Es gibt Regionen in Europa, die im Laufe ihrer Geschichte mal Objekt, mal Subjekt waren. Burgund war im Hochmittelalter nichts als ein Appendix des Heiligen Römischen Reiches, in der Renaissance stieg Burgund zeitweise zu einer Großmacht auf, die sich zwischen Frankreich und Deutschland dauerhaft zu etablieren versuchte. Katalonien war im späten Mittelalter eine maritime Großmacht, nach dem Spanischen Erbfolgekrieg wurde das Land ein relativ rechtloses Anhängsel der kastilischen Monarchie. Sardinien dagegen war immer nur Objekt der Geschichte, immer nur der Schauplatz von Eingriffen von außen und nie die Gestalterin des eigenen Schicksals. Das ist der erste und bis heute dominante Grundzug der sardischen Geschichte.
Am Anfang dieser sardischen Geschichte stand die Einwanderung vom Festland. Das wird sich Jahrtausende vor der Zeitrechnung in mehreren Wellen abgespielt haben. Zuletzt kamen die rätselhaften Erbauer der Nuraghen, der wuchtigen Magalithtürme aus Granit und Basalt, die noch heute als Ruinen tausendfach die Insel bedecken. Sie waren weniger ein Zeichen der Macht als der Angst, ein Symbol der inneren Zerrissenheit, denn sie dienten vorwiegend zur Sicherung des eigenen Clanterritoriums und zum Schutz gegen Angriffe des Nachbarclans. Die immerwährende Fehde als zweites durchgängiges Merkmal der sardischen Geschichte zeigt sich schon in dieser frühen Zeit.
Kupfer- und Eisenerze und bleihaltiges Silber lockten am Beginn des ersten Jahrtausends v.d. Z. zuerst die Phönizier (Gründung von Karali = Cagliari um 700 v.d. Z.), dann die Karthager nach Sardinien. Gegen sie versagten die Nuraghen, die Küstenstämme unterwarfen sich, andere zogen sich ins Landesinnere zurück. Im Bündnis mit den Etruskern gelang es den Karthagers 540 v.d.Z. die Griechen ganz aus Sardinien herauszudrängen. Trotzdem war Karthagos Beitrag zur sardischen Geschichte ist marginal, wenn man will: sogar katastrophal: In Tharros erbauten sie eines ihrer abscheulichen Tophets, in dem in Krisenzeiten die erstgeborenen Kinder verbrannt wurden. Auch den Import der Malaria, die die Insel von nun an quälen sollte, verdanken die Sarden den Karthagern.
Mit der römische Inbesitznahme der Insel im Zuge der punischen Krieges ab 238 v. Chr begann eine Zeit der gnadenlosen Ausplünderung, der gegenüber man sich bald an die lockere Herrschaft der Karthager sehnsüchtig zurückerinnerte. Vergeblich kämpfte der sardische Nationalheld Amiscora im zweiten punischen Krieg an der Seite Hannibals gegen Rom. Bei Aufständen im 2. Jahrhundert v.d.Z. wurden Zigtausende Sarden erschlagen und versklavt. Vergeblich verklagten die Sarden den verbrecherischen römischen Statthalter Scauro vor dem Senat in Rom. Cicero selbst, diese käufliche Seele, der Verres, den römischen Statthalter von Sizilien, mit großem Pomp angeklagt hatte, hielt die Hand über den korrupten Scauro („Pro Scauro“). Erst unter Augustus traten geordnete Verhältnisse ein, wenngleich Sardinien ein „Cayenne der alten Zeit“ blieb ( Deportationen von Widerständlern und Gefangenen zur Sklavenarbeit auf die Malariainsel– z. B. unter Tiberius 4000 aufständische Juden ) Wie überall im römischen Reich entstanden auch in Sardinien in der Spätantike die ersten christlichen Gemeinden.
