Anfang der 1920er Jahre im Osten Polens: Vorstellung des Dorfes Nowolipie und der Familie Kaliński. Die älteste Tochter Maria Kalińska wächst heran und besucht die Dorfschule
Irgendwo in Polens Osten, hinter Warschau und vor Lublin, abseits der großen Städte und Durchgangsstraßen, lag das Dorf Nowolipie. Es war ein Dorf, wie es damals Tausende gab, eingebettet in eine flache Landschaft, die einer grünen Scheibe glich, deren Ränder sich am Horizont verloren. Topolabäume, Trauerweiden und Linden säumten schmale Wege, die an kleinen Höfen und Dörfern vorüberführten. Die Häuser waren aus Lehm und Holz gebaut und ebenso wie die Viehställe mit Stroh gedeckt. In den Küchen, in denen sich der Rauchfang befand, versammelten sich die Familien und aßen Kartoffeln mit Gris, Pilze mit Eiern und an den Feiertagen manchmal auch einmal ein Stück Fleisch. Rund um diese Dörfer lagen die Felder, flach dahingesteckt unter einem grenzenlosen Himmel, doch bei weitem nicht so fruchtbar wie die Böden in der benachbarten Ukraine. Kartoffeln und Getreide wuchsen auf diesem sandigen Grund, und mit einiger Mühe und Geduld war es möglich, Obst und Gemüse zu ernten. Jedes Frühjahr zogen schwarze Wolken von Südosten her über das Land und brachten den Regen, den die Bauern brauchten, manchmal aber auch Stürme, die die Ernte bedrohten.
Wenn die Madonna den Dörflern gnädig war, dann begannen die Bauern Anfang Juli mit der Ernte, mähten im Schweiße ihres Angesichts das Getreide, während ihre Frauen und Kinder hinter ihnen hergingen, um die Garben zu binden. Dreschmaschinen, die die Spreu vom Weizen trennten, gab es noch nicht, so dass das getrocknete Heu mühsam gedroschen werden mussten, um das Korn zu gewinnen, das in den Mühlen von Balanow gemahlen wurde.
Alle paar Jahre vernichtete eine Dürre die Ernten, dann wurden die Mehlvorräte gestreckt, die Suppen verdünnt und die Gürtel enger geschnallt. Nur im Opferstock der Dorfkirche klingelte es dann lebhafter, denn irgendwie musste die verstimmte Muttergottes wieder besänftigt werden.
Im Herbst zogen alte Mähren die Pflüge über das Land, um die Erde für die neue Aussaat vorzubereiten. Krankheiten wie die Cholera und die Tuberkulose gingen zurück, der Jungfrau von Częstochowa sei Dank. Im Winter knirschten die Dächer unter der Last des Schnees, und aus den Kaminen stieg grauer Rauch in den Himmel. Manch ein Bauer, der sich im Halbdunkel der winterliche Tage einsam fühlte, verfiel dem Wodka, andere beteten beim flackernden Schein ihrer Kerzen zur Madonna, um der Versuchung zu widerstehen.
Dann wurde es Frühjahr. Der Schnee schmolz, und bald erschienen die ersten Störche und bauten ihre Nester auf den Dächern und Scheunen. Pferde, Kühe, Schweine und Hühner waren die Gefährten der Menschen bei dieser Reise durch die Jahreszeiten. Nur bei den Juden von Balanow und Ruków fehlten die Schweine, dafür liefen ausgemergelte Ziegen über ihre Höfe. Einzig die deutschen Bauern, die am Rande der Dörfer von Nowolipie, Balanow, Rodonowa, Bedrewski und Komla siedelten, hatten alles: Kühe, Rinder, Schweine und Ziegen – und auch noch Steinhäuser. Konnte das wirklich mit rechten Dingen zugehen?
Das war die Welt, in der am Anfang der Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts Maria Kalińska geboren wurde, das älteste Kind des Bauern Feliks Kaliński und seiner Frau Józefa. Getauft wurde die kleine Maria von Wacław Kattański, dem Priester der Dorfkirche von Nowolipie. Wacław Kattański war bereits als junger Mann ins Dorf gekommen und leitete seine Pfarrer nun schon seit mehreren Jahrzehnten. Mit seinen hochgezogenen Augenbauen und seinen lefzenartigen Hängebacken glich er einem aufmerksamen, mürrischen Hund, dem keine Regung in seiner Umgebung entging. Er kannte die großen und die kleinen Süden der Dörfler und hatte sich im Laufe der Jahre angewöhnt, nach der Devise zu verfahren „Gebt Gott, was Gottes ist und dem Bauern, was des Bauern ist.“ Wie sein Vetter, der Dorfschullehrer Franciszek Kattański, war er ein glühender Patriot, der keine Gelegenheit versäumte, seinen Gemeindemitgliedern die Glorie der Zeit vor Augen zu führen, in der sie leben durften.
