Leseprobe Kapitel 4: Das Massaker

Zwei Stunden nach Mitternacht, als alle schon schliefen,  gab es ein Geräusch  am Hauseingang. Niemand wachte auf, als sechs Gestalten durch die Türe ins Hausinnere schlichen. Sie waren vermummt und wussten genau, wohin sie wollten. Zuerst liefen sie in den ersten Stock des Hauses, wo sie sich vor den Schlafkammern der Eltern und der Söhne aufteilten. Drei verkleidete Gestalten drangen leise in das Schlafzimmer der Eltern ein und erstachen Adolf Kasner im Schaf. Hildegard Kasner, die dabei aufwachte, wurde die Kehle durchgeschnitten, noch ehe sie schreien konnte. Gleichzeitig fielen drei Eindringliche über die beiden älteren Söhne im Nachbarzimmer her. Lutz Kasner hatte die Geräusche  gehört und  war aufgestanden, da flog die Türe auf und mit einem wuchtigen Hieb spaltete einer der Räuber Lutz Kasner den Kopf mit einem Beil. Martin lag noch im Bett, als ihn die Stiche in Hals und Brust trafen. Inzwischen war Hilda Kasner vom Lärm erwacht und zum Zimmer der Eltern gelaufen. Als sie ihre Mutter in ihrem Blut sah, begann sie zu schreien. Sofort wurde sie von einem der Angreifer auf das Bett gedrückt und mit einem Kissen erstickt. Die Beinchen zuckten noch ein paarmal, dann entwich das Leben aus ihr wie aus einem Gefäß, in dem es ohnehin nicht lange heimisch gewesen war. Heinrich, der jüngste Sohn, der sein Zimmer in der zweiten Etage hatte, kam die Treppe heruntergelaufen und sah die Spuren des Gemetzels in den offenen Türen. Den Bruder und den Vater mit den Messern im Leib, die  Mutter mit der durchgeschnittenen Kehle, das letzte Zucken der kleinen Schwester. Er schrie, dann traf auch ihn das Beil.

  Schnell fanden die Räuber die Kassette, in der sich das Geld für den verkauften Hof befand. Auch der Schmuck der Bäuerin wanderte in die Taschen der Räuber.  So viel an Pelzen, Mänteln und Stiefeln wie die Eindringlinge tragen konnten, wurde vom Hof geschleppt und auf einen Pferdekarren verladen, der etwas abseits vom Hof im Schatten der Bäume stand. Gewehre und Munition fanden sie nicht, denn die hatte Kasner schon an den volksdeutschen Selbstschutzbund zurückgegeben. Die Durchsuchung des Hauses vollzog sich gründlich und zielgerichtet, wenngleich nicht mehr so geräuschlos wie vorher, denn niemand hatte den Überfall überlebt.

  Niemand außer Jakub, der in der Scheune geschlafen hatte und durch den Schrei der kleinen Hilda Kasner wachgeworden war. Jakub hatte eine halbe Flasche Wodka zur Nacht getrunken und war so benebelt, dass er zunächst an eine Täuschung glaubte. Dann gellte der Todesschrei Heinrich Kasners über den Hof, und schlagartig wurde dem Knecht bewusst, was sich im Haus abspielte. Vorsichtig schlich sich  Jakub aus der Scheune und beobachtete das Herrenhaus.  Nach einer halben Stunde kamen sechs vermummte Männer aus dem Haus, beladen mit Mänteln, Jacken, Kassetten und Körben und verschwanden im benachbarten Wald. Was sie gesucht hatten, hatten sie gefunden.

  Jakub wartete noch eine Weile, dann näherte er sich dem Haupthaus. Die Türe stand offen, es roch nach Blut und Tod. Als er die Leichen im ersten Stock sah, bekreuzigte er sich und flüchtete aus dem Haus.

  So schnell er konnte, ritt Jakub auf dem alten Klepper, den ihm der Kasner geschenkt hatte, nach Zakepie. Die tiefste Nacht war bereits vorüber. Die Sterne begannen zu verblassen und ein fahler weißer Himmel wölbte sich über das Land. Es war der 14. April 1940.

