Mit den Seetagen bei Kreuzfahrten verhält es sich wie mit der Maische beim Rotwein. Sie gehört zwar irgendwie dazu, ist aber nicht immer ein Genuss. Theoretisch ein Tag der Entspannung, handelt es sich bei einem Seetag in Wahrheit um eine sozialpsychologische Herausforderung, bei der über zweitausend einander wildfremde Menschen auf einem Schiff eingesperrt sind, ohne dass sie herauskönnen. Das mochte sich übertrieben anhören, aber schon auf der AIDAdiva hatte ich erlebt, wie leicht Enge und Hitze zu Reizbarkeiten führen konnten. Oder anders herum formuliert: Seetage stellen hohe Anforderungen an das zivilisatorische Niveau der Kreuzfahrtteilnehmer. Norbert Elias epochales Werk „Über den Prozess der Zivilisation“ fiel mir ein, in dem beschrieben wurde, wie sich der moderne Mensch erst durch einen jahrhundertelangen Prozess der Traktierung mit Scham- und Peinlichkeitsschwellen zu einem selbstkontrollierten Wesen entwickelt hatte, das auch mit Stress und übermäßiger Nähe zurechtkam. Kein Zweifel, dass der Seetag als Reiseetappe genau dieses hohe Ausmaß an Triebverzicht und Selbstkontrolle erforderte und dass ein Seetag mit Papuas oder Maoris ganz anders verlaufen würde. Womit ich nichts gegen Papuas oder Maoris gesagt haben möchte, außer, dass ich sie immer mal wieder um ihre natürliche Spontanität beneide.
Weil auch die zivilisatorische Domestizierung ihre Grenzen hat, wurden die Seetage auf der Mein Schiff 6 durch eine Reihe therapeutischer Angebote begleitet. Diese Therapieveranstaltungen kamen daher im Gewand von Unterhaltungsveranstaltungen und hießen „Fleischverkostung mit dem Kapitän“, „Hologramm-Show“ oder „Saunaaufguss mit ätherischen Ölen“. Allerdings war die Nachfrage nach solchen Veranstaltungen auf der Mein Schiff 6 gering, denn nahezu alle Gäste zog es zum Pool. Es war, als machten sich hier uralte Instinkte bemerkbar, vergleichbar denen der Gnus, die immer zur Tränke streben, oder als gäbe es mitten im Meer keinen besseren Ort als direkt am plätschernden Pool. Unter diesen Umständen stieß selbst die großzügig angelegte Poollandschaft der Mein Schiff 6 an ihre Grenzen. Es war einfach nicht genug Platz für alle da, was unweigerlich zu einem kreuzfahrtspezifischen Problem führte, das sich bislang als unlösbar erwiesen hatte: dem Problem der Liegen-Blockierer.
Wie die Termiten im afrikanischen Rundhaus gehören auch die Liegen-Blockierer zur Grundausstattung eines Kreuzfahrtschiffes. Sie sind immer da und erscheinen in der Regel bereits lange vor der Frühstückszeit auf dem Pooldeck, um Liegen oder Polsterflächen mit Handtüchern zu reservieren. So war es auch auf der Mein Schiff 6. Was war also zu tun? Auf der AIDAdiva hatten wir uns in dieser Hinsicht vornehm zurückgehalten, was dazu geführt hatte, dass wir während der Seetage heimatlos über das überfüllte Pooldeck irren mussten. Das sollte diesmal anders werden, entschied meine Gattin und scheuchte mich bereits am Morgen des ersten Seetages in aller Frühe aus der Kabine. Mürrisch und von schlechtem Gewissen geplagt schlich ich mich auf das Oberdeck, wo ich bereits auf so viel Gleichgesinnte traf, dass es mir gerade noch gelang, eine gepolsterte Liege auf Deck 14 mit Blick auf Pool und Meer zu ergattern. Bingo, der Seetag war gerettet, die scheelen Blicke der auf den einfachen Liegen schmachtenden Mitreisenden mussten ertragen werden.
Leider hatte ich die Liege ohne Berücksichtigung von Sonnenstand und Route gewählt. Die karibische Vormittagssonne war durchaus zu ertragen, spätestens ab Mittag aber wurde es unerträglich heiß, so dass sich viele, die auf schattenlosen Liegeplätzen lagen, entweder zur Bar oder in die Kabine flüchteten (mit ihren Handtüchern ihre Liegen aber weiter reservierten). Es gab aber auch Virtuosen der Selbstverbrennung, die durchhielten und nicht davor zurückschreckten, ihre heiße Hülle durch eiskaltes Bier inwendig zu kühlen.
Als wir am Ende des ersten Seetages das Atlantik-Restaurant aufsuchten, glich der Essraum einer Indianer-Versammlung. Die fahle Blässe des Nordens war aus den Gesichtern der Gäste verschwunden und einer mehr oder weniger starken Rötung gewichen, von der man nur hoffen konnte, dass sie sich bald in eine gesunde Bräunung verwandeln würde. Bei manchen konnte man guter Hoffnung sein, andere boten einen besorgniserregenden Anblick.
Aufgabenstellung: Suchen Sie die freie Liege