„Seht dieses Kind“, sprach er, „in welch eine erwartungsvolle Zeit ist es hineingeboren worden. Unser polnisches Vaterland ist wie ein Phönix auf den Schlachtfeldern der Völker wieder erstanden. Die Kaiserreiche Deutschland, Österreich und Russland sind zuschanden gegangen, doch Polen ist in die Geschichte zurückgekehrt, grösser und mächtiger als jemals zuvor, um unter dem Zeichen des Kreuzes seinen angemessenen Platz im Kreis der Völker einzunehmen.“
Marias Vater Feliks Kaliński hielt die kleine Maria in den Armen und war einverstanden mit dem. was der Priester sagte. Allerdings hatte er anders als der Gottesman die Irrungen und Wirrungen miterlebt, die zur nationalen Wiedergeburt geführt hatten. Feliks Kaliński hatte im ersten Weltkrieg als polnischer Soldat in der russischen Armee gekämpft. Er hatte die ersten Kriegsjahre miterlebt, den russischen Einmarsch in Ostpreußen und die schmähliche Niederlage an den Masurischen Seen. Im letzten Kriegsjahr war er aus der russischen Armee desertiert, um sich den Truppen General Piłsudskis anzuschließen, die gegen die Deutschen kämpften. Als Infanterist der neu entstandenen polnischen Armee hatte er sich am erfolreichen Abwehrkampf gegen die Bolschewiken an der Weichsel beteiligt. Dann war Feliks Kaliński heimgekehrt, siegreich und ehrenvoll entlassen, um in Nowolipie den Hof seiner verstorbenen Eltern zu bewirtschaften.
Feliks Kaliński war nicht groß, aber kräftig. Er besaß einen klaren Verstand und kurze, flinke Beine, mit denen er den Weg zwischen Nowolipie und Balanow in einer halben Stunde zurücklegen konnte. Mit seinen kugelrunden Augen, seinen tapsigen Bewegungen und seiner starken Körperbehaarung glich er einem zotteligen Bären, besaß Schlagfertigkeit und Mutterwitz und wusste mit den Mädchen des Dorfes so gut umzugehen, dass ihm manch eine schöne Augen machte. Zur allgemeinen Überraschung erwählte er jedoch Józefa Rewka zur Gattin, eine junge Frau ohne besondere Reize. Sie war hager wie ein Drahtesel, besaß eckige Knochen, blasse Haut und ein fliehendes Kinn. Kochen konnte sie nur das Nötigste, Brot backen war ihr ein Gräuel, und die Einmachgläser verschloss sie so nachlässig, dass das Obst mitunter über den Winter verdarb. Aber sie brachte eine fette Mitgift mit in die Ehe, genauer gesagt, jene Landparzelle, nach der die Familie Kaliński zur Abrundung ihres eigenen Besitzes schon lange gierte. Immerhin war Józefa gutmütig und fromm, so fromm, dass sie fast täglich den Rosenkranz betete, ganz gleich, ob Wallfahrtszeit war oder nicht. Keine Messe ließ sie aus, und wenn der Bischof von Lublin in der Gegend war, reiste sie nach Ruków um seinem Gottesdienst beizuwohnen. Während der Woche versorgte sie entweder ihre Hühner und ihr kleines Erdbeerenfeld oder saß am großen Holztisch vor einem Herbata und blickte durch das Küchenfester, ob nicht ihr Bruder Marek zu Besuch käme.
Marek Rewki war ein Jahr älter als seine Schwester Józefa, aber noch immer unverheiratet. Was bei Józefa kantig wirkte, erschien bei Marek männlich, wo Józefa betete, lachte und tanzte ihr Bruder, wann immer sich dazu Gelegenheit bot. Mit dem Vater Wiesław Rewki hatte sich Marek überworfen, weil er nicht davon lassen wollte, in den Judenspelunken von Ruków zu verkehren. Schließlich war Marek enterbt worden, so dass ihm nichts weiter übrig geblieben war, als sich bei einem jüdischen Zwischenhändler in Ruków als Ladengehilfe zu verdingen.
