Indochina Leseprobe

 

 Auf allen Vieren ins dunkle Loch.                                        Im Vietkong-Park von Cu-Chi4 (22)

So haben sich selbst die größten Fans des Vietkong den Krieg nicht vorgestellt: Hübsche und gut frisierte Befreiungskämpferinnen stillen ihre Babys, räumen die Bambushütten auf und knacken zwischendurch mal schnell mit einer Tellermine einen amerikanischen Panzer, der wild ballernd durch den Dschungel rollt. Ihre drahtigen Männer eilen derweil nach dem Einsatz im Schützengraben, das Gewehr noch über den Rücken, auf die Reisfelder um die Ernte einzubringen. Abends trifft sich die Familie in gelöster Heiterkeit bei der politischen Schulung, Ho Chi Minh schaut zufrieden auf die tapferen Kinder seines Volkes, alles könnte so wunderbar sein, würde der böse Feind doch endlich Ruhe geben. Aber nein, da ist er schon wieder, Bomben fallen vom Himmel und Panzer zermalmen, was ihnen vor die Ketten kommt. Doch die Bewohner des Dorfes verschwinden in einem geheimnisvollen Tunnelsystem unter der Erde, schwarze Löcher tun sich auf, in die nur der schlanke südostasiatische Menschenschlag hineinpasst, und die fetten Amerikaner müssen draußenbleiben.

Über zwanzig Jahre sind diese Kämpfe nun schon vorüber, und wer wird es den siegreichen Freiheitskämpfern verdenken, dass sie den Film über diese Ereignisse als eine fetzige Collage von Dokumentaraufnahmen und nachgestellten Szenen in aller Ruhe nach der Befreiung drehten?

Heute zeigen sie ihn den westlichen Besuchern, die für eine bescheidene Eintrittsgebühr die Vietkong- Tunnels von Cu-Chi, funfunddreißig Kilometer nordwestlich von Saigon, besuchen. Tatsächlich ist die Vergangenheit dieses Ortes grotesk und makaber zugleich: während die GI’s oberhalb der Erde in einem gut klimatisierten Militärlager am Tage die Umgebung kontrollierten, kam der Vietkong in der Nacht aus seinen Verstecken, organisierte Versorgung und Logistik, bestrafte und herrschte in den Dörfern und verschwand am Morgen wieder unter die Erde. Fast so dunkel wie unter der Erde ist es im Vorführungssaal, als der Film zu Ende ist. Dann gehen die Lichter an, und alles blickt voller Staunen auf bunte Tafeln, erkennt im großzügigen Maßstab die Abbildung eines verwirrenden Tunnelsystem, das sich mit einer Gesamtlänge von zweihundert Kilometern unter der Erde von Cu-Chi bis unter die Behasungen der amerikanischen Soldaten erstreckte. Spätestens als es noch nicht einmal deutschen Schäferhunden gelang, in den Tiefen des Tunnel-Systems gegen den Vietkong anzukommen, hätte man im Pentagon eigentlich wissen müssen, dass der Krieg nicht gewonnen werden konnte.

Nach der visuellen Einstimmung im Klassenzimmer beginnt der eigentliche Rundgang durch das Cu-Chi-Camp, der schnell den Charakter einer Entdeckungs- und Bewegungstour annimmt. Vorbei an einem ausgebrannten Panzer, über trickreich getarnte Bambusfallen mit vergifteten Pfählen auf dem Grund der Grube, führt dieser schöne Wanderweg immer tiefer hinein in üppige indochinesische Bewaldung. Doch wer gehofft hatte, dass sich das Programm in solch reiner Beschaulichkeit erschöpfe, der sieht sich bald eines Besseren belehrt, denn schon auf der ersten Lichtung, die wir erreichen, fordert uns der englischsprachige Guide auf, den Eingang zu einem der unzähligen Tunnel zu suchen, eine schwierige Aufgabe für den westlichen Stadtmenschen, der leicht einen Maulwurfshügel mit einer Verkehrsberuhigung verwechselt. Und wirklich führt denn auch das verzagte Kratzen mit den Turnschuhen im Sand, das gutwillige Niedertrampeln der benachbarten Büsche zu keiner Entdeckung. Halb verlegen ob der eigenen Unfähigkeit und halb froh, hier nicht im Ernstfall mit einem Vietkong unter den Füßen herumstehen zu müssen, blickt man sich an, als der Guide gutmütig lächelnd eine erdgraue Kordel aus dem Staub ergreift und mit einem kurzen Ruck einen gulligroßen Deckel hebt. Schwarz wie der Eingang zur Hölle gähnt uns das Loch an, und obwohl schon lange kein Kämpfer mehr unter der Erde lauert, mag niemand in die Tiefe steigen.

Aber auch wer nicht kämpft, sondern nur besichtigt, hat Hunger, und so führt und der nächste Gang exakt zur Lunch-Zeit zur Vietkong-Küche, einer zwar vertieften, aber so großzügig wellblechüberdachten Räumlichkeit, dass auch der längste Nordamerikaner an der adrett hergerichteten Befreiungskämpfer-Tafel platznehmen kann. Tee und Maniok-Kolben, „Vietkong­-Food“ wie unser Führer erläutert, stehen bereit, und da wir uns in den Anlagen einer immerhin berühmten sozialistischen Kampf-Organisation befinden, gibt es den Guerillasnack gratis.

Solchermaßen gestärkt, verlassen wir die Küche, bewundern den sinnreich zur Täuschung des Feindes um fünfundzwanzig Meter versetzten Rauchabzug, schlendern ein wenig durchs Gelände, ehe wir ein zweites Mal in die Erde steigen, diesmal richtig tief in einen unterirdischen Vietkong-­Konferenzraum mit einem Längstisch für die Kader und einem Quertisch für den örtlichen Kommissar, dessen Stuhl genau unter einem Ho Chi Minh-Portrait und der revolutionären roten Fahne mit dem gelben Stern postiert ist. Schön muss es für die Gäste sein, sich so nah und grinsend am ehemals unterirdischen Pulsschlag der Welt unter Onkel Hos Konterfei ablichten zu lassen, aber die Authentizität wird noch einen Schritt weiter getrieben: Als Resultat feinfühligen Tourismusmarketings hat man einen Teil der unterirdischen Tunnelröhren derart vergrößert, dass  auch normal gewachsene Westtouristen eine Strecke von sechzig Metern unter der Erde ohne Folgeschäden zurücklegen können, und tatsächlich kriecht die betuliche Rotte ohne großes Zögern auf Geheiß einer nach dem anderen auf allen vieren in das dunkle Loch.

Als nach einer Viertelstunde auch die letzten Krabbler vollkommen verdreckt auf der anderen Straßenseite wieder in das Licht des Tages taumeln, nähert sich die Veranstaltung dem Höhepunkt. Die Besucher werden aufgefordert, ein umzäuntes Areal auf einem schmalen Waldpfad zu durchqueren, ohne auf eine Miene zu treten. Der Wahrheit halber muss natürlich gesagt werden, dass es sich um keine wirklichen Tretminen handelt, sondern um unsichtbare Drahtvorrichtungen, bei deren Berührung in unmittelbarer Körpernähe eine knallaute Platzpatrone detoniert. Wie verängstigte Störche auf einem zu heißen Boden, so stakste bald alles durch das Unterholz, es knallte und krachte an allen Enden, und als wir das Gelände verließen, waren die meisten von uns virtuell tot. 4 (19)