Aber nichts ist so schlecht, dass es nicht noch schlechter werden könnte. Mit dem Untergang des Römischen Reiches brachen dunkle Zeiten an. Die Vandalen, die im Jahre 439 Karthago erobert hatten, setzen sich an den Küsten fest, ihnen folgten 534 die Byzantiner. Die einzige Kontinuität zwischen beiden Herrschaften war die Kontinuität des Steuerdrucks. Von staatlichen Strukturen konnte man kaum noch sprechen, es handelte sich um mafiöse Räuberorganisationen, deren Ziel einzig und alleine darin bestand, den Menschen Ressourcen abzupressen. Das ist übrigens der dritte grundlegende Leidenszug der sardischen Geschichte bis an den Rand der Gegenwart.
Noch schlimmer wurde es mit der islamischen Expansion im westlichen Mittelmeerraum zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert. Konstantinopel zog seine Truppen zurück, weil es selbst im Osten gegen Araber und Slaven um seine Existenz kämpfen musste. Ein Hilfsgesuch der Sarden an das flottenlose Frankenreich im Jahre 815 blieb unbeantwortet. So wurden angesichts der endlosen Raubüberfälle der Sarazenen die Küstenstädte aufgegeben und ins Innere verlagert (von Tharros nach Oristano, von Porto Torres nach Sassari u.a. ). Diese jahrhundertelangen Erfahrungen des Ausgebaut- und Versklavtwerdens hat sich in dem sardischen Sprichwort niedergeschlagen. „Wer übers das Meer kommt, ist der Feind.“ Die letzten staatlichen Strukturen, die in dieser Epoche überlebten, waren die sogenannten „Judikate“, d. h. Richterämter. Sie entstanden aus den Resten der byzantinischen Institutionen und entwickelten sich zu den vier sardischen Kleinkönigreichen Porto Torres, Gallura, Arborea und Cagliari.
Im 11. Jahrhundert schien mit dem Aufstieg der italienischen Seestädte Genua, Pisa und Amalfi im westlichen Mittelmeerraum eine neue Zeit anzubrechen. Pisaner und Genuesen beendeten die Seeräuberüberfalle der Sarazenen und der spanischen Mauren und setzten sich in Sardinien fest, zuerst als Protektoren der Judikate, dann selbst als Herrscher über Leben und Tod. Castelldelsardo im Norden und die Burg der Malaspina in Bosa, die Basilika Saccaria bei Sassari und der pisanische Dom in Cagliari erinnern an diese Zeit. Katholische Geistliche kamen vom Festland und drängten die bisher vorherrschende Orthodoxie zurück. In Sassari entstanden sogar Ansätze zu einer städtischen Selbstverwaltung, doch alles in allem war es eine Zeit der Bevormundung und Unterdrückung. Es ging drunter und drüber in Sardinien, und so war der Köngstitel, den der Stauferkaiser Friedrich II im Jahre 1238 seinem Sohn Enzo für Sardinien erteilte, nichts als eine protokollarische Finesse. Wichtig wurde dieser Titel erst später, als er dem Haus Savoyen dazu diente, sich im 18. Jhdt. den Königstitel zu krallen.
1297 belehnt Papst Bonifaz VIII (kurz bevor ihn König Philipp der Schöne von Frankreich ins Loch warf) Jaime II von Aragon mit Sardinen. 1323 wurde die Insel durch die Aragonesen erobert. Was sich später auf den großen Antilleninseln zeigen sollte, der Ruin ganzer Länder durch eine strangulierende Abgabenpolitik, erfuhr in Sardinien gewissermaßen die Generalprobe. Alghieri an der Westküste wurde ein komplett katalanische Stadt, Sarden und verbleibende Italiener wurden diskriminiert, die Abgaben, die von den Bauern abgepresst wurden, flossen in die Paläste und Anwesen nach Katalonien. Die landwirtschaftlichen Erträge gingen zurück, die Menschen flohen, verließen die Insel oder wurden Banditen. Noch nicht einmal zum Schutz der Küsten gegen die wieder aufflammende Seeräuberei der nordafrikanischen Barbareskenstaaten waren die Spanier in der Lage. Stattdessen wurde Sardinien mit Bürokraten und Handlangern überschwemmt, die das Land im Dienste spanischer Magnaten ausbeuteten. In diese Zeit des Wandels erließ die letzte Königin des freien Arborea und sardische Nationalheldin Eleonora von Arborea im Jahre 1383 die „Carta de Logi“, ein fortschrittliches Gesetzbuch, das zwar faktisch folgenlos blieb, das die Sarden aber bis heute in hohen Ehren halten.