Feliks Kaliński nahm seine Familie wie sie war, seine Frau, seine kleine Tochter, seinen fidelen Schwager und den alten Wiesław Rewki, der langsam wunderlich im Kopf wurde, und arbeitete von morgens bis abends auf den Feldern. Die Tomaten und Gurken, die Erdbeeren und Eier, die Milch und das Korn, die Zwiebeln und die Würste, die er nicht selbst verbrauchte, verkaufte er über seinen Schwager Marek an den jüdischen Zwischenhändler. Sein nicht genutztes Land überließ er seinen Nachbarn für eine ordentliche Pacht, und das Geld, das auf diese Weise zusammenkam, brachte er nach Ruków auf die Bank. Da die Familie sparsam lebte und Józefa Kalińska nur die einfachsten Speisen zubereitete, reichte es bald für den Kauf neuer Felder, für die Anschaffung eiserner Pflüge samt Zugvieh und neuer Pferdewagen. Schließlich wurde er so wohlhabend, dass er das Holzhaus seiner Eltern durch ein Steingebäude ersetzte und mit einem ordentlichen Schieferdach versah. Nach einigen Jahren war sein Hof so groß geworden, dass er Landarbeiter anstellte und sich nach einer Magd zur Entlastung seiner Gattin umsah.
Die junge Frau, die er anstellte, hieß Anjela und war eine Waise aus Kolonka. Sie war ein junges, dralles Ding mit Augen wie Schmetterlingsflügel, die dem Kalińskibauern auf der Stelle gefiel. Kein Wunder, dass sie ein eigenes Gesindezimmer in der Parterre erhielt, zu dem der Herr des Hauses einen Zweitschlüssel besaß. Da er diesen Schlüssel regelmäßig nutzte, ohne dass seine fromme Gattin etwas merkte, schien sich Feliks Kalińskis Leben ins Vollkommene zu runden. Arbeit, Familie, die richtige Menge Schnaps auf einer Dorfhochzeit und gelegentliche Besuche bei der drallen Anjela bereicherten sein Leben mit jener Art von Fülle, auf die er als hart arbeitender Bauersmann einen Anspruch zu haben glaubte. Und da ihm Watzław Kattański, der Dorfpfarrer, für die eine oder andere Extraspende regelmäßig Absolution erteilte, war auch vor dem Allerhöchsten alles in Ordnung.
Die kleine Maria wuchs heran, war anstellig und fügsam und immer bestrebt, die notleidende Mutter von der häuslichen Arbeit zu entlasten. Sie war noch keine vier Jahre alt, da lernte sie schon die Eier einzusammeln, ohne die gackernden Hühner zu beachten. Sie sammelte die Brennnesseln, aus denen die Mutter, mit Ei vermischt, die Nahrung für die Küken erstellte. Bald versorgte Maria auch die Schweine, die sie wie fette Trolle aus den Tiefen des Stalles angrunzten, und am Ende wagte sie sich sogar an die Kühe heran. Die drei Kühe, die Feliks Kaliński besaß, hießen Hilda, Giesa und Rotunda, hatten wunderschöne Augen und einen warmen Bauch, an die sich Maria, wenn ihr kalt wurde, gerne wärmte. Als hätten sie Mitleid mit dem winzigen Wesen, das sich ihnen mit dem Melkeimer näherte, hielten sie still, wenn sich das Kind an ihnen zu schaffen machte.
Die Mutter wurde unterdessen immer bleicher, weinte viel und gab dem Vater sogar das eine oder andere Widerwort. Mal klagte sie über die Faulheit der Magd, mal pries sie die Madonna, dass sie ihr eine so tüchtige Tochter geschenkt hatte, nicht ohne sich insgeheim darüber zu wundern, wie sie ein solches Kind hatte zur Welt bringen können. Ganz anders war es, wenn Onkel Marek zu Besuch kam. Marek Rewki war inzwischen zum Handelsvertreter für Textilien in Ruków aufgestiegen. Im Auftrag seines jüdischen Arbeitgebers reiste zu den Fachmessen in Warschau und Łódź, verdiente gutes Geld und besuchte seine Schwester in modischen Hosen, über die die Nachbarn kicherten. Wenn Marek Rewki im Haus war, lachte Józefa Kalińska aus vollem Hals, und auch Maria freute sich, denn der Onkel brachte immer ein Geschenk mit, eine kleine Brosche, eine Anstecknadel oder wenigstens eine Blume aus Plastik, die Maria eine Zeitlang an ihrer Schürze trug.
