Leseprobe Kapitel 2: Die Dürre

So vergingen die Jahre. Die ältesten Einwohner des Dorfes starben, wenn ihre Zeit kam. Ausgemergelt wie Pflanzen, die kein Wasser mehr aufnehmen können, fuhren sie in die Grube. Enkel und Urenkel wurden geboren, manche von ihnen überlebten die ersten Lebensmonate nicht, die meisten aber wuchsen heran und hüpften bald wie kleine Lämmer durch das Dorf. Der Priester Watzlaw Kattanski hatte eine neue Haushälterin eingestellt, und ohne dass man wusste, warum, wurden seine Predigten freundlicher. Franciszek Kattanski rief die Polizei, weil man ihm seinen Lehrerstock gestohlen hate, doch die Täter konnten nicht ermittelt werden. Einmal in der Woche erschien der Hausiererjude aus Adamow, um seinen Krimskrams anzubieten, einmal im Monat folgte ihm der Kreditjude aus Lukow, um die Zinsen zu kassieren.  Zweimal im Jahr kam der Medicus, um in der Schule seine Sprechstunde zu halten, und einmal im Jahr klopfte der Finanzvorsteher aus Lukow an die Türen der Häuser, um die Höhe der Steuern zu schätzen. 

  So  regelmäßig wie der Ostwind die Wolken über das Land trieb, kamen und gingen die Jahreszeiten.  Auf die langen, harten Winter folgte ein kurzes Frühjahr, ehe die Gluthitze  des Sommers über die Erntearbeiter hereinbrach. Kurz und golden beleuchtete die Herbstsonne die Wiesen und Felder von Zakepie, bis es wieder kalt und dunkel wurde und alles von Neuem begann.  

  Auf den ersten Blick schien sich das dörfliche Leben im polnischen Osten genauso wenig zu verändern wie die Topolabäume, die immer gleich die langen Wege nach Lukow säumten. Aber nur auf den ersten Blick, denn in Wahrheit begann der scheinbar so feste Grund, auf dem das ländliche Leben ruhte, zu bröckeln.

  Ende der Zwanziger Jahre, noch bevor im fernen New York die Aktienhändler von den Fensterbänken der Wall Street in den Tod sprangen, sanken die Preise für Roggen, Weizen und Hafer, und keiner wusste, warum. Die  Juden verlangten plötzlich höhere Zinsen, wenn sie den polnischen Bauern das Saatgut finanzieren sollten, und zu allem Unglück folgte ein Dürrejahr auf das nächste. Im zweiten Jahr der Dürre fielen die Ströche tot aus ihren Nestern, die Ratten kamen aus den Kellern, um im Hellen nach Nahrung zu suchen. Bettler, die man noch nie gesehen hatte, zogen in Scharen durch das Land, klopften an die Türen und baten im Namen der Jungfrau um eine Kartoffelpelle oder eine alte Rübe. In der Nachbargemeinde Serokomla brach die Tuberkulose aus, und voller Angst versperrten die Menschen am Abend ihre Katen, als wäre die Kranheit ein Gespenst, das nur durch die offenen Türen ins Haus kommen könnte. 

  Wohin man auch blickte, langsam aber sicher schien die Welt aus den Fugen zu geraten. Im fernen Warszawa kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, Politiker fielen Attentaten zum Opfer, ein Komet erschien am Himmel, und die alte Gontasch sagte: „Das Ende der Welt ist nahe!”  Noch furchtbarer aber war, was aus der  benachbarten Ukraine und aus Weißrussland berichtet wurde.  Gottlose Kommunisten hatten ein Regiment errichtet, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte. Sie enteigneten die Bauern, raubten ihnen das Vieh und das Saatgut und überließen sie ihrem Schicksal.  Zwischen Minsk und Odessa brach eine beispiellose Hungesnot aus. Nicht einen Krumen Brot gab es mehr zu essen, und in ihrer Verzweiflung verschlangen die  Menschen Gras und Blätter und versündigten sich an den Leibern der Toten.

  Überall regte sich der große Satan in vielerlei Gestalt, was nach der Meinung des Dorfpfarrers Watzlaw Kattanski das Strafgericht dafür war, dass sich die Menschen von Gott abgewandt hätten.  Wie ein zerzauster Engel des jüngsten Gerichts stand der dürre Gottesmann auf der hölzernen Kanzel der Dorfkirche und wies anklagend auf seine Gemeinde, als  sei sie für die Verdüsterung der Weltlage verantwortlich. „Tut Busse, tut Busse,” kreischte er, und seine Schäflein nickten, obwohl sie gar nicht recht wussten, was sie verbrochen hatten oder wie sie Buße üben sollten. Nur Thomasz Kaminski saß verstockt in der Kirchenbank und dachte an die glücklichen Tage, als der Hafer im Saft gestanden und ihm die dralle Anjela die Nächte versüßt hatte.

