Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

51QY8yu3UwL._SX314_BO1,204,203,200_Tsuruku Tazaki ist 36 Jahre alt und ein Experte für Bahnhofsbau. Er lebt zurückgezogen in Tokio, macht die eine oder andere Dienstreise, erlebt ab und an eine Affäre, führt aber ansonsten eine Nischenexistenz. Erst seine Bekanntschaft mit der erfolgreichen Reisekauffrau Sara Kimoto zwingt ihn, sich über sein bisheriges Leben Rechenschaft abzulegen.  So wie Murakami Tazakis Leben in unterschiedlichen Rückblenden darstellt, war es ein Leben, das von einem wesentlichen Verlust geprägt wurde, denn unmittelbar nach Abschluss der Oberschule in Nagoya war er von seinen vier besten Freunden, mit denen er bis dahin ein Herz und eine Seele gewesen war, ohne Begründung aus dem gemeinsamen Kreis ausgestoßen worden. Bei diesen vier Freunden handelte es sich um den hochintelligenten Aka, den sportlichen Oumi, die schöne Shirane und die kesse Kurono, deren Namen übrigens alle eine Farbanspielung beinhalten, während allein Tsuruku Tazakis Name mit Farben nichts zu tun hat, im Sinne des Buchtitels also „farblos“ ist. Die unerklärliche  Verstoßung führt bei Tsuruku Tazaki zu regelrechten Todessehnsüchten und körperlichem und sozialem Verfall, von denen er sich erst nach geraumer Zeit befreien kann. Maßgeblichen Anteil an dieser Befreiung gewinnt die  Freundschaft mit dem Physikstudenten Haida, einer klassisch gebildeten und philosophisch interessierten Persönlichkeit, die Tazaki eine Reihe von Denkanstößen vermittelt, unter anderem die Bekanntschaft mit Liszt „Le Mal du pays“, einem Klavierstück, das auch die schöne und musikbegabte Shirane gerne gespielt hat. Es wäre vielleicht keine schlechte Idee, sich dieses Klavierstück von YouTube herunterzuladen und als Hintegrundmelodie zur Lektüre dieses Buches zu hören.

16 Jahre nach der Verstoßung Tsuruku Tazaki macht sich der Protagonist nun also nach Nagoya auf, um endlich den Grund für seine Verstoßung herauszufinden. Der ehemals so sportlich Aka arbeitet inzwischen als erfolgreicher Lexus-Verkäufer für Toyota, und der intelligente Oumi hat sich in der Personaloptimierung selbständig gemacht. Von ihnen  erfährt Tazaki zu seiner grenzenlosen Überraschung, dass die schöne Shirane vor sechzehn Jahren behauptet hatte, von ihm, dem blassen Tsuruku Tazaiki, bestialisch vergewaltigt worden zu sein. Die Beweise für eine echte Vergewaltigung der sogar eine Schwangerschaft und eine Totgeburt folgte, waren so überwältigend, dass die drei Freunde Shirane glaubte und den Kontakt zu Tazaki abbrachen, obwohl mit der Zeit immer mehr Zweifel aufkamen. Zu allem Unglück war Shirane nach diesen Vorfällen seelisch und musikalisch retardiert und am Ende in einer Provinzstadt von einem ungekannten Mörder getötet worden. Shiranes Freundin Kurono, die sich eine Zeitlang um die labile Shirana gekümmert hatte, war vor dieser sozialen Last noch vor dem Mord mit ihrem finnischen Ehemann nach Helsinki geflohen, wo Tazaki sie schließlich überraschend besucht. Im Gespräch zwischen Kruno, die inzwischen finnische Staatsbürgerin geworden ist, und Tazaki werden das gemeinsame Leben der Fünfergruppe und seine damals unbemerkten Bruchstellen noch einmal aufgerollt. Wie sich zeigte, war der Freundeskreis nicht lange nach dem Ausstoß Tazaikis auseinandergebrochen, weil bald keiner dem anderen mehr etwas zu sagen hatte. Am Ende des Buches kehrt Tazaki nach Tokio zurück, resümiert sein Leben und seine weitgehend falsche Selbstwahrnehmung und gesteht der Reisebürokrauffrau Sarah seine Liebe

So erzählt, ist es nicht ganz einsichtig, warum das Buch mich spontan derart in Beschlag nahm. Wahrscheinlich  war es der thematische Aufhänger des „Ausschlusses“ einer Person aus einer Gruppe, der mich interessierte. Außerdem ist die Diktion in der wunderbaren Übersetzung von Ursula Gräfe ungemein eingängig, es ist eine Sprache  in der man sich geborgen  fühlt und die man endlos weiter lesen könnte.  Murakami gelingen einer Reihe von herrlichen Sätzen und  Bildern, etwa die vom „Talent“, das einem „Gefäß“ gleicht, in das man noch so viel hineinschütten könnte, ohne dass es größer wurde, dem überraschenden „Verblassen“ von Menschen, so dass man unwillkürlich eine  Fernbedienung mit Scharfeinstellung vermisst. Alle Figuren bis hin in die Nebendarsteller sind scharfsinnig und akribisch ausgeführt, wenngleich die dabei verwendete Psychologie etwas Werkzeughaftes besitzt.   Wie immer bei Murakami stößt man sich allerdings auch an der  einen oder anderen Formulierung, die eher an Bastei-Lübbe Romane erinnert  als an das Buch eines großen Erzählers – wie etwa „Das meiste staute sich unausgesprochen irgendwo in den Tiefen ihrer Seele“ oder die Wendung, „Schamhaar, so feucht wie der Regenwald“, bei denen sich mir unwillkürlich die Frage aufdrängt: War das Absicht oder hat der Lektor gepennt?