente betrifft, bei weitem nicht überholt. Sein besonderer Vorzug besteht in der Verbindung einer chronologischen Betrachtung der Geschichte der Seidenstraße von der Entstehung der Seidenraupenzucht im alten China bis zur Wiederentdeckung der Seitenstraße in der Gegenwart mit systematischen Portraits der bedeutendsten Orte der Seidenstraße wie  Dunhuang, Turfan, Kucha, Khotan oder Palmyra.

  Der Autor beginnt seine Darstellung mit dem Produkt, das der Straße ihren Namen gab: der Seide. Die Seidenraupenzucht und die Seidenherstellung reichte in China bis ins  dritte Jahrtausend vor der Zeitrechnung zurück (auch andernorts gab es Seidenraupen, aber keine, die so geeignet für die Zucht war wie die domestizierte Seidenspinne Bombyx mori, die es nur in China ab).   Dass dieser Export ausschließlich nach Westen ging, lag daran,  dass bereits in den ersten Jahrhunderten der Zeitrechnung, die  Seidenraupen und die Kenntnis der Seidenraupenproduktion nach Korea und Japan transferiert worden waren.

  Allerdings war der Weg nach Westen durch zwei Völker versperrt, durch die  Xiongnu und die Yüeh-zhi, zwei Nomadenvölker, die die nördlichen und westlichen Grenzen unsicher machten.   Hier und andernorts beweist der Autor übrigens viel Verständnis für die räuberischen Nomaden, wenn er vermerkt, dass sie auf Tribute angewiesen waren, da ihre eigene Lebensweise zur Deckung ihrer Bedürfnisse nicht ausreichte.  

 Die Geschichte der Seidenstraße begann mit der Expedition des chinesischen Offiziers Chang K´ien, der im Jahre 133 vor der Zeitrechnung im Auftrag des Han Kaisers eine Expedition zu den Yüeh-zi in den Gansu Korridor unternahm, um Bündnismöglichkeiten gegen die Xiongnu auszuloten. Dieses Projekt scheiterte zwar, doch der chinesische Chang K´ien brachte Nachrichten über den Westen mit, die den chinesischen Kaiser zur Ausrüstung einer gewaltigen Streitmacht motivierte, mit dem die Chinesen um 120 v.d.Z. erstmalig bis nach Khotan ins zentralasiatische Ferghanatal vordrangen. Das „Geschäft“, das diesen Krieg beendete und das im Austausch von Rassepferden gegen Seide bestand, war gleichsam der erste „Deal“ der Seidenstraße. Durch eine schlagkräftige Reiterei verstärkt  gelang es den Chinesen kurz darauf, die  Reiche der Xiongnu und der Yüeh-zhi zu zerschlagen und den Gansu Korridors und damit den Weg nach Westen zu öffnen. Die Etablierung der Festung Dunhuang am westlichen Ausgang des Korridors markierte gewissermaßen die Geburtsstunde der Seidenstraße kurz vor der Zeitenwende.

  Auch wenn schon vorher Seide  in den Westen gelangt war,  setzt erst jetzt ein regelmäßiger Karawanenhandel ein, der zwar immer durch Wegelagerer und Räuber bedroht war, sich aber zu einem beständigen Warenaustausch auswuchs.  Eine einzigartige Quelle, die über diese Vorgänge informiert, stellen übrigens die Reichsannalen der frühen Han Dynastie dar, insbesondere das 96. Buch dieser frühen Reichsannalen, das „si yü tschuan“, das der Autor als den „ersten Baedeker der Weltgeschichte“ bezeichnet. Im si yü tschaun  werden die Oasen, Handelsgütern und geographischen Besonderheiten des Westens so genau beschrieben, dass  die späte Han Dynastie auf der Grundlage dieser Informationen eine kurzzeitig zusammengebrochene Machtstellung wieder reetablieren konnte.

 Parallel zur Errichtung der chinesischen Kontrolle der zentralen Seidenstraße durch China entstand das Reich der Kuschana. Denn die geschlagenen Yüeh-zhi waren weitergezogen, zuerst nach Transoxanien, dann nach Afghanistan und schließlich nach Nordwestindien, wo sie unter der sogenannten Kuschana Dynastie ein Reich gründeten, das vom Aralsee bis an den Ganges reichte. Die geistesgeschichtliche Bedeutung dieses Reiches bestand darin, dass es zum Sprungbrett für die Ausdehnung des Buddhismus nach Ostasien wurde.    Der Aufstieg des Buddhismus zur großen Weltreligion Asiens beruhte nach Meinung des Autos auf dreierlei: Erstens auf der Entwicklung des Mahayana- Buddhismus, der die Integration der alten Götterwelten durch die missionierten Völker erlaubte, zweitens in der sehr attraktiven bildhaften Darstellungen des Buddha, die von Gandhara im nordwestindischen Kuschanareich ausging, und drittens eben auf der Seitenstraße, die nun nicht mehr nur dem Güter- sondern auch dem Kulturtransfer diente.   Nur nebenbei sei bemerkt, dass sich neben dem Buddhismus auch der Zoroastrismus, der Manichäismus und das nestorianische Christentum über die Seidenstraße ausbreiteten.

