Dann, am Beginn der vierten Woche, kamen die Deutschen. Jozef und Edmund standen am Zaun des Hofes und beobachteten, wie Soldaten am Horizont erschienen. Ihnen voran wälzte sich eine Wolke aus Staub und Lärm, die Erde bebte, als sich Kampfwagen, Motorräder, Reiter und Infanteristen auf das Dorf zubewegten. An der Spitze des Zuges fuhr ein offener Wagen, auf dessen Rücksitz zwei SS Männer saßen. So vollständig war der Sieg, dass einer von ihnen ungeschützt wie ein Feldherr im Fond des Wagens stand, während der Wagen in das Dorf einfuhr.
Über einen großen Lautsprecher, der auf dem Dach eines Lastwagens montiert worden war, ertönte auf Polnisch der Befehl, dass sich alle Dorfbewohner sofort vor der Kirche zu versammeln hätten. Jede Person müssten Waffen und, falls vorhanden, Rundfunkempfänger mitbringen. Zuwiderhandlungen würden mit sofortigem Erschießen bestraft. Noch während der Durchsage schwärmten die Soldaten aus, liefen durch die Straßen und schlugen mit ihren Gewehrkolben gegen die Türen, um die Bewohner zum Kirchplatz zu treiben.
Nach einer halben Stunde hatte sich die Dorfgemeinschaft vor der Kirche versammelt. Alle waren da, sogar die kranke Jozefa Plewka hatte sich, auf ihren Mann Thomasz gestützt, zusammen mit ihrer Familie eingefunden, ebenso die Woleks mit ihren Kindern. In der Mitte der unruhig wartenden Menge standen der Ortsvorsteher und der Priester, daneben der Dorfschullehrer und samt seiner schielenden Frau. Auch die Bompotschs und die Zumbschs waren anwesend, die zerstrittenen Familien von Georgi Raz und Stefan Bolek, die Suskas und die Joz und sogar die volksdeutschen Bauern hatten sich mit ihrem Anhang auf dem Dorfplatz eingefunden. Anton und Hildegard Kasner und ihre ältesten Söhne, Adam Reinertz und Friedrich Bek standen etwas abseits von der Menge und hatten die Arme vor der Brust verschränkt.
Die deutschen Soldaten waren in einer geraden Reihe und mit entsicherten Gewehren angetreten. Geschrei ertönte aus den Nebenstraßen, dann waren Schüsse zu hören. Offenbar wurden die Häuser nach Waffen und versteckten Personen durchkämmt. Sechs Radios und zwei Dutzend Gewehre waren bereits abgegeben worden, und Leon Wolek fragte sich, ob das wirklich alle waren.
Der kommandierende Offizier, der eben noch aufrecht durch den Ort gefahren war, hatte auf einem Stuhl Platz genommen, den man aus der Kirche geholt hatte. Er war ein noch junger Mann mit schneidend scharfen Gesichtszügen, Bügelfalten in seiner Uniformhose und blank gewichsten Stiefeln. Auf einen Wink von Seiten des Offiziers trat ein Soldat mit einem Megaphon nach vorne und verlas eine Ansprache in polnischer Sprache. „Angehörige des Generalgouvernements“, begann er. „Der Krieg ist vorüber. Polen als Staat hat aufgehört zu existieren. Das Großdeutsche Reich und seine Armee haben die vollziehende Gewalt übernommen. Ihren Anordnungen ist ohne Einschränkung Folge zu leisten.“
Entsetzen auf den Gesichtern der Zuhörer. Polen existierte nicht mehr? Die Menge wurde unruhig, einige Männer ballten die Fäuste.
„Polen wird niemals aufhören zu existieren“, schrie in diesem Augenblick Mikolai Rusk. Er hatte vom geflohenen Samuel Jeschow einen Teil der Wodkavorräte erhalten, war sturzbetrunken und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Wie ein Tänzer, der das Gleichgewicht verloren hatte, hob er die Arme und rief „Es lebe die freie polnische Republik.“
Erschrocken wichen die Umstehenden vor ihm zurück. Auf einen Wink des Offiziers sprangen vier Soldaten in die Menge und zerrten Mikolai Rusk nach vorne. Ehe sich jemand klarwerden konnte, was geschah, zog ein Soldat seine Handfeuerwaffe, hielt sie Rusk an den Kopf und schoss. Der Schädel platze, Blut spritze über den Platz, Mikolaj Rusk brach zusammen. Einige Frauen schrien, die Kinder begannen zu weinen. Fassungslosigkeit auf allen Gesichtern, selbst die volksdeutschen Bauern blickten erschrocken auf den Toten. Rund um Mikolaj Rusk bildete sich eine Blutlache im Staub
Der Offizier sagte etwas zu dem Soldaten mit dem Megaphon. Der nickte und sagte: „Wer Jude ist, vortreten.“
Niemand trat vor.
