Südafrika Leseprobe 2: Schande

  Denn viel entscheidender war etwas anderes. Die Xhosas, oft sie auch besiegt worden waren, waren niemals weg gewesen. Sie waren auch nach ihrer Niederlage geblieben, zuerst als  Hilfsarbeiter und Tagelöhner, später als  Kleinbauern und Widerstandskämpfer, ehe sie der Wandel am Kap wieder zu den Herren des Landes gemacht hatte. Obwohl die Weißen noch immer wohlhabender waren als der Durchschnitt der schwarzen Bevölkerung, rückten sie politisch an den Rand, manche von ihnen waren auch wirtschaftlich inzwischen so marginalisiert wie Mike in Port Elisabeth.

  Auf den ersten Blick war davon in Grahamstown wenig zu sehen. Schwarze und weiße Händler verkauften auf dem Innenstadtmarkt nebeneinander ihr Gemüse. In einer Warteschlange vor der  Bank standen weiß und schwarz einträchtig nebeneinander. Eine schwarze Hochzeitsgesellschaft kam aus einer Backsteinkirche, der Pfarrer war weiß, ein Polizeiauto fuhr langsam vorüber, seine Insassen waren schwarz.  Alles sah friedlich aus in Grahamstown, auch wenn zwei ältere Damen, die einen Kiosk betrieben, durch ein Gitter vor dem Ausgabefenster vor Überfällen