  Das Haus von Frederic Kowalski, dem Ortsvorsteher, befand sich gleich neben der Dorfkirche. Auf Jakubs heftiges Klopfen öffnete der Ortsvorsteher die Türe seines Hauses. Seine sonst immer sorgsam gekämmten Haare standen ihm struppig vom Kopf ab. Er war leichtert, dass es nur der Knecht Jakub war und bat ihn ins Haus.

  Als Jakub ihm berichtete, was geschehen war, wurden Kowalski die Knie weich, und er musste sich setzen. Seine Frau Gerda erschien auf der Treppe, zusammen mit den beiden Söhnen Oleg und Edwin.

  „Der Kasnerbauer und seine ganze Familie sind auf ihrem Hof ermordet worden“, sagte Kowalski mit tonloser Stimme zu seiner Frau.

  Gerda Kowalski riss die Augen auf.  „Von wem? Von Partisanen?“ .

  Fragend blickte Kowalski den Knecht an.

  „Nein, es waren Kriminelle, sie haben die Schränke durchwühlt, und ich sah, wie sie ihre Beute aus dem Haus herausschleppten“, erklärte Jakub

  „Wir müssen es den Deutschen melden…“ meinte Kowalski wie zu sich selbst.

  „Sie werden sich furchtbar rächen.“

  „Sie werden die Morde auf jeden Fall entdecken, dann ist es besser, wir teilen es ihnen mit. Außerdem sind wir unschuldig. Die Deutschen wissen, dass Kriminelle schon seit einem halben Jahr die Gegend unsicher machen“, erwiderte Kowalski und winkte seine Söhne heran. Oleg und Edwin Kowalski waren mochten achtzehn oder neunzehn Jahre alt sein und ähnelten ihrem polnischen Vater. Sie besaßen das gleiche kantige, ehrliche Gesicht, waren schlank, kräftig und behände.

  „Oleg, du reitest nach Kock zur deutschen Kommandantur und berichtest, was vorgefallen ist. Sag auf jeden Fall, dass es ein Raubüberfall war und dass keine Partisanen beteiligt waren.“ Dann wandte er sich seinem zweiten Sohn zu: „Edwin, du reitest zu Friedrich Bek von der volksdeutschen Selbstschutzgruppe. Dieser Bek ist unberechenbar. Besser, er erfährt von uns, was geschehen ist, als  wenn er es selbst entdeckt. Ich mache mich sofort auf und gehe zum Kasnerhof.“

  Als sich die Kowalskis vor dem Haus trennten, war die Sonne gerade aufgegangen. Rotgolden übergossen ihre Strahlen die Umrisse der Häuser, die wie gleichgültige Komparsen  in der Landschaft standen. Ein feiner Nebel lag über den Feldern, der morgendliche Gesang der Vögel hatte bereits begonnen.

  Was Frederic Kowalski eine halbe Stunde später im Haus der Kasners entdeckte, überstieg seine schlimmsten Erwartungen. Diese Mörder hatten ihr Geschäft verstanden. Adolf Kasner war mit einem einzigen Stich mitten ins Herz getötet worden. Seine Frau lag in einer Blutlache auf dem Boden. Im Nebenzimmer fand Frederic Kowalski  Martin Kasner in der erstarrten Haltung seines Todeskampfes in blutigen Laken. Seinem  älteren Bruder Lutz war der Kopf mit einem Beil gespalten worden, ebenso dem kleinen Heinrich Kasner. Unwirklich war der Anblick der kleinen Hilda, die scheinbar unverletzt unter dem Kissen lag, mit dem sie erstickt worden war.

  Kowalski war noch unschlüssig, was er als erstes tun sollte, da hörte er, wie ein Fahrzeug in den Hof fuhr. Als er aus dem Fenster blickte, sah er, wie Friedrich Bek und zwei Begleiter aus dem Wagen sprangen und mit Gewehren bewaffnet auf das Haus zuliefen. Edwin hatte seinen Auftrag also bereits ausgeführt, und der Bekbauer mit seinen Spießgesellen rückte an. Hinter Bek und seinen beiden Begleitern wurden in einiger Entfernung Reiter sichtbar, die auf den Hof zuhielten.

