Die Insel der zwei Geschwindigkeiten

   Stunde um Stunde überflog die Maschine die Unendlichkeit des Ozeans. Inseln wie Farbtupfer auf einer blauen Leinwand zogen tief unter mir vorüber. Wie dürr und blass waren alle Zahlen, mit denen der Pazifik beschrieben wurde. Vergebliche Mühe, eine Weite auszumessen, die die Vorstellungskraft überstieg. Der Pazifische Ozean war alleine größer als alle Kontinente zusammen und bedeckte mit gut  165 Millionen Quadratkilometern ein Drittel der Erdoberfläche. Aber er war nicht nur groß, sondern auch gefährlich. Der Pazifik „schwamm“ auf einer Erdplatte (der pazifischen Platte) deren Ränder sich an anderen Erdplatten „rieben“, so dass sich ein „Feuerring“ an seinen Grenzen befand,  eine planetarische Unruhezone, die immerfort Vulkanausbrüche, Erdbeben und neue Inseln gebar. Diese Inseln, so hieß es, waren sein größter Schmuck, allerdings wurden sie von Westen nach Osten immer kleiner, bis hin zur winzigen Osterinsel viertausend Kilometer vor der südamerikanischen Küste.

 Das Flugzeug hatte Neukaledonien passiert, dann die südlichen Inseln von Vanatu überflogen und näherte sich den Fidschi-Inseln. Die Fidschi-Inseln gehörten zusammen mit Samoa und Tonga zum Westpazifik und waren ähnlich groß wie Hawaii. Fidschis 322 Inseln brachten es auf eine Gesamtfläche von 18.376 Quadratkilometern, von denen allein die beiden größten, Viti Levu und Vanua Levu, 87 % ausmachten. Der Pilot flog einen weiten Bogen über Viti Levu und landete auf dem internationalen Flughafen von Nadi.

   In der Abfertigungshalle  roch es nach Bohnerwachs und Konservendosenfleisch. Die Uniformen der dunkelhäutigen Grenzbeamten spannten, und ihre mächtigen Hälse spotteten jedem Kragenknopf. Ihre Finger waren so dick, dass ich mich fragte, wie es mit ihnen gelang, die Computer zu bedienen. „Welcome  to the Republic of Fidschi“, sagte der Grenzbeamte mit einer Bassstimme aus den untersten Regionen seines Zwerchfells und knallte mir den Stempel in den Pass. Ich hatte ein Land von Riesen betreten.

    Dann im Bus nach Nadi die nächste Überraschung.  Indische Jungen und Mädchen auf dem Heimweg von der Schule bestiegen den Bus. Adrett gekleidet in weiß-blaue Schuluniformen gaben sie ihr Fahrgeld dem melanesischen Fahrer, die Mädchen mit entzückenden weißen Schleifchen in den Haaren, die Jungen mit wichtigen Mienen und durchgedrücktem Rücken. Zwei Reihen hinter mir saßen einige Melanesier mit Kraushaaren und großen, flachen Gesichtern. körperlich wuchtig, die Mütter geradezu kolossal, immer aber freundlich lächelnd. Ich sah, wie ein junger Melanesier insgeheim die zauberhaften kleinen Inderinnen musterte. Aussichtslos,   Fidschi war ein komplett binationaler Staat, dessen Angehörige sich nicht vermischten. Früher, vor den Ausschreitungen der 1987er Jahre, hatten die Inder sogar die Bevölkerungsmehrheit gestellt, inzwischen bewegte sich ihr Anteil bei etwa 40 %. 

  In Nadi gab es nichts zu sehen als flache Häuser mit angegriffenen Fassaden, staubige Straßen und einer Stadtbevölkerung, die sich in zwei Geschwindigkeiten bewegte; schnell und hektisch die Inder, langsam und behäbig die Melanesier. Kaum zu glauben, dass die Angehörigen beider Bevölkerungsgruppen in der gleichen dreidimensionalen Welt zuhause waren.  