  Am nächsten Tag, als Thomasz Kaminski bei seiner Bank in Lukow etwas Geld abheben wollte, um die anstehende Wallfahrt nach Czenstochau zu unterstützen, war die Bank geschlossen.   Von einem auf den anderen Tag waren die Auslagen,  die Plakate und selbst die Angestellten hinter den Tresen verschwunden. Der Bank war das Geld ausgegangen, sagten die einen, weil zu viele Leute ihre Guthaben abheben wollten. „Die Juden sind schuld”, meinten die anderen. Doch wer immer auch die Schuld am Zusammenbruch der Bank trug, Thomasz Kamninski verlor auf einen Schlag alle seine Ersparnisse und musste froh sein, dass Itzak Meyer, der Mühlenjude von Adamow, ihm das Saatgut für das nächste Jahr vorfinanzierte.  

    So verging die Zeit, ohne dass es besser wurde. Bei den meisten Familien verschwand zuerst das Sonntagsfleisch von den Tellern, dann wurde das Brot gestreckt. Rüben und Zwiebeln wurden zu Hauptspeisen am bäuerlichen Tisch, ehe man dazu überging, aus den Kartoffellpellen, mit denen man früher die Schweine gefüttert hatte, dünne Suppen zu kochen. Immer quälender machte sich der  Hunger in den Dörfern bemerkbar, ein ungebetender Gast, dessen Anwesenheit mit  Magenwürgen und Zwangsvorstellungen von Bigosz und Piroggi einher ging. Das war schlimm, aber noch schlimmer war, dass der Hunger einen Begleiter hatte: die Angst. Sie kroch durch die Gassen, drang durch die Ritzen der Häuser in die Schlafzimmer der Menschen ein und verfolgte sie bis in ihre Träume. Alte Frauen saßen mit ihren Rosenkränzen vor ihren Häusern und sprachen ihre Gebete. „Oh Jungfrau Maria, du Gnadenreiche,  hab Erbarmen”,  murmelten die alte Gontasch, bis der Hunger so übermächtig wurde, dass sie vom Hocker fiel. 

  Bald ergriff der allgemeine Niedergang auch die Juden. Geldverleiher in Lublin und Lukow machten Bankrott, weil ihre polnischen Schuldner ihre Raten nicht mehr bezahlen konnten. Als Benjamin Cohn aus Adamow das Haus eines Polen in Czarna pfänden lassen wollte, weil er seine Schulden nicht bezahlen konnte, rottete sich eine Menge zusammen und schlug den Juden tot. Bestraft wurde niemand für diesen Mord, denn die Polizei zeigte sich außerstande, die Täter zu finden.  Auf dem Markt von Lukow wurde die Marktstände der Juden ausgeraubt. Jüdische Bauernhöfe in der Umgebung von Serokomla wurden überfallen, und in Zschliepe brannte der Hof eines Juden bis auf die Grundmauern nieder, ohne dass man die Brandstifter ermitteln konnte. Selbst Aaron Goldstyn, einem der ärmsten jüdischen Bauern in Bielnay, wurde die Scheune demoliert.   

  Nur eine Bevölkerungsgruppe schien vom allgemeinen Niedergang nicht betroffen zu sein: die deutschen Bauern. Sie saßen an den Rändern von Zakepie, in Jozefuw, Serokomla und Adamow auf ihren sauberen Höfen und bewirtschafteten ihre Ländereien mit Hilfe polnischer oder ukrainischer Knechte. Vielleicht lag es daran, dass sie ihren Arbeitern nur Hungerlöhne zahlten und keinerlei Schlendrian duldeten, vielleicht auch daran, dass sie ihre Erträge nicht über den jüdischen  Zwischenhandel sondern durch eigene Handelsgesellschaften verwerteten. Immerhin verwendeten sie moderne Dreschmaschinen, von denen niemand wusste, wie sie funktionierten und wie sie bezahlt worden waren. Die Deutschen mussten mit dem Teufel unter einer Decke stecken, denn das Fleisch ihrer Rinder erzielte höhere Preise, die Eier, die ihre Hühner legten, waren grösser, ihre Häuser stabiler, und selbst der Käse, den ihre Frauen schlugen,  schmeckte besser als der polnische. Viele Meinungen wurden dazu in der Dorfschänke von Samuel Jeschow geäussert, und je intensiver der Wodka floss, desto abenteuerlicher  wurden die Mutmaßungen. Schliesslich war man sich darüber einig, dass es den deutschen Baudern nur deswgen besser ging, weil sie auf den besten Böden saßen,  wobei es sich von selbst verstand, dass sie diese Böden nur durch Lug und Trug an sich gebracht haben konnten.  

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