  Kowalski öffnete die Türe, doch Bek stieß ihn brüsk zur Seite und rannte in die  obere Etage. Wolsch und Knauber, die ihn begleiteten, hielten dem Ortsvorsteher das Gewehr vor das Gesicht und drängten ihn gegen die Holzwand.

  „Was soll das?“ protestierte Kowalski verwundert. „Ich bin doch nicht der Mörder. Mein Sohn war es doch, der euch benachrichtigt hat.“

  Ohne Vorwarnung schlug Knauber Kowalski den Gewehrknauf ins Gesicht. Kowalski brach zusammen und spürte, halb ohnmächtig, die Tritte, die ihm Wolsch in die Rippen versetzte.

  In diesem Augenblick kam Friedrich Bek mit hochrotem Kopf die Treppe wieder herunter. Er hielt das Gewehr im Anschlag und schrie: „Geht zur Seite.“

  Wolsch  und Knauber sprangen zur Seite, Bek schoss Kowalski mitten ins Gesicht. Ein Teil des Kopfes flog durch den Raum.

  Inzwischen waren die Reiter auf dem Kasnerhof angekommen. Es handelte sich um Beks ukrainische Knechte, die sofort von ihren Pferden absprangen. Auf einem der Pferde saß der junge Edwin Kowalski. Er war gefesselt und hatte  Blutergüsse am Kopf.

  „Die ganze Familie ist ermordet worden“, schrie Bek, als er aus dem Haus trat. „Alle, auch die Frau und die Kinder.“  Hinter ihm traten Wolsch und Knauber auf den Hof. „Abgeschlachtet mit Beilen und Messern, die ganze Familie“, wiederholte Bek.

  Einen Moment erstarrte die Gruppe. Die Männer blickten sich an, dann nahmen sie Edwin ins Visier.

  Langsam ging Bek auf Edwin zu, der noch immer auf dem Pferd saß.

  Edwin Kowalski schien nicht zu verstehen, was geschah und blickte sich um „Wo ist mein Vater?“ fragte er.

„Du wirst ihn gleich sehen“, erwiderte Bek und schoss Edwin vom Pferd.

  Wie viele Menschen dem Amoklauf des  volksdeutschen Selbstschutzes in den nächsten beiden Stunden zum Opfer fielen, konnte im nachherein nicht mehr festgestellt werden. Zu den ersten, die starben, gehörte die Familie des Bauern Kasimir Kulenta. Kasimir Kulenta, dessen Hof noch vor zehn Jahren erheblich größer und wohlhabender als der Bekhof gewesen war, befand sich bereits bei der Kartoffelernte auf dem Feld, als Beks Wagen mit hoher Geschwindigkeit in seinen Hof einfuhr und abrupt stoppte. Aus der Distanz sah Kulenta, wie Bek und seine Männer  die Türen einschlugen, ins Haus eindrangen und seine Tochter herauszerrten. Seine Frau, die ihre Tochter schützen wollte, wurde angeschossen. Ein Schuss, und Kulenta sah, wie seine Frau einen Meter nach hinten geschleudert wurde und zappelnd liegen blieb. Noch ein Schuss, diesmal auf die Tochter, die sich schreiend auf die noch zuckende Mutter geworfen hatte. Kulenta brüllte und begann  mit der Hacke auf die Deutschen zuzurennen. Bek ließ ihn herankommen und schoss ihm zuerst in die Beine. Als Kulenta sich auf dem Boden wälzte, trat er über ihn und schoss ihm in die Brust.

  Die Schüsse hatten das benachbarte Dorf Jozefuw geweckt. Einige Männer liefen auf die Straße und sahen, dass der Hof des Kulenta in Flammen aufging.  Zuerst wusste niemand, was vor sich ging, dann lief der Knecht Jannik Sziporski über die Straße  und schrie: „Die Deutschen setzen unsere Höfe in Brand“. Er begann immer schneller die Straße herunter zu laufen. „Flieht, flieht“, rief er und rannte in Richtung Wald. Doch die Deutschen hatten bereits das Dorf erreicht. Mit voller Wucht rammte ein Reiter den fliehenden Mann, der sofort zu Boden stürzte. Noch ehe er sich erheben konnte, wurde der Knecht mit mehreren Gewehrschüssen aus nächster Nähe getötet.

Stammtafel

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