Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um den locker geschriebenen Erlebnisbericht einer journalistischen Stipendiatin über ihr Jahr in Rio. Ihr Name ist Frauke Niemeyer, und sie lebt zunächst in der Zona Norte, dem gefährlichsten Stadtteil von Rio, in dem man als normaler Mensch abends nicht mehr auf die Straße geht. Das ist übrigens das Grundgefühl, das sie das ganze Jahr begleiten wird: über allem, auch in der Zona Sul, schwebt die latente Drohung der Gewalt. Kostbare Geräte, mit denen man auf der Straße unterwegs ist, müssen getarnt werden, Kreditkarte und Geld gehören in die Unterhose oder die Schule (was die Diebe aber durchaus wissen). Durch die Stadt spazieren, bedeutet immer auf der Hut vor Verdächtigen zu sein. „Verdächtig heißt für mich in diesem Fall: unter dreißig, männlich, dunkelhäutig, trägt keine Tasche wegen Einschränkung der Bewegungsfreiheit, trägt kein Shirt, damit man ihn, wenn er wegläuft, nicht daran festhalten kann. Es ist der Welt flachstes Klischee, ich sollte es ablehnen und stattdessen vor rothaarigen Rentnerinnen Angst haben.” In der Kanalisation von Rio, in der die obdachlosen Kinder leben, entdeckt die den Treibsatz dieser nie enden wollenden Gewalt: verwahrloste Kinder, die ihre Drogenkarriere mit Klebstoff beginnen und irgendwann als Gangster und Ermordete enden. Dass die Regierung mit der Einführung eines allgemeinen Kindergeldes wenigstens ansatzweise gegensteuert, findet Fraukes uneingeschränkte Zustimmung.
Auf der anderen Seite genießt die Autorin während ihrer üppigen Streifzüge durch Discotheken und Festivitäten die überbordende Freundlichkeit der „Cariocas“, wie die Einwohner von Rio genannt werden. Dieser Carioca ist ein Charmeur und eine Labertasche, er beginnt schon beim zweiten Tanz mit dem Schmusen und liest prinzipiell nicht, weil ihn das von der Kontaktaufnahme abhalten könnte. Er nuschelt, spricht schnell und ist voller Anteilnahme für seine Umgebung, allerdings in bestimmten Grenzen. Wird er Zeuge eines Überfalls oder Diebstahls schaut er weg.
Nach einer ersten Eingewöhnungszeit zieht Frauke in ein herrliches Apartment mit wunderbarer Aussicht auf den Strand von Ipanema. Frauke verliebt sich in Bossa Nova und Samba und knüpft jede Menge Kontakte zu lokalen Lovern, bleibt ihrem Berliner Freund Ralf aber treu. Am Ende wird sie Augenzeugin der landesweiten Abstimmung über ein strenges Schusswaffenverbot, dessen pro und contra sie recht unparteiisch darstellt. Hier wie anderswo versteht es die Autorin Erlebnisbericht, persönliche Portrait und Sachdarstellungen unaufdringlich aber einprägsam zu mischen. Dass es dabei auch für den Lateinamerika-Kenner noch etwas zu lernen gibt, versteht sich fast von selbst. Wer wusste schon, dass der Name „Favela“ sich von dem Namen einer Blume aus dem Sertao herleitet, aus dem die Zuwanderer der Favelas nach Rio kamen. Nicht ganz bündig erscheint das Interview der Autorin mit dem alten Oskar Niemeyer, der sich als schwieriger Gesprächspartner erweist. Die Autorin schildert ihn als einen der großen Architekten des Letzen Jahrhunderts, als einen Erlöser von der stupiden Bauhausarchitektur und Erfinder der phantasievollen, runden Formen. Sein Glanzprojekt Brasilia erscheint ihr jedoch, bei aller Originalität der Einzelbauten, als soziales Projekt gescheitert.
Im Zuge der Vorbereitungszeit auf die Olympiade und die Fußball WM eroberte die Polizei während Fraukes „Jahr in Rio“ 14 Favelas zurück, was die Verhältnisse im Süden etwas besserte, wenngleich sich der blutige Bandenkamp nun in den Norden verlagert hat. Am Ende verlässt Frauke Niemeyer Rio mit Wehmut im Herzen wie Jemanden, den man herzlich liebt, obwohl man auch seine Schattenseiten kennt. „Der Ozean und die Stadt. Ungebändigte Natur und das pure Menschenwerk. Ich suche in meinen Erinnerungen nach anderen Küstenlandschaften: weißere Strände in Thailand, klareres Wasser in der Karibik, höhere Wolkenkratzer in New York. Aber wo sonst begegnen sich Zügellosigkeit und Zivilisation in so reiner Form, vereinen sich zu einer solchen Komposition: wild und urban zugleich.”
Ein interessantes, gut geschriebenes und lehrreiches Buch, zugleich eine ideale Vorbereitung für mein Wiedersehen mit Rio nach 30 Jahren.