  Die meisten Touristen  passierten Nadi nur als Durchgangsstation zu den Ferienressorts auf den vorgelagerten Mamanuca-Inseln. Auf  Beachcomber-, South Sea- und Treasure-Island erlebten Australier, Neuseeländer und Amerikaner ihren Luxusurlaub an puderweißen Stränden weitab  der abgeholzten Wälder im Inselinnern von Vitu Levu. Es gab sogar eine Insel mit dem Namen Bounty-Island, weil Captain Bligh nach der berühmten Meuterei auf der Bounty auf seinem langen Weg nach Timor hier mit seinem Boot vorbeigerudert war.

    Ich hatte mir vorgenommen, meinen Fidschi-Aufenthalt auf Viti Levu zu verbringen, war mir jetzt aber nicht mehr sicher, ob das eine gute Idee gewesen war. Weil mich Nadi deprimierte, nahm ich den Bus nach Lautoka, der zweitgrößten Stadt Viti Levus. Die Landschaft zwischen Nadi und Lautoka war von bedrückender Kargheit. Abgegraste Wiesen, ausgedünnter Laubwald und kränkliche Palmen wohin das Auge blickte. In den Siedlungen am Straßenrand häuften sich die Abfälle, um die sich die Hunde balgten.  Hier war schon lange keine Müllabfuhr mehr vorbeigekommen.

  Lautoka war Fidschis  Zuckerrohrhauptstadt, und entsprechend stark war der indische Bevölkerungsanteil. Zuckerrohr hatte im 19. Jahrhundert die indischen Vertragsarbeiter nach Fidschi gelockt, und nach dem Auslaufen ihrer Kontrakte waren sie im Land geblieben, hatten Familien gegründet, ihre Tempel und Moscheen gebaut, sich vermehrt und nach und nach die ökonomische Oberhand gewonnen.

  Ich lief furch die Innenstadt, den Hafen und die Markthallen, trank reichlich Chai und beobachtete die Passanten. Die Inder hatten die Arbeit und das Geld, die Melanesier die gute Laune und die Zeit, was eine wunderbare Mischung gewesen wäre, hätte man sie  nur zusammenbringen können. Aber das schien nicht zu funktionieren. Die Inder hielten die Melanesier für dumm und faul, die Melanesier sagten den Indern nach, sie seien hinterlistig und verlogen. Bei meinem Rundgang war allerdings  von Aversionen nichts zu bemerken.  An der Supermarkttheke bedienten mich nacheinander eine indische und eine melanesische Verkäuferin, die sich blendend verstanden.

  In hatte mir schon gleich nach meiner Ankunft in Lautoka ein Zimmer in einem Budget Hotel am Hafen genommen, in dem ich mein Gepäck abgestellt hatte. Mit Budget Hotels habe ich zeitlebens gute Erfahrungen gemacht. In Asien traf man in solchen Häusern viele Alleinreisende, mit denen man sich austauschen konnte, und weil auch Einheimische diese preiswerten Unterkünfte frequentierten, erhielt man eine Injektion Lokalkolorit gratis dazu. Leider wurden die Zimmer im Lautoka Hotel auch stundenweise für genau definierte Zwecke vermietet, so dass auf den Fluren ein Kommen und Gehen war.  Da die Durchgänge eng und die Gäste breit waren, kam es zu regelrechtem Geschiebe  in den Treppenhäusern, das die ganze Nacht anhielt. Die Verrichtungen hinter den geschlossenen Türen liefen allerdings,  soweit ich das beurteilen konnte,  schnell und schnörkellos ab. Tür auf, Tür zu, Ruck zuck, und auf Wiedersehen.

  Am nächsten Morgen checkte ich in aller Frühe aus und  nahm ein Sammeltaxi zurück nach Nadi. Um zu verhindern, dass ich auf der Rückbank zwischen hünenhaften Melanesiern zerquetscht wurde, zahlte ich einen Aufpreis für einen freien Platz im Fahrerhaus, wo es neben der stattlichen Freundin des Fahrers aber auch recht eng wurde. In Nadi stieg ich in einen Bus, der mich zum Hide Away Ressort an die Südküste brachte.  Dort buchte ich einen Bungalow direkt am Meer mit einer kleinen  Terrasse und Strandzugang. Vielleicht war die Zeit des low budget travellings vorbei, und ich brauchte ab und an ein wenig Komfort, um die Seele im Lot zu halten. Erleichtert schmiss ich meinen Rucksack in die Ecke und nahm eine ausgiebige Dusche.