Das ungeliebte Tor nach Alaska Anchorage
Kalte Polarwinde, die aus dem Norden eingebrochen waren, ergriffen die Maschine und schüttelten sie durch wie einen nassen Hund. Stunde um Stunde flogen wir nach Westen, der Sonne hinterher, und es wollte einfach nicht dunkel werden. Wolkengebirge – so schön wie der Abglanz des Paradieses – verwandelten sich in Wolkendecken, die fahlen Leichentüchern glichen.
Endlich wurden im Licht der Polarnacht die großen Schneeriesen Alaskas sichtbar. Seen wie zerbrochene Spiegel, Moränenlandschaften, Gletscherzungen und eine zerklüftete Gipfelwelt aus Eis. Der Kluane Nationalpark wurde überflogen, der Mount Logan tauchte tief unter uns zur Linken auf – und schließlich in der Ferne sogar der Denali/Mount McKindley, der König der amerikanischen Berge, von einem schwarz dunklen Wolkenschweif wie von einer Aureole umgeben. Schleierwolken zogen unter uns vorüber und gaben der Landschaft einen doppelten Boden. Dann begann der Landeanflug. Die Wolkenwände wurden dunkler und dichter, und kurz bevor die Maschine im Wolkenmeer verschwand, glichen die Gipfel der Berge links und rechts einer Ansammlung von Eisbergen in einem Urmeer. Eine Viertelstunde lang war nichts zu sehen als milchig weißer Nebel; dann unterschritt der Flieger, gerade mal einige hundert Meter über dem Meer, die Wolkengrenze und nahm Kurs auf das Festland. Wie ein einziger grüner Sumpf erstreckte sich die Landschaft der Kenai Halbinsel unter uns. Ein Boden, der seit undenklichen Zeiten im Rhythmus der Jahreszeiten taute und fror. Die Maschine flog einen Bogen über dem schwarzen Wasser und landete auf dem Internationalen Flughafen von Anchorage.
Es regnete, als wir eine Stunde vor Mitternacht über das Rollfeld zum Abfertigungsgelände liefen. Die Temperaturen entsprachen denen von Deutschland an einem kühlen Frühlingstag. In der Eingangshalle des Flughafens von Anchorage liefen Angehörige aller amerikanischen Ethnien wild durcheinander, Rau war der Umgangston, wenn man sich etwa am Gepäckausgabeband unbeabsichtigt vor einen anderen Reisenden stellte. Unser Taxi war ein alter Schlitten, die Taxifahrerin eine herbe Dame mit Tatoos an den kräftigen Unterarmen. Was wir auf der Anreise zum Hotel von der Stadt erblickten, waren breite, schnurgerade Straßen im Dämmerlicht. Einige Läden hatten noch geöffnet, Musik schallte über die Straßen, nur Menschen waren nicht zu sehen. Dann hielten wir von dem „Downtown Hotel“, das von innen besser aussah als von außen und in dessen Betten wir sofort todmüde einschliefen.
Irene, die Chefin des Uptwon Hotels, hatte es als Hessin vor Jahrzehnten nach Amerika verschlagen. Dem ersten Mann war sie nach Kalifornien gefolgt, dem zweiten nach Alaska, was mit in dieser Reihenfolge ungünstig vorkam. Es gefiel ihr auch nicht in Alaska, in Anchorage schon gar nicht, wie sie freimütig bekannte: zu kalt, zu teuer und „No Gentlemen’s at all“. Das einzig Gute an Alaska sei, dass man hier kaum Steuern zahlte, weil der Staat jedem gemeldeten Einwohner pro Jahr einen Anteil der Steuereinnahmen aus dem Ölgeschäft überwies. Obwohl Irene auch auf Ausländer nicht gut zu sprechen war, betrachte sie uns als Abgesandte der Heimat..Wir verkörperten einen zarteren Menschenschlag, dessen Existenz sie fast vergessen hatte, so dass wir am Morgen zum spartanischen Frühstück auch noch eine Extraportion Streichkäse erhielten. „Honey, is anything ok with the Breakfast?“ fragte sie mich, und ich nickte wie ein braver Schuljunge.