„Wer Jude ist, vortreten, habe ich gesagt“, schrie der Soldat ins Megaphon. Frederic Kowalski, der Ortsvorsteher, trat vor. Er hob beschwichtigend die Arme und blickte abwechselnd zu dem Offizier und dem Soldaten mit dem Megaphon. „In unserem Dorf lebten nur drei jüdische Bauern und ein jüdischer Schankwirt“, begann er. „Sie haben uns bereits vor einer Woche verlassen und sind nach Osten geflohen.“ Den kümmerlichen Hof von Aaron Goldstyn erwähnte er nicht.
„Wie ist dein Name?“ fragte der Soldat.
„Ich bin Frederic Kowalski, der Ortsvorsteher.“ Kowalski war ein schlanker, hagerer Mann mit einem lang gezogenen Gesicht und sorgsam gekämmten Haaren. Nach einer kurzen Pause deutete er auf seine Frau, die neben ihn getreten war. „Das ist Gerda Kowalski, meine deutsche Frau“, fügte er auf Deutsch hinzu.
Der Soldat mit dem Megaphon zögerte und blickte zu dem Offizier. Der zuckte nur mit dem Schultern und gab eine kure Anweisung.
„Verhaften“, schnarrte der Soldat. „Nur den Mann.“ Ein Stöhnen entrang sich der Menge, als zwei Soldaten den Kowalski an den Armen packten und zu einem der Lastwagen führten. Gerda Kowalski wurde zurückgestoßen, als sie bei ihrem Mann bleiben wollte. Sie zischte dem Soldat etwas auf Deutsch zu, der wandte sich ab.
„Wer ist der Priester in diesem Ort?“ fragte der Soldat. Nach kurzem Zögern hob Watzlaw Kattanski den Arm.
„Verhaften!“ Kattanski wurde zum Kowalski in die offene Rampe eines Lastwagens gestoßen.
„Lehrer, Anwälte und Journalisten vortreten“, befahl der Soldat. Franciscek Kattanski erstarrte und rührte sich nicht. Seine schielende Frau begann zu zittern
„Vortreten!“ schrie der Soldat ins Megaphon. „Ich sage es nicht noch einmal.“ Mit gesenktem Kopf trat Franciczek Kattanski nach vorne.
„Wer bist du?“ fragte der Soldat. „Ich bin der Dorflehrer Franciszek Kattanski“,
„Verhaften“
In diesem Augenblick ertönte ein Schuss. Dann das Knattern eines Maschinengewehrs, deutsche Stimmen, ein Schrei. Niemand wusste, was geschehen war. Brandgeruch lag in der Luft, ein Haus war angezündet worden.
Ungerührt fuhr der Soldat fort und sprach weiter in sein Megaphon. „Befinden sich volksdeutsche Bauern in diesem Dorf?“
Kasner, Reinertz und Bek traten vor. Der kommandierende Offizier hob die Hand und winkte die volksdeutschen Bauern zu sich.
„Alle anderen gehen jetzt zurück in die Häuser“ schloss der Soldat. „Innerhalb der nächsten drei Tage melden sich alle Bewohner dieses Dorfes bei der Kommandantur in Kock. Bringt eure Pässe mit. Ihr erhaltet dann neue Papiere. Die letzten Erntearbeiten und alle anderen Arbeiten werden ab Morgen ohne Verzögerung fortgesetzt.“ Nach eine kurzen Pause fügte er hinzu: „Haltet euch an die Anweisungen der Militärverwaltung, dann wird euch nichts geschehen. Und nun geht.“
So begann die deutsche Besetzung des Dorfes Zakepie. Zwei Häuser am Ortsende brannten ab, und niemand wusste, warum in ihnen Feuer gelegt worden war.
Watzlaw Kattanski und sein Vetter Francisczek wurden noch in der folgenden Nacht mit ein undzwanzig Beamten, Lehrern und Priestern aus den umgebenden Orten im Keller des Amtshauses von Lukow erschossen.
Frederic Kowalski aber kam nach drei Tagen zurück. Sein Kopf war verbunden, Über seinem rechten Auge prangte ein Bluterguss. Zwei Finger waren ihm gebrochen worden. Als man ihn fragte, was mit ihm geschehen sei, schüttelte er nur den Kopf, und verschwand, auf seine Frau gestützt, in seinem Haus.