Peter Weidmann: Argentinien. Schwellenland auf Dauer

Zu den traurigen Standardgeschichten der Wirtschaftsgeschichte zählt der erstaunliche Abstieg des lateinamerikanischen Südens, der noch in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts eine glänzende Zukunft vor sich zu haben schien. Der Autor untersucht diesen Niedergang am Beispiel Argentiniens in Form einer kombinierten historischen und politikwissenschaftlichen Analyse. Eine seiner allgemeinen, aber griffigen Grundthesen lautet: in Argentinien steht eine „starke Gesellschaft“ einem „schwachen Staat“ gegenüber. Diese starke Gesellschaft basiert auf einem exzessiven, zum Teil bizarren und asozialen Individualismus, demgegenüber allgemeine Regeln Gemeinwohlansprüche sekundär erscheinen. Dieser Individualismus entstand in der stürmischen Einwanderungsgeschichte seit den 1870er Jahren, in denen niemand etwas geschenkt wurde und alle, die es schafften, sich dieses Verdienst ganz allein zurechneten.  Bis auf den heutigen Tag ist deswegen nach Ansicht des Autors für den Durchschnittsargentinier die Achtung der Gesetze ein anderer Ausdruck für Dummheit. Kein Wunder, dass es vor dem Hintergrund dieses asozialen Individualismus auch den politischen Eliten an der  Bereitschaft und der Fähigkeit zur Entwicklung von Konsens mangelte. Zweite wesentliche Einsicht des Buches: der unglaubliche Aufschwung des Landes nach der Jahrhundertwende war auch die Folge glücklicher Umstände, nämlich dem exzessiven Nahrungsbedarf der europäischen Industrienationen und der Möglichkeit Argentiniens, diesen Nahrungsbedarf mit Hilfe unendlicher Böden und der neu entwickelten Kühltechnik auch zu decken. Unbeachtet blieb, dass diese Bedingungen auf zwei glücklichen Prämissen beruhten, die sich als nicht dauerhaft erweisen sollten: nämlich Frieden und Freihandel. Als  beides wegfiel und  war das zu Szenario zum Niedergang perfekt. Der Übergang zum Industriegesellschaft scheiterte, und das einstmals so aussichtsreiche Argentinien verharrte im Stadium eines ewigen Schwellenlandes. Und hier kommt der Peronismus ins Spiel. Abgesehen von den individuell-persönlichen Besonderheiten war der Peronismus wirtschaftsstrukturell nichts anderes als der Versucht, hinter hohen Zollmauern eine eigene Industrie zu errichten.  Korruption und extremer Protektionismus verhinderten jedoch die Entstehung einer konkurrenzfähigen und Exportindustrie. Unter diesen Umständen die unteren Schichten weiter als politische Klientel zu alimentieren, ruinierte dann das das Staatswesen endgültig. So kommt der Autor zum gleichen Befund wie viele seiner Kollegen. Dem Geheimnis des argentinischen Niedergangs kommt man nicht auf die Spur, ohne sich mit der gesellschaftlichen Verwurzelung des Peronismus in den Unterschichten zu befassen. Es handelt sich bis auf den heutigen Tag um ein quasi informelles mafiöse System, das über informelle Verteiler illegal staatlich finanzierte Unterstützungsleistungen an die eigene Klientel verteilt – also eine Art staatliche Umverteilung im Gewand der Korruption. Der Autor erwähnt immerhin, dass es  Chancen zum „Pfadwechsel“ gegeben habe, etwa unter der Regentschaft Präsident Alfonsins, der wirtschaftliche Reformen, juristische Aufarbeitung der Militärdiktatur und sozialen Konsens anstrebte. Diese positiven Ansätze wurden aber durch wirtschaftspolitische Fehler (Inflation) und ungeschicktes Taktieren um ihren Ertrag gebracht. Die korrupte Regierung des Rechtsperonisten Menem brachte Argentinien nach der Hyperinflation von 1989 mit neoliberalen Mitteln zeitweise wieder auf den Wachstumspfad, um aber dann doch nach 2000 den zweiten Staatsbankrott hervorzurufen. Das Buch ist in anspruchsvoller, aber sehr gut lesbar Diktion verfasst und inhaltlich überzeugend. Ein Schelm, wer im Angesicht des argentinischen Niedergangs an das denkt, was Europa in den nächsten Jahrzehnten bevorsteht.