Maria Kalińska war sieben Jahre alt, als ihr Bruder Ryszard geboren wurde, ein Prachtkerl von Kind, bei dessen Geburt Józefa Kalińska fast gestorben wäre. Der Dorfpriester Watzław Kattański war bereits zur letzten Ölung gerufen worden, so kraftlos lag die Mutter im Bett. Doch dann brachte die alte Górska ein hölzernes Abbild der Schwarzen Madonna von Częstochowa ins Haus, legte es der Kranken eine Nacht lang unter das Kissen, und siehe, die Mutter kam wieder zu Kräften. Der kleine Ryszard, der seine Mutter an den Rand des Todes gebracht hatte, besaß eine rosige Haut und so dankbare kleine Augen, dass Maria ihren Bruder bald noch mehr liebte als Hilda, Giesa und Rotunda.
Józefa Kalińska aber stellte nach der Geburt des Sohnes alle Tätigkeiten im Haus ein. Sie kochte nicht mehr für ihren Mann, ging nicht mehr aufs Erdbeerfeld und setzte keinen Schritt mehr in den Stall. Stattdessen begann sie die Magd Anjela zu kontrollieren, entdeckte Nachlässigkeiten und zeterte über Faulheit und Verschwendungssucht. Anjela, die sich während ihrer Dienstzeit auf dem Kalińskihof prächtig entwickelt hatte und fast jeden Monat mit einer neuen Schürze durch das Haus lief, ließ sich das nicht gefallen. Es kam zu lauten Szenen, Heulerei und Gekreische zwischen Herrin und Magd, bis Feliks Kaliński mit seiner Bauernfaust auf den Tisch schlug und in die Wodkaschänke Samuel Jeschows floh.
Diese Schänke befand sich am östlichen Dorfausgang und war nicht mehr als eine Bretterbude aus alten Holzlatten, über die ein Blechdach gelegt worden war. Hinter einer knarrenden Türe gab es eine Holztheke, an der Samuel Jeschow Hirsebier und Wodka ausschenkte. Samuel Jeschow war ein Jude aus Minsk, der überhaupt nicht aussah wie ein Jude, sondern wie ein waschechter Pole: breit, stark und kahlköpig. Stammgäste seiner Spelunke waren Kacper, der Erste Dorftrinker, Alka Skipp, der Zweite Dorftrinker und Anatoli Mazurek, ein Knecht des deutschen Radlerhofes, der immer, wenn er sich über den Hofbauern geärgert hatte, sich bei Samuel Jeschow volllaufen ließ. Die Gesellschaft dieser Gesellen konnte Feliks Kaliński nur betrunken ertragen, weil er dann sentimental und nachsichtig wurde. Schau dir den Kacper an, dachte er dann. Das ist doch genau so ein armer Hund wie der junge Mazurek, der immer nur wütend ist und der ehemalige Bauer Alka Skipp, der nach einer Flasche Wodka regelmäßig in Tränen ausbricht. Genaugenommen war er selbst, der Kaliński, doch auch ein armer Hund, mit einem Drahtesel als Weib geschlagen und von den Launen einer Magd traktiert, die unablässig nach Geschenken verlangte. Kaliński ließ eine Flasche Wodka kommen, schenkte seinen Kumpanen ein und schimpfte über die Weiber. Die Hässlichen verdunkelten das Angesicht der Erde, und die Schönen das Gemüt der Männer. Es war ein Jammer.
Als Feliks Kaliński mitten in der Nacht nach Hause kam, fand er den Schlüssel für die Gesindestube auf den Küchentisch. Die Magd Anjela hatte das Haus verlassen, nicht ohne eine Ledertasche als Ausgleich für den ausstehenden Lohn mitzunehmen.
Es dauerte etwas, ehe Feliks Kaliński die ganze Tragweite seines Verlustes begriff. Die Magd Anjela fehlte ihm mehr, als er jemals geglaubt hätte, und er entdeckte zu seinem Schrecken, wie sehr sich sein träges Bauernherz an die Gegenwart der schönen Magd gewöhnt hatte. Wer hätte gedacht, wie langweilig und öde sich die Tage dahinziehen konnten, selbst wenn sich Hof und Scheune in allerbestem Zustand befanden? Außerdem ließ sich eine neue Magd nicht finden, entweder war sie dem Kaliński zu hässlich oder seiner Frau zu schön, so dass schließlich die alte Górska für ein paar Zloty ins Haus kam, um einmal am Tag für die ganze Familie zu kochen. Maria lernte von der alten Górska, wie man eine Suppe kochte und Gris, Kartoffelbrei, Bigos, und Piroggi zubereitete. Nur mit dem Brotbacken haperte es noch etwas, bis Onkel Marek ihr an einem langen Nachmittag sein Geheimrezept veriet. Nicht zu viel Mehl, dafür mehr Salz, nur dass nicht immer Salz im Hause war, weil sich die alte Górska über Gebühr aus den Salzvorräten bediente.
