Tomás Elroy Martinez: Der Tango-Sänger

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„Buenos Aires „ist nicht von Meer und Hügeln umgeben wie Hongkong oder Nagasaki, noch durchzieht sie ein Fluss, auf dem Jahrhunderte der Zivilisation dahingefahren sind, wie London, Paris, Budapest, Genf, Prag oder Wien. Kein Mensch kommt nach Buenos Aires, weil er auf der Durchreise nach irgendwo anders ist. Jenseits der Stadt gibt es kein anderswo. Die Räume an nichts, die sich im Süden auftun, wurden schon auf den Karten des 16. Jahrhunderts Land des unbekannten Meeres, Land des Kreises und Land der Giganten genant, imaginäre Namen für die Nichtexistenz.“ (S. 131f.) In diesem letzten Winkel der belebten Welt gilt, „dass das wirkliche Labyrinth von Buenos Aires seine Menschen sind. So nah und gleichzeitig so fern. Äußerlich so einheitlich und innerlich so verscheiden. So voller Scham, wie Borges das Wesen des Argentiniers charakterisierte, und zugleich so schamlos.“

Das Symbol dieser Stadt Buenos Aires ist der Tango-Sänger Julio Martell, eine körperlich monströse Erscheinung mit edler Gesinnung und einer noch viel edleren Gesangsstimme, der in einer nicht vorhersagbaren Sequenz an verschiedenen Orten von Buenos Aires seine begnadete Tangostimme erhebt. Warum das? fragt sich der junge amerikanische Tangoexperte Bruno Cadogan und  verfolgt die Route des Tangosänges – um dabei immer intensiver mit der tragischen Geschichte dieser Stadt konfrontiert zu werden. Da ist zunächst der gigantische und inzwischen funktionslose Wasserpalast, der früher die Wasserversorgung der Stadt garantierte und der zum Schauplatz eines furchtbaren Mordes wurde, das sind die Rinderschlachthöfe, deren bestialische Tötungsabläufe schockieren, da ist das geheimnisvolle Parque Cha, ein Viertel voller ungerader Straßen, in denen sich der Protagonist natürlich verläuft und nicht zuletzt ist da Fuerte Apache, ein Elendsviertel am Rande der Stadt, aus dem heraus Tausende Plünderer in den Tagen des argentinischen Staatszusammenbruchs Supermärkte und Banken stürmen. Diese Schauplätze werden ergänzt durch eine ganze Galerie argentinischer Schicksalen, deren gemeinsamer Nenner nicht nur eine eigentümliche Mischung aus Kuriosität und Tragik ist sondern die in ihrer Gesamtheit eine Vorstellung von dem Menschenschlag vermittelt, der die Metropole am Rande des großen Südens bewohnt. Die junge Jüdin Violetta Miller, die mit einem Heiratsversprechen aus Lodz nach Buenos Aires gelockt wird und dort eine jahrelange Agonie in den Bordellen der Stadt erlebt, ehe ihr die Flucht gelingt, verrät am Ende ihr Hausmädchen Catalina Godell, die sich doch nur ihrerseits auf der Flucht vor dem Terror der argentinischen Militärherrscher befand. Der Bibliothekar Bonorino hütet in seinem kaum bewohnbaren Keller das Borges´sche Aleph, jenen geheimnisvollen Punkt, der alle Orte und Zeiten des ganzen Universums, während der „Tucumaner“ versucht, ein anderes, unechtes  Aleph gegen Bezahlung Touristen vorzuführen.  Der linksperonistische Montonero Andrar de Perez stiehlt den Sarg des ermordeten Präsidenten Amburu, um die Überführung der Leiche Evitas nach Buenos Aires zu erzwingen.  Und so weiter. Und so weiter.

Am Ende dieser imaginären Reise durch Orte und Schicksale entdeckt Cadogan mit Hilfe der nicht minder geheimnisvollen Alcira den todkranken Tangosänger in einem Krankenhaus und kann auch sein Geheimnis lüften: die Plätze, Straßen und Parks, in  denen Julio Martell auftrat, waren Orte ungesühnter Verbrechen. Seine Gesänge erinnerten an die Momente des namenlosen Leids, an jenes schreckliche Unterfutter auf dem sich die dunkle Geschichte der Stadt beruht. Aha, so ist das  also.

Man sieht, ein ungemein ambitioniertes Buch, wie aber ist es gelungen? Zunächst: Wenn die Anstrengung, die ein Leser aufbringen muss, um ein Buch ansatzweise zu verstehen und zu Ende zu lesen, ein Maßstab ist, dann ist es ein großartig gelungenes Buch. Für denjenigen aber, der nur Buenos Aires auf eine literarisch ansprechende Weise kennen lernen will, ist es aber Schwerstarbeit. Natürlich steht hinter allem der große Borges –  nicht nur das bereits erwähnte Aleph geistert durch das Buch, auch die Gestalt von Julio Martell trägt unverkennbare Züge des „chronometrischen Funes“ aus der Borges-Kurzgeschichte „Das unerbittliche Gedächtnis“, und die ach so rätselvollen Auftritte des Tangosängers ergeben natürlich ein rhombenartiges Muster, das an die Borges- Kurzgeschichte „Der Tod und der Kompass“ erinnert (Das letztere teilt Martinez dem Leser auch noch ausdrücklich mit!). Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn es nicht so plakativ und unübersehbar daherkäme und – sorry Tomas – wenn es nicht auf eine Weise fabriziert wäre, die einen nur sehnsüchtig an den großen Borges denken lässt, der sich immer so wunderbar kurz fasst. Die Vielfalt der Zeichen und Fährten, die der Autor legt, ermüden und  erwecken schließlich nur noch den Eindruck der Beliebigkeit. Von wenigen Aussagen abgesehen, ist auch die Sprache des Buches nicht immer ein  Genuss. Sie kommt oft gewölbt daher, andeutungsvoll, ohne wirklich auch die Deutungen zu enthalten, die sie verheißt. Am Ende blickt Julia Martell mit seinen „von den Orkanen der Seele zersaustem Haar“ den Protagonisten an, der in sich geht und merkt, dass er „abstumpfte, im Unnichts dessen, was ich nicht tat“(S. 204). Na prima.

Rate ich deswegen von der Lektüre des Buches ab? Nein, aber ich empfehle sie nur denjenigen, die sich wirklich für Buenos Aires interessieren, die ein wenig von Borges gelesen haben und bereit sind, sich durch dieses komplexe literarische Aleph hindurchzuwühlen. Denn ganz von der Hand weisen kann man ja nicht, dass die Stadt, von der Martinez erzählt, tatsächlich so wirr ist, wie das vorliegende Buch

 

 

 

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