  Mit dem Zusammenbruch der Han Dynastie und dem Entstehen der ersten alttürkischen Großreiche in Zentralasien verändern sich die Verhältnisse auch auf der Seidenstraße. Die einzelnen Oasen wurden zu selbstständigen Kleinstaaten. Das galt besonders für die Oase Khotan im Süden der Taklamakan Wüste und Kucha im Norden der Wüste.  An diese beiden Städte verlor China ab dem vierten Jahrhundert durch Technologiespionage sein Monopol der Seidenraupenzucht, auch wenn es noch lange dauern sollte, bis die Seide aus Khotan und Kucha die gleiche Qualität wie die chinesische Seide erreichte.  In China führte der Verlust des Seidenraupenmonopols übrigens zu wirtschaftlichen Krisen, die nur teilweise durch den Export hochwertiger chinesischer Keramik ausgeglichen werden konnte. Gut gehandelt wurde auch der in China entwickelte und von den Türken perfektionierte Lamellenpanzer, der gute Panzerung und Beweglichkeit vereinte. Der Iran wurde in dieser Epche zum Modezentrum für ganz Eurasien, so dass es sogar zu Rückexporte von Seide von Persien nach China kam. Die Scharniere dieses frühen Welthandels bildeten die zentralasiatischen Oasenstädte, deren Blüte sich nicht  nur in Reichtum sondern auch in einer üppigen Kulturproduktion in Gestalt von Literatur und Wandmalereien niederschlugen

  Im siebten und achten Jahrhundert, einer Wendezeit der Seidenstraße, kam zunächsht es zur Neuaufrichtung der chinesischen Macht auf der Seitenstraße unter der Tang Dynastie.  Erneut rückten chinesische Truppen bis nach Kaschgar und weiter vor.  Diese Ausdehnung wurde zum Teil durch den Zusammenbruch des iranischen Sassanidenreiches unter dem Ansturm der Araber erleichtert. Allerdings griffen nun auch die Tibeter in das zentralasiatische Machtspiel ein, besetzten zeitweise Kaschgar und eroberten kurzfristig sogar die chinesische Hauptstadt Xian. Das Ende der chinesischen Präsenz wurde durch die  Niederlage Chinas gegen die Araber in der Schlacht am Talas 751  und das Vorrücken der Uiguren um 760 eingeleitet. Unter Uiguren  versteht man eine türkische Standardkonfiguration,  die sich erst im 20. Jahrhundert rückblickend als „Uiguren“ bezeichnete. Ihre Staatsreligionen waren zunächst der  iranische Manichäismus und der Buddhismus, ehe sie  zum Islam konvertierten. Im achten und neunten Jahrhundert beherrschen sie weite Teile Zentralasiens

  Derweil hatten sich die Oasen der Seidenstraße längst von reinen Transfer- in Produktionszentren verwandelt.   Zeitweise, in der ersten Phase der islamischen Dominanz auf der Seidenstraße, kam es sogar zu einer  Erhöhung der Seidenproduktion, ausgelöst durch den Luxusbedarf der Kalifenstädte. Trotzdem begann spätestens ab dem 11. Jahrhundert der Islam mit der „Säuberung“ der Seidenstraße von konkurrierenden Religionen. Reihenweise traten die Herrscher der Oasenstädte vom Buddhismus oder Manichäismus zum Islam über, buddhistische Missionare und manichäische Priester wurden öffentlich hingerichtet. Buddhistische Kultstätten und Kunstwerke fielen der Vernichtung anheim.

   In diesem übergreifenden Kontext war die letzte kurze Blütezeit der Seidenstraße im Weltreich der Mongolen während des 13. Jahrhunderts nur eine Episode  Als ihr Reich im 14. Jahrhundert zerbrach und sich die zentralasiatischen Mongolen dem Islam zuwandten, war das Schicksal der Seidenstraße besiegelt. Die Imperien der türkischen Osmanen, der persischen Safaviden und der indischen Moguln regelten den Weg nach China ab, während sich der Welthandel ohnehin auf die Meere verlagerte.  

 Soweit ein stark geraffter Abriss der Geschichte, wie er sich aus dem vorliegenden Buch ergibt. Ergänzt wird Uhligs Darstellung durch eine ausführliche Vorstellungen der einzelnen Oasenstädte inklusive ihrer Entdeckungsgeschichte. Auch was es in diesem Zusammenhang zu lesen gibt, ist bemerkenswert. So verteidigt der Autor die europäischen Forscher des 20. Jhdts., die die Höhlenmalereien teilweise entfernten und in europäische Museen brachten, weil sie sonst durch  Einheimischen abgekratzt worden wären, um sie als Dünger für ihre Felder zu benutzen. 

  Was ich vermisste, war eine Betrachtung der Seidenstraße auch als „Highway der Seuchen“, denn die große Pest, die Europa ab 1347 verheerte, kam über die Seidenstraße aus China nach Westen. Auch der vierte Ausgriff der Chinesen nach Westen, der im 18. Jhdt. zur Eroberung des heutigen Xinjiangs durch die Qing Dynastie führte, fehlt. Abgesehen davon ist das vorliegende Buch ein  ausgezeichneter Ratgeber für jedermann, der sich für die Seidenstraße interessiert.

 

 

 

 

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