Inzwischen war Maria alt genug geworden, um die Dorfschule von Nowolipie zu besuchen. Schon im letzten Jahr hatte sie ihre Freundin Sonja Belek beneidet, die etwas älter war und stolz mit einem kleinen Lederranzen vor dem Hof der Kalińskis auf und ab spazierte, um Maria zu ärgern.
Die alte Dorfschule von Nowolipie befand sich in der Nähe der hölzernen Dorfkirche und bestand aus einem einzigen großen Raum, in dem alle Kinder gleichzeitig unterrichtet wurden. Wenn außerhalb der Erntezeit alle Schüler anwesend waren, saßen etwa dreißig Jungen und Mädchen zwischen sechs und zwölf Jahren im Raum, meistens verteilt auf einige Tische, an denen sie in der Bibel lesen übten oder sich anderweitig beschäftigten.
Die auffälligsten Erscheinungen in diesem Klassenraum waren die Brüder Henryk und Boris Górski, die Enkel der alten Górska. Von weitem hätte man sie für Zwillinge halten können, aber wenn man näher hinsah, erkannte man die Unterschiede. Henryk Górski war ein Jahr älter, hatte dünnes Haar und einen Büffelkopf. Sein Bruder Boris war schlanker und größer. Außerdem besaß er eine klaffende Lücke in seiner oberen Zahnreihe, die er sich bei einer Schlägerei zugezogen hatte.
Die meisten Kinder in der Dorfschule waren unter zehn Jahre alt, viele von ihnen kannte Maria vom Spielen auf dem Dorfplatz, etwa Edmund und Józef Kołek, zwei verrufene Rabauken, die sich ständig stritten, aber wie Pech und Schwefel zusammenhielten, wenn sie ein Dritter angriff. Elżbieta Bronczek wohnte zwei Höfe weiter und heulte die ersten drei Schultage lang, weil sie ihre Matka vermisste. Paulina Grzesiak und Liliana Lubow fanden sich in der Schule gut zurecht, zankten aber den ganzen Tag. Unter ihren Mitschülern waren auch einige jüdische Jungen und Mädchen aus Balanow, von denen Maria niemanden kannte. Auch volksdeutsche Jungen saßen in der Klasse, ganz vorne rechts vor dem Pult des Lehrers. Sie hießen Lutz, Martin und Georg Bek und sahen genauso aus wie die polnischen Jungen, ebenso blond und schlank, vielleicht etwas adretter angezogen, auf jeden Fall aber eingebildeter, weil sie sich demonstrativ von den anderen Mitschülern absonderten.
Das galt nicht für Oleg und Edwin Kowalski, die Söhne des Ortsvorstehers Fryderyk Kowalski und seiner deutschen Frau Gerda. Von ihnen hieß es, sie seien sowohl Deutsche wie auch Polen, was Maria wunderte, denn wie konnte etwas zweierlei zugleich sein? Ein Kuh war doch eine Kuh und eine Ziege eine Ziege, wie konnten denn Oleg und Edwin zugleich Polen und Deutsche sein?
Der Klassenraum bestand aus einer alten Tafel und einer Menge Pulte und Stühle, auf die Kinder so viel geschaukelt hatten, dass sie jeden Augenblick zusammenzukrachen drohten. Eine Seite des Klassenraums wurde durch eine Fensterfront begrenzt, die fast immer offen stand, um den Stallgeruch aus den Kleidern der Schüler zu vertreiben. Manchmal verschwand ein Schüler aus dem Fenster, ohne dass der Lehrer davon Notiz nahm, oder die Köpfe der Dorftrinker Kacper und Alka Skipp tauchten auf und schnitten so lange Grimassen, bis die Kinder in lautes Gelächter ausbrachen.