Mit dem Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714) wechselten die Herren der Insel erneut. Sardinien kam nach einer Serie komplizierter Tauschvorgänge an das Königreich Piemont-Sardinen (Seit damals eben „Königreich“). Spanische Granden behielten jedoch ihre feudalen Rechte. Die Ausbeutung der Insel wurde noch weiter vorangetrieben, bald mussten über 50 % der Ernteerträge abgeführt werden, das Banditenunwesens nahm weiter zu, der parasitäre Klerus wurde immer enthemmter. Kennzeichnend für diese Zeit ist König Carlo Felice von Piemont-Savoyen (1821-31), dessen Standbild als aufgemotzte antike Heldenfigur im Hafenviertel von Cagliari steht und der veranlasste, dass der Schulbesuch von sardischen Kindern nur bei Nachweis eines elterlichen Mindesteinkommens gestattet wurde. Unter diesen Umständen scheiterten alle offizielle Versuche der Neuansiedlung mit Griechen, Korsen oder Maltesern an den miserablen Standortbedingungen. Es gab allerdings auch Ansätze fortschrittlicher Politiker am Hof von Turin, die Verhältnisse in Sardinien zu verbessern, allerdings wurden sie stümperhaft durchgeführt und bewirkten genau das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigten. Zum Beispiel sollte die Abschaffung der Leibeigenschaft und die Privatisierung des Gemeindelandes (nach englischem Vorbild) ab 1836 den Bauern ermöglichen, eigenes Land zu erwerben. Faktisch aber bemächtigten sich sofort nach der Verkündigung des Gesetzes die Besitzenden der frei gewordenen Allmendeflächen, so dass die Lage der Bauern noch schlimmer wurde. Sie mussten nun auch noch für die unrechtmäßig privatisierten ehemaligen Dorfweiden Abgaben zahlen. Dementsprechend nahm die Entvölkerung weiter zu, vor allem ins gerade erst französisch gewordene Algerien wanderten viel Sarden ab. Ab 1847 wurden Piemont und Sardinien staatsrechtlich zusammengeschlossen, was für Sardinien aber wenig bewirkte. Im Gegenteil: im Jahre 1860 war der piemontesische Ministerpräsident 1860 Cavour bereit gewesen, die Insel Sardinien als Kompensation für Frankreichs Hilfe im Kampf gegen Österreich 1859/60 an Frankreich abtreten. Dieser Plan scheiterte jedoch am Veto Englands.
Sardinien im vereinigten Italien erlebte ab 1860 eine gnadenlose Abholzung der Wälder und eine hemmungslose Ausbeutung der Bodenschätze durch Firmen vom Festland. Nach dem ersten Weltkrieg, in dem sich die Sarden im Dienst der nationalen Sache ausgezeichnet hatten („Brigade Sassari“) versuchen die Faschisten, die Infrastruktur zu verbessern, doch davon profitieren vor allem Siedler aus Norditalien, wenn die überdimensionierten Projekte nicht ganz scheiterten. Immerhin wurde am Ende des Zweiten Weltkrieges endlich die Malaria ausgerottet. Ab 1948 wurde die sardische Autonomie in der Verfassung des neuen Italiens verankert. Wie überall in Italien entstand jedoch bald ein Korruptionsgeflecht im Verzweigen der staatlichen Hilfsgelder – unterstützt durch korrupte sardische Politiker. Wie schlimm die Verhältnisse der einfachen Menschen noch in den Fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts gewesen waren, zeigt der Roman „Padre Padrone“ von Gavino Ledda. Eine petrochemische Monokultur wurde aus dem Boden gestampft, die heute die Küste südwestlich von Cagliari verunstaltet. Die Costa Smeralda entstand als Symbol der Missachtung des rückständigen Sardiniens. Immerhin wurden mit den Hilfsgeldern der EU Straßen und Schulen gebaut. Seit einer Generation wächst das Prokopfeinkommen, vorwiegend finanziert über die sich ins Gewaltige aufblähende Staatsverschuldung des Gesamtstaates. Außerdem bringt der wachsende Wohlstand in Nordeuropa zahlungskräftige Touristen Sardinien.