Bruno Baumann: Kailash – Tibets heiliger Berg
Kein Berg der Erde kommt an geographischer Harmonie und religiöser Bedeutung dem Kailash gleich. In seinem unmittelbaren Umkreis bündeln sich so viele Symmetrien und Einzigartigkeiten, dass die menschliche Phantasie wie selbstverständlich von Anbeginn der Zeiten an das Wirken von Göttern und Geistern voraussetzte. Der Kailash oder der „Kang Rinpotsche“, wie ihn die Tibeter nennen, ist für Hindus und Buddhisten, Jainas und Bön die irdische Entsprechung des Weltberges Meru, der nach der altindischen Schöpfunsmythologie im Zentrum des Kosmos nicht nur von sieben Ozeanen umgeben sondern auch der Ursprung der vier großen Lebensflüsse ist. Und tatsächlich entspringen im unmittelbaren Umkreis des Kailash, dem höchsten Plateau des Transhimalaya, der Indus und der Karnali, der Brahmaputra/Tsangpo und der Sutlej, vier der fünf großen Ströme Südasiens, die den Lebensraum von über einer Milliarde Menschen wie die Speichern eines gigantischen Weltenrades umfassen. Auch die Quelle des fünften und heiligsten von allen, des Ganges ist nicht weit – seine Quelle bei Gangotri wird nach der festen Überzeugung der Gläubigen über eine unterirdische Verbindung aus den Gewässern des heiligen Manansarwoar See zu Füßen des Kailash gespeist. Und über den Quellen, die von diesem zentralen Punkt des asiatischen Kontinents das Leben eines ganzen Weltteils sichern, erhebt sich der Kailash in einer Schönheit und Perfektion, die für den Gläubigen keinen Zweifel an seiner Göttlichkeit erlaubt: als buddhistische Kristallpagode, als Weltachse Jampudvidas oder als Shiwas Haus mit seinem überirdisch anmutenden Dach aus ewigem Eis. Nicht genug damit, dass die Natur inmitten einer flach anmutenden Gebirgszuges einen einen 6.675m hohen Berg hervorbrachte, der an einen gigantischen Tempel erinnert – sie hat sie ihm, ebenso wie jeder südasiatische Tempel seine heiligen Gewässer besitzt, auch noch zwei Seen zugesellt, deren Gegensätzlichkeit kaum größer sein könnte. Der Manasarowar-See und der Raksas Tal, zwei etwa gleich große und nur durch eine Hügelkette getrennte Zwillingsseen verkörpern für die Tibeter als Teil eines universalen Mandalas die gegensätzlichen Aspekte des Lebens: Männliches und Weibliches, Solares und Lunares, Geistiges und Emotionales, die Widersprüche des Lebens, die nur in der Andacht aufgehoben werden können, finden ihre geographische Entsprechung in den Gewässern zu Füßen des heiligen Berges.