Der Dorfschullehrer Franciszek Kattański, ein Vetter des Dorfpfaffers Watzław Kattański, war ein alter Schrat, der immer in der gleichen Hose unterrichtete, nach Urin und Fusel roch und sein Reich ausschließlich mit dem Rohrstock regierte. Franciszek Kattański war wegen seiner schwachen Nerven vom Kriegsdienst zurückgestellt worden, hatte aber die Wiedergeburt Polens mit Begeisterung begrüßt. Wie alle Polen war er ein Bewunderer Präsident Piłsudskis, der endlich in Warschau die Macht übernommen hatte. Außerdem war er Mitglied der patriotischen Partei, die dafür eintrat, Schlesien, Pommern, Ostpreußen und Litauen wieder mit Polen zu vereinigen. Die Säulen seiner vaterländischen Pädagogik waren Vorträge und Dresche, aber in so rätselhafter Durchmischung, dass seine Schüler nie wissen konnten, wann eine Ansprache und wann eine Tracht Prügel fällig war. Was Kattański seinen Schülern am liebsten erzählte, waren Episoden über die großen Helden der polnischen Geschichte, von Mieszko dem Alten, dem Vater der Nation, oder von der Rettung des Abendlandes vor den Türken durch den großen König Jan Sobieski vor Wien.
Innerhalb des Unterrichts erhielten die jüdischen Schüler aus Balanow die meiste Dresche, obwohl sie sich am besten aufführten. „Ha, frecher Bengel, was schaust du mich so an?” rief der Dorfschullehrer, wenn ihm danach war, und ließ seinen Stock auf den Rücken eines jüdischen Knaben niedersausen. Martin und Lutz Radler, zwei der deutschstämmigen Jungen, benahmen sich dagegen patzig und gähnten laut, wenn Franciszek Kattański zu seinen patriotischen Vorträgen anhob. Kam ihnen der Dorflehrer zu nahe, riefen sie: „Wenn Sie mich schlagen, dann sage ich es meinem Vater,” was meistens hinreichte, das Mütchen des Kattański zu kühlen. So weit ging sein Zorn denn doch nicht, dass er es riskieren wollte, von einem der Knechte eines volksdeutschen Bauern verprügelt zu werden.
So blieb dem Dorfschullehrer nichts anderes übrig, als sich auch an den polnischen Schülern schadlos zu halten, obwohl es doch gerade die Polen waren, die seiner Auffassung nach das Salz der Erde darstellten. Hatte er einen Übeltäter ausgemacht, zog er ihn an den Haaren aus der Bank, bis dieser mit weit aufgerissenen Augen und mit schmerzverzerrtem Gesicht neben ihm stand. „Benimmt sich so ein Pole?” brüllte er dann, um den Kopf seines Opfers an den Haaren hin- und herzureißen. „Nein, nein” jammerte dann Bertram Joz, ohne zu wissen, wie sich ein Pole nach Auffassung seines Lehrers denn verhalten sollte. Karol Suska, der ängstlichste aller Schüler, geriet in Panik, wenn sich ihm der Lehrer näherte. sprang auf und floh, was den Kattański rasend machte, so dass er den Jungen besonders ausgiebig verdrosch, sobald er seiner habhaft wurde. Piotr Brosz aus Kolonka war der einzige polnische Schüler, der Zeichen von Widerstand zeigte. Er knurrte dann leise und drohend wie ein gereizter kleiner Hund und zwar umso lauter, je stärker der Lehrer ihn schlug, so dass Kattański mitunter von ihm abließ.
Die Vermittlung der Buchstabenschrift und des Einmaleins oblag Magda Kattańska, der schielenden Gattin des Dorfschullehrers, die die Schüler das ABC bis zur Besinnungslosigkeit abschreiben und laut durch die Klasse brüllen ließ. Auch Magda Kattańska erhielt vom Pädagogen dann und wann eine Abreibung, wobei niemand wusste, warum, denn sie war ihrem Mann hündisch ergeben. Als Hausmeisterin der Schule gehörte es zu ihren Aufgaben, im Winter den Klassenraum zu heizen, was sie aber nur selten tat, um Kohle für den Eigenverbrauch zu sparen.
