Leseprobe Kapitel 5: Das Ghetto

  Doch der  Krieg ging weiter und nichts blieb wie es war. Während Marianna Potocka in ihrem Leid erstarrte, wurde Polen von einer Völkerwanderung ergriffen, wie man sie noch nie erlebt hatte. Teils von der Besatzungsmacht gezwungen, teils von individueller Not getrieben, bewegten sich Millionen  von einem Ort zum andern. Lukow, der Eisenbahnknotenpunkt zwischen Lodz, Warszawa und Lublin,  platzte aus allen Nähten. Vertriebene jüdische Bauern mit ihrem Anhang kamen in langen Trekks vom Land in die Stadt, und aus den Zügen entsteigen enteignete Polen aus dem Warthegau. Schließlich beanspruchten deutsche Kommando- und Wehrmachtsstellen ganze Straßenzüge für ihre Unterbringung. Wohnraum, Transportkapazitäten. Holz und Nahrung wurden knapp, nur an Menschen herrschte kein Mangel.

  Marek Plewka gehörte zu denjenigen, die von den neuen Verhältnissen profitierten. Als junger Mann hatte er in den Judenspelunken von Lukow verkehrt und im Rotlichtmilieu der Stadt seine Unschuld verloren. Dann war er als Angestellter jüdischer Händler und Fabrikanten schnell aufgestiegen, weil er die beiden Grundregeln des Erfolgs beherzigte: das Beachten einer gewissen Zuverlässigkeit, ohne die keine langfristigen Beziehungen entstehen können, aber auch eine robuste Bedenkenlosigkeit im Ergreifen günstiger Gelegenheiten. Bei dem jüdischen Textilunternehmer Jesche Seligmann, dessen Familie schon seit Generationen eine Schneiderei in Lukow betrieb, hatte Marek Plewka das Textilgeschäft von der Pike auf gelernt, war im Auftrag seines Arbeitgebers nach  Lodz, Kraków und Warszawa gereist, ehe ihn der alte Seligmann völlig überraschend vor die Türe gesetzt hatte. Manche munkelten, Marek Plewka hätte seine Stellung verloren, weil er Jolantha Seligmann, der Tochter und Erbin des alten Seglimann nachstellte, andere vermuteten, dass Marek Plewka höhere Ziele verfolgte, als für alle Zeiten der Adlatus eines jüdischen Fabrikanten zu sein und dass er insgeheim bereits begonnen hätte, Seligmanns Geschäftspartner für sich einzunehmen. Wie immer es auch gewesen sein mochte, sofort nach seiner Entlassung erhielt Marek Plewka von unbekannten Geldgebern genügend Kapitel zur Anschaffung von Nähmaschinen, um seine eigene Firma zu gründen. Mit einigen Schneiderinnen begann er die Produktion und profitierte davon, dass das polnische Militär unmittelbar vor dem Ausbruch des Weltkrieges die polnische Armee mit nagelneuen Uniformen ausstatten wollte.  Seligmann hatte das Nachsehen, nicht zuletzt, weil Marek Plewka die staatlichen Auftraggeber in Warszawa mit teuren Pelzen und kostbaren Kleidern für ihre Gattinnen überhäufte.

  Unter der deutschen Besetzung liefen Marek Plewkas Geschäfte merkwürdigerweise noch besser.  Jesche Seligmann wurde von der SS mit Fußtritten aus seiner eigenen Firma herausgejagt, erlitt einen Schlaganfall und starb. Seine Angestellten wurden arbeitslos und einige waren froh, zu geringeren Löhnen bei Marek Plewka eine Anstellung zu finden. Die Nachfrage nach den blauen Uniformen der polnischen Hilfspolizei sorgte für eine ausgezeichnete Ertragslage, die nur unwesentlich durch die Bestechungsgelder gemindert wurde, die Plewka an die SS-Kommandanturen von Kock und Lukow zahlen musste. Ein kostbarer Pelz aus russischem Zobel, den Makek Plewka mit einer Kiste Wein Hauptmann Baller zu dessen 35. Geburtstag schickte, sicherte ihm bis auf Weiterer das Wohlwollen der Besatzungsmacht. Hauptmann Baller sah darüber hinweg, dass in Marek Plewkas Textilfabrik überwiegend Juden beschäftigt wurden und  erlaubte, dass Jolanta Seligmann, die Tochter des verstorbenen jüdischen Fabrikanten,  im Hause Plewka eine Anstellung als Haushälterin erhielt.   

  Jolantha Seligmann war eine hübsche, aber prätenziöse Person, die seit dem frühen Tod ihrer Mutter von ihrem Vater hemmungslos verwöhnt worden war. Sie besaß langes, schwarzes Haar, eine vornehme blasse Haut und eine schöne, leicht gebogene Nase, von der man nicht recht wusste, ob sie Adel oder Arroganz ausdrückte. Seit ihrer Kindheit malte und musizierte sie, zu dilettantisch, um an einer Hochschule aufgenommen zu werden, aber immer noch gut genug, um auf ihre Verehrer in Lukow als Kulturbanausen herabzusehen, Marek Plewka einer der leitenden Angestellten ihres Vaters, war zwar leidlich witzig gewesen, war aber nie wirklich in Frage gekommen. Ob sie es gewesen war, die den Vater veranlasst hatte, den lästigen Freier vor die Türe zu setzen, daran konnte sie sich  nicht mehr erinnern.