Anchorage war das Tor zu Alaska hieß es, aber es war ein Tor, das mit dem, wohin es führte, nur wenig zu tun hatte. Für viele war es ein subarktisches Babylon, in dem sich die Rohheit der Peripherie mit der Dekadenz einer heruntergekommenen Stadt verband. Für andere war es das wirtschaftliche Herz Alaskas, von dem aus das Ölgeschäft organisiert und ausgebaut wurde. Für den Großteil der Touristen, die Alaska besuchten, war es der unvermeidbare Startpunkt ihrer Reise in die Welt des Nordens. So auch für uns, die wir in Anchorage unseren Camper Home in Empfang nehmen würden. Bis dahin aber war noch etwas Zeit, die wir für eine Besichtigung nutzen wollten, unvoreingenommen und mit der Anteilnahme, die jede Stadt verdient, die sich am Rande der Wildnis behauptet. Allerdings waren die ersten Eindrücke wenig dazu angetan, Begeisterung zu wecken. Als wir das Hotel zu einem ersten Spaziergang verließen, lag über der Stadt ein bleigrauer Himmel ohne jede Kontur. Kein Wind, keine Wärme, keine Kälte, wenig Licht – die Stadt begrüßte uns im reduzierten Modus eines verwaschenen Morgens. Unrat und Müll waren über die Straßenränder verteilt, zwei betrunkene Halbindianer torkelten auf dem Bürgersteig an uns vorüber. Auf einem Parkplatz lagen zwei Männer auf dem Asphalt und schliefen ihren Rausch aus. Eine Stimmung von scheißegal lag über diesem Vormittag, angefüllt mit einer Spur Bedrohlichkeit, die von der ungewohnten Größe herrührte, mit der in Anchorage alles daherkam. Die Autos waren größer, die Männer voluminöser, die Straßen breiter und nur die Häuser waren meist flach, als fürchte man eine Wiederholung des Erdbebens von 1964, das die Stadt in Schutt und Asche gelegt hatte. Auch das McDonalds Gebäude, in dem wir einen zweiten Morgenkaffee trinken wollten, war groß – laut Reiseführer sogar der größte McDonalds der USA, wahrscheinlich aber auch eines der leersten, denn als wir den Laden betraten, saß nur noch ein junges Pärchen an einem Fenstertisch. Die Haare standen ihnen zu Berge, sie waren leichenblass und sahen aus, als wäre ihnen der Stoff ausgegangen. Der Tisch vor ihnen war leer, und sie starrten sich gegenseitig an, als könnten sie gar nicht glauben, in welche Gesellschaft sie das Leben verschlagen hatte. Zwei neue Kunden betraten das Lokal. Es waren zwei junge Amerikaner, nachlässig angezogen und mit Turnschuhen an den Füßen, deren Senkel nicht zugebunden waren. Beide waren angetrunken und wurden von einem bulligen Security-Man aus dem Laden gedrängt. Er war so breit wie die beiden Jugendlichen zusammen. Er packte jeden von ihnen mit einem Arm und schob sie wie Sperrmüll einfach vor die Türe. Der Alkoholismus war in Alaska offenbar keineswegs nur auf die Natives beschränkt. Am Visitor Center in der 4th Street on Downtown waren wir die ersten Klienten, enthusiastisch begrüßt von einer Rangerin in einer olivgrünen Uniform. „So nice to see you“, flötete sie, als wir eintraten. Sie strahlte die Gesundheit der dicken Menschen im Norden aus, deren Fett durch die Kälte im Zaum gehalten wird. „Oh you came from Germany, that´s great!“ jubelte sie und überreichte uns einen ganzen Packen Pläne und Prospekte. „You will have a wonderful Time in Anchorage“, versprach sie, als wir das Gebäude verließen. Draußen sah es aber nicht danach aus. Auf der andern Straßenseite stoppte ein Van. Die Türe öffnete sich, und eine kreischende Prostituierte wurde grob auf die Straße gestoßen. Es war eine grell geschminkte Farbige, aggressiv und gewöhnlich. Sie rappelte sich auf und kreischte „Fuck you“, ehe sie auf ihren High Heels davon schwankte. Ein Feuerwehrwagen hielt vor einem kleinen Park und begann zwei Inuits abzutransportieren, die vollkommen zugedröhnt im Gebüsch gelegen hatten. All das vollzog sich in einem merkwürdigen Zwielicht, das die schnurgeraden Straßenfluchten in bizarre Schluchten verwandelte, die immer geradeaus in ein verwaschenes Halbdunkel führten. Immerhin nahm die Polizeipräsenz zu, je weiter wir nach Downtown kamen, allerdings handelte es sich vorwiegend um Fahrradpolizei, um Zweiergruppen, die mit Fahrradhelmen und in bunter Fahrradkleidung neben ihren Rennrädern an den Ecken standen und die Umgebung beobachteten. Architektonisch Bemerkenswertes gab es nicht zu sehen, eine Straße glich der anderen und viele Geschäfte hatten noch geschlossen. Als wir Downtown im Umkreis der 4th and 5th Street erreichten, setzte ein leichter Nieselregen ein, so dass wir in das „Anchorage Museum of History and Art“ flüchteten. Bildung als letztes Refugium vor dem Ansturm der Tristesse – das funktionierte fast immer.
Das Museum war der Geschichte Alaskas gewidmet – präsentiert wurden eine Sammlung von Karten, lebensgroße Puppen und Überreste aller Art, die wir an diesem Vormittag in Ruhe studieren konnten, denn wir waren fast allein im Museum. Im Mittelpunkt der Exponate stand die Geschichte der Ureinwohner Alaskas, ihre Wanderungen, Zelte, Bekleidung, Waffen und Baustoffe, die in einem eigenen Raum ausgestellt waren. Die Indianerstämme des Nordpazifiks waren wie alle Indianer vor gerade mal vierzigtausend Jahren aus Asien nach Alaska gekommen, als wegen des tieferen Meeresspiegels zwischen Ostsibirien und Nordamerika eine Landverbindung bestand. Doch während die meisten Proto-Indianer weiterzogen, in den Süden, in die Prärie, nach Mittelamerika oder in die Täler der peruanischen Anden bis hinunter nach Feuerland, waren die Vorfahren der heutigen Tlingit, Haisa oder Atha- basca geblieben, hatten autonome Stämme gebildet, Holzhäuser erbaut und Kulturen entwickelt, die ihnen das Überleben in einer fruchtbaren Umgebung sicherten. Sie ernährten sich von Wurzeln und Beeren, jagten die Bären mit bloßen Speeren und trugen im Winter Jacken aus zusammengenähten Tiereingeweiden, damit die Tiere gleich wussten, was ihnen blühte.