Maria kam im Laufe des ersten Schuljahres mit zwei Ohrfeigen davon, und auch die erhielt sie nur, weil sie dem Dorfschullehrer bei einer überraschenden Attacke auf Marta Buruwska in die Quere gekommen war. Das Lernen der Buchstaben fiel ihr leicht, und bald konnte sie die Namen ihrer drei Lieblingstiere Hilda, Giesa und Rotunda bereits in ihr Heft schreiben. Ihre Sitznachbarin Sura Bieloch aber war noch schneller im Lernen, ihre Buchstaben waren schöner, ihr Heft war sauberer, was Maria wunderte, weil sie nicht herausfinden konnte, wie Sura das machte. Sura hatte pechschwarze Haare, dunkle Augen mit langen Wimpern und einem so in sich gekehrten Blick, als schliefe sie gleich ein, wo sie doch in Wahrheit hellwach war. Ihre Kleidung war peinlich sauber und sorgfältig geplättet, dazu trug sie stets eine kleine silberne Brosche an ihrer Bluse. Das wunderlichste an ihr aber war ein kleines Grübchen auf ihrem Kinn wie ein Zeichen dafür, dass sie etwas Besonderes war. Suras Haut war marmorfarben, und ihre Stimme so erstaunlich dunkel, als gehöre sie zu einer erwachsenen Frau. Wenn aber gesungen wurde, was in der Klasse Franciszek Kattańskis gelegentlich vorkam, klang Suras Stimme so süß und zugleich wehmütig, dass Maria weinen musste. Eine Zeitlang wunderte sich Maria, dass die anderen Kinder den Kontakt zu Sura Bieloch mieden, bis sie erfuhr, dass Suras Vater ein Jude war. Über Juden war zuhause nie schlecht gesprochen worden, obwohl Maria bald bemerkte, dass etwas an ihnen anders war als an ihren Nachbarn. Sie wusste, dass der Viehhändler und der Saatgutverkäufer, mit denen der Vater verhandelte, Juden waren, dass sich die Leute ärgerten, weil die Ziegen der Juden die Grasnarben auf ihren Wiesen zerstörten, aber was es wirklich hieß, ein Jude zu sein, war ihr unbekannt. Erst im Religionsunterricht erfuhr sie die schreckliche Wahrheit, die sie bis ins Herz erschütterte: Die Juden hatten den guten Herrn Jesus ermordet! Franciszek Kattański schilderte die Qualen des Herrn am Kreuz in allen Einzelheiten, und für einen Augenblick war es Maria, als spüre sie die Peitschenhiebe des Kalfaktors auf ihrer Haut. Erschrocken sah sie Sura Bieloch von der Seite an, als sei sie es gewesen, die das Leiden des Herrn verursacht hatte. Doch Sura blickte aus ihren halb geschlossenen dunklen Augen unbeeindruckt geradeaus, als ginge sie die Geschichte vom guten Herrn Jesus nichts an. „Die Juden haben unseren Herrn getötet”, schloss Kattanker mit Grabesstimme, und unter den älteren Mitschülern, vor allen bei den Górski-Brüdern, machte sich Unruhe bemerkbar. „Sie haben für alle Zeiten Schuld auf sich geladen”, fügte der Lehrer hinzu und verwies mit vager Geste auf die Ecke des Raumes, in dem sich drei jüdische Knaben befanden. Einer war Szmul Goldstyzn, ein schmaler Junge, mit grotesk großen Segelohren, der jedermann zunickte, als wolle er alle Schuld anerkennen und die anstehende Tracht Prügel freudig auf sich nehmen. Szmul Goldstyn war der Sohn des Bauern Ezechiel Goldstyn, der in der Nähe von Bedrewski einen kümmerlichen Hof betrieb. Als jüdischer Bauer wurde er von seinen polnischen Nachbarn scheel angesehen, und seinen Glaubensgenossen in Ruków war er suspekt, weil er es hieß, dass nur die dummen Juden Bauern wurden. Der zweite jüdische Schüler hieß Itzak Riefelstein. Riefelsteins Vater war schon vor Jahren bei einem Pogrom erschlagen worden, seine Mutter war daraufhin vor Kummer gestorben, so dass er bei seiner Großmutter am Rande von Komla lebte. Der dritte jüdische Schüler war Baruch Meyer, ein schlanker Junge von elf Jahren, der die Attacken Franciszek Kattańskis mit unbewegter Miene über sich ergehen ließ.
Baruch Meyer war Maria schon vom ersten Schultag an aufgefallen. Er war der Sohn des Mühlenjuden Itzak Meyer und kam jeden Tag aus Balanow zur Schule. Eine Aura der Unnahbarkeit umgab diesen Knaben, an dessen Kleidung sich kein Flecken befand, dessen Hemden akkurat gebügelt waren und der sogar ein wenig duftete. Ja, er duftete, genauer gesagt, er roch gut, anders als Hilda, Giesa und Rotunda, sogar besser selbst als die Mutter, wenn sie sich für die Kirche fertig machte. Er besaß schöne, aber etwas eng beieinanderliegende Augen und einen Mund wie ein Mädchen.
Als Kattańksi den gleichgültigen Gesichtsausdruck Baruch Meyers bemerkte, stockte er. ”Du freust dich wohl über den Tod unseres Erlösers, Jude?” fragte er. Die Górski-Brüder steckten ihre Köpfe zusammen und rieben sich die Hände.
