Kunath: Das kuriose Brasilienbuch

Ein merkwürdiger Titel, der die Qualität des vorliegenden Buches ein wenig unter den Scheffel stellt. Tatsächlich räumt Kunath mit einer Reihe von Brasilienmythen auf – so hat Caruso nicht in Manaus gesungen, so dominieren schwarzafrikanische Kulte nicht die religiöse Szenerie Brasiliens und so wurden der Kautschuksamen nicht unter Lebensgefahr aus Brasilien herausgeschmuggelt. Aber das Buch ist viel mehr als eine Sammlung naseweiser Kuriositäten : es handelt sich um eine fundierte und ungemein faktenreiche, gut lesbare Landeskunde, deren einziger Nachteil darin besteht, dass es die allerneueste Zeit nach 2013 nicht mehr erfasst.  Man darf sich durch die lockere Diktion nicht täuschen lassen: hier ist ein Landeskenner von hohen Graden am Werk. Von den zahlreichen Brasilienbüchern, die ich im Vorfeld einer Brasilienreise gelesen habe, ist es bis jetzt jedenfalls das Beste.

Was habe ich aus ihm gelernt?

  • Eine neue Sichtweise des deutschen Beitrags zur Geschichte Brasiliens, die große Rolle der „Teuto-Brasilianer“, die allerdings 1942, als die Deutschen einen brasilianischen Frachter versenken unter Druck gerieten,
  • Das 19. Jhdt. als Phase der „Europäisierung“ des Landes (Blanquetisierung/Verweißung Brasiliens) – dann im 20. Jhdt. „Melting Pot“ als Staatsraison bringt den Diktator Vargas in Gegensatz zu den an sich beliebten Nazis.
  • Die kuriose Stadt Candido Godoi in Südbrasilien (Zwillinge stellen dort bis zu 10 % der Geburten im Unterschied zu normalerweise 2 %) und der Mengele Mythos als Erklärung
  • Die Idee der Privatreligion, die in Brasilien jedermann anmelden kann, so dass er extreme Steuervergünstigungen erhält (Jahrmarkt der weltlichen Religionen)
  • Stefan Zweigs Isolation nach seinem Brasilienbuch, das weder der Linken noch der Rechten gefiel
  • Politische Bewerber für Kommunalämter dürfen sich Kunstnahmen zu legen und tun dies auch ausgiebig ( Tarzan,  007)
  • Absturz des Katholizismus auf gut 65 %, Vormarsch der Evangelikalen
  • Rondonia, Brasiliens wilder Westen, wo die Holzfäller, Kaffeepflanzer und Viehzüchter herrschen und sich selbst gegen staatliche Interventionen behaupten
  • Schrittweise Korrektur von Nationalparksgrenzen durch faktisch vollzogene Rodungen
  • Neue gigantische Wasserkraftwerke im Amazonasgebiet werden die Umsiedlung von Zigtausenden erforderlich machen und abseitig siedelnde Indianerstämme völlig vom Wasser abschneiden
  • Jedes Jahr ein Land von der Größe Hessens gerodet (?), Sojabohnenwüsten
  • Name Kautschuk kommt von „ca-hu-cho“ (indianisch. weinender baum ) Manche Erklärungen klingen einfach zu passend, um wahr zu sein
  • Der Saft, der dem Kautschukbaum entfließt (Hevea Brasiliensis) enthält nur ein Drittel Latex, Latex bzw. Rohgummi war vor der Erfindung der Vulkanisierung durch Goodyear (1839) unelastisch.
  • Kautschukboom war ein mühsames Geschäft, denn es wuchsen nur ca. 3 Kautschukbäume auf einem Hektar. Plantagenwirtschaft erwies sich durch den Schädling mycrocyclus elai als unmöglich (vgl Scheitern von „Fordlandia“)
  • Der Kautschuksamen wurde schon 1876 durch Wickam vermeintlich zu Forschungszwecken ausgeführt, es dauerte dann noch zwanzig Jahre bis die Anlage von Plantagen in Malaysia gelang (eben weil es dort den o.a. Schädling nicht gab) – erst ab 1905 kam das malaysische Kautschuk in großen Maße auf den Markt und verdrängte den teuren bras. Kautschuk
  • Erfindung des synthetischen Kautschuks durch die Deutschen im 1. Weltkrieg
  • „Aber relativ gerechnet sind die Brasilianer mit 4,6 Schönheitsoperationen pro 1000 Menschen die Weltmeister – in den USA sind es 3,5, in Deutschland 2,3, also nur halb so viel.
  • „Von 6,28 auf 1,76 sank zwischen 1960 und 2010 die Zahl der Kinder, die brasilianische Frauen durchschnittlich gebären. Die Kindersterblichkeit bis zum fünften Lebensjahr lag 1990 bei 58 pro tausend Geburten, 2011 war sie auf 16 gesunken.”
  • „»Weiße-Weste-Gesetz«, nach dem zu Wahlen nur Politiker antreten dürfen, denen in den acht Jahren davor das Mandat nicht aberkannt wurde und die auch nicht zurückgetreten sind, um genau dem zuvorzukommen.”
  • „In Deutschland oder Japan ist der Konsum mit steigendem Einkommen gewachsen, in Brasilien jedoch mit der Ausweitung des Kredits.