  Nun war Marek Plewka ein bedeutender Mann und Jolantha seine Hausangestellte. Das waren gänzlich andere Verhältnisse, und so dauerte es nicht lange, bis Jolantha Marek Plewkas Geliebte wurde, nicht seine einzige, aber seine bevorzugte. Sogar ein Klavier wurde angeschafft, auf dem  Jolantha ihr schmales Repertoire zum Besten geben konnte. Ihr Anschlag war leicht und zögerlich, als  traue sie den Tönen ebenso wenig wie ihren Lebensumständen, die sich von einem auf den andern Tag ändern konnten. 

  Auch Marek Plewka wusste um die Brüchigkeit seiner Existenz, vertraute aber darauf, dass es für ihn immer einen Ausweg geben würde. So war es bisher immer gewesen, und warum sollte sich daran etwas ändern? Insgeheim hing er an der schönen Jolantha, zeigte es aber nicht mehr so deutlich wie früher, weil er wusste, dass Jolantha zu den Frauen zählte, bei denen die allzu offensichtliche Liebe eines Mannes leicht  Launen und Mirägne erzeugte.   

    Das Jahr verging und die Nahrungsmittelpreise stiegen weiter. Die Erzeugung von Kartoffeln, Gemüse, Fleisch und Obst stagnierte, während der Zustrom von Menschen nach Lukow ungehindert anhielt. Seit dem Blutbad von Jozefuw saßen die Bauern voller Angst auf ihren Höfen,  versteckten alles, was sie nicht selbst verbrauchten oder was nach der Steuereintreibung durch die Deutschen noch übrig war.

  Marek Plewka erkannte, dass es die Angst war, die den Handel strangulierte und die Knappheit größer machte, als sie sein musste. Deswegen fuhr er mit dem Pferdewagen über Land, kontaktierte die Bauern, trank mit ihnen Wodka und Pflaumenschnaps und erfuhr, welche Überschüsse zu verkaufen waren. Die Preise, die er dafür anbot, waren die höchsten der letzten zehn  Jahre, doch auf dem Wochenmarkt von Lukow würde er den Speck, die Kartoffeln und die Würste zu noch weit höheren Preisen wieder loswerden. Wann immer es Maria möglich war, begleitete sie  Onkel Marek auf seinen Fahrten, lernte die Bauern der Nachbardörfer näher kennen und wusste bald recht genau, welche Überschüsse in welchem Dorf verfügbar waren.  

  So wurde Maria Kaminska, noch nicht ganz zwanzig Jahre alt, an der Seite ihres umtriebigen Onkels eine Kartoffel- und Getreidehändlerin, die bald in der Lage war, mögliche Gewinne abzuschätzen und Verluste zu vermeiden. Als Kind des Landes fand sie schnell den richtigen Ton und gewann auf diese Weise schnell einen festen Stamm von Lieferanten zwischen Zakepie und Lukow. Marek Plewka verschaffte Maria eine Konzession für den Wochenmarkt von Lukow, wo sie ihre Waren verlaufen sollte. In ihrer Abwesenheit versorgte die alte Gontasch die kranke Bäuerin und den kleinen Janek.  Marias Bruder Eugenius war mit seinen zwölf Jahren bereits in der Lage, den Pferdewagen zu lenken, Mehl- und Kartoffelsäcke zu schleppen, bei der Heuernte und der Aussaat zu helfen und Holz für den Winter zu hacken. Noch hing er an seiner älteren Schwester wie an einer Mutter, folgte ihren Anweisungen genau, während ihm Jozefa Plewka immer fremder wurde.

   Das erste Mal, als Maria mit ihrem Pferdewagen voller Kartoffeln und Mehl Lukow erreichte, erkannte sie die Stadt kaum wieder. Vorbei waren die Zeiten, als Lukow eine Stadt wie alle andern gewesen war, mit sauber gepflasterten Alleen, adretten Plätzen und zuverlässigen Schutzmännern, die den bescheidenen Verkehr von Pferdedroschken, Karren und Automobilen regelten. Nun standen an den großen Kreuzungen deutsche Wachtposten gelangweilt in der Gegend herum und überließen den polnischen Polizisten in ihren blauen Uniformen die Arbeit. Die meisten Passanten liefen mit gesenkten Köpfen durch die Straße, um jeden Blickkontakt zu vermeiden. Juden waren ohnehin kaum noch zu sehen, weil sie öffentliche Demütigungen und Verhaftungen fürchteten. Vor dem Bahnhof war ein älterer Mann von einem vorbeirasenden deutschen Jeep angefahren worden. Der Fahrer des Wagens hatte nur einen Fluch aus dem Fahrerhaus geschrien und war weitergefahren. Das Knie des angefahrenen Mannes war zerschmettert, ein Knochen ragte ihm aus dem Oberschenkel, doch niemand kümmert sich um ihn. Als er immer lauter schrie und alle Deutschen verfluchte, löste sich ein SS Mann aus einer Gruppe von Wachsoldaten und erschoss ihn. Maria zuckte bei dem peitschenartigen Geräusch des Schusses zusammen. Was sie gerade gesehen hatte, erschien ihr wie ein Albtraum, aber es war die Wirklichkeit. Die Passanten taten so, als hätten sie nichts gesehen und gingen weiter. Kurz darauf wurde der Tote weggeschleift, nur sein Blut, vermischt mit dem Abfall der auf der Straße, erinnerte an den Vorfall.

Stammtafel

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