„Nein”, widersprach Baruch.
„Nur nein?” fragte Kattański drohend und näherte sich der letzten Reihe.
Ehe Baruch Meyer antworten konnte, erhielt er eine schallende Ohrfeige vom Lehrer. Sofort rötete sich seine Wange, doch er blieb ruhig auf seinem Stuhl sitzen und blickte den Lehrer weiter ausdruckslos an.
„Eine Ohrfeige ist noch das Mindeste, was Juden verdienen”, kommentierte Kattański seinen Schlag und schloss die Stunde.
Nach der Schule gingen Maria Kalińska, Sura Bieloch und Baruch Meyer eine Strecke des Weges gemeinsam. Sura und Baruch mussten nach Balanow, Maria nur bis zum Dorfausgang. Es war ein stürmischer Tag, die Wolken hingen tief über dem Land, und sicher würde es bald regnen. Gerade wollten sich Maria, Sura und Baruch am Ortsausgang verabschieden, da vertraten ihnen die Górski-Brüder den Weg.
„Hey Jude, jetzt kannst du nicht mehr davonlaufen.” giftete Henryk den Baruch an.
„Vor wem soll ich denn davonlaufen? Ich habe nichts getan”, antwortete Baruch. „Lasst uns durch. Wir wollen keinen Streit.”
„Das ist die Rache für unseren Herrn”, schrie Boris, sprang vor und schlug Baruch mit der Faust ins Gesicht. Baruch hatte den Schlag kommen sehen und versuchte auszuweichen, doch die Faust traf ihn an der Stirn, und er taumelte zu Boden. Sura schrie auf und stellte sich schützend vor Baruch, doch Henryk stieß sie zu Boden. Maria griff ins Unterholz, fand einen abgebrochenen Ast und schlug ihn mit voller Kraft Henryk auf den Rücken.
In diesem Moment brachen die Kołek-Brüder Józef und Edmund mit großem Geheul aus dem Gebüsch hervor und gingen ohne Vorwarnung auf Henryk und Boris los. Keiner wusste, woher sie plötzlich gekommen waren, doch nun waren sie da und teilten mächtig aus. Die Górski-Brüder waren zwar älter, aber keineswegs so kampferfahren wie die Kołeks und außerdem vom Angriff vollkommen überrascht. Im Nu hatte Edmund Kołek Henryk Górski in den Schwitzkasten genommen, um ihm die Luft abzudrücken. Józef Kołek verpasste Boris einen Faustschlag ins Gesicht, dass ihm das Blut aus der Nase schoss. „Ich werde dir helfen, kleine Mädchen zu verprügeln” rief er und verpasste Boris noch eine Ohrfeige. Inzwischen hatte Edmund Henryk aus dem Schwitzkasten entlassen und ihm einen Tritt in den Hinten verpasst. Boris hielt sich die Nase und rannte heulend davon, sein Bruder folgte ihm. „Hinterfotzige Judenfreunde, das werdet ihr büßen”, rief Henryk Górski aus sicherer Entfernung, ehe er hinter den nächsten Busch verschwand.
Maria hatte den Stock fallenlassen und half Sura auf die Beine. Suras Kleid war vom Staub beschmutzt. Baruch war aufgestanden und befühlte seine Stirn, die sich rot färbte.
„Danke,” sagte er kurz zu Józef und Edmund gewandt. „Ohne euch wären wir wohl mächtig verdroschen worden.”
„Nicht der Rede wert”, gab Edmund Kołek zurück. Er war etwas kleiner als sein Bruder Józef und glich einer leicht reizbaren Katze. Ein wenig Schweiß war auf seiner Stirne zu sehen, als er seine Haare zurückstrich. „Die beiden hatten noch was gut bei uns, da kam uns diese Gelegenheit ganz recht.”
Józef Kołek klopfte sich den Staub von seiner Hose. Er hatte ein ernstes Gesicht mit einer langen Nase und so gutmütig dreinblickenden Hundeaugen, dass man gar nicht glauben konnte, dass er als Raufbold verschrien war. Seine Lippen hatte er fest aufeinandergepresst, als wollten sie jedes überflüssige Wort vermeiden. Józef Kołek war kräftig, fast wie ein junger Mann mit seinen noch nicht einmal zehn Jahren, seine Arme waren eigenartig lang, als wäre ihr Wachstums dem Rest des Körpers vorausgeeilt. Als sich Sura bei ihm bedankte, wurde er rot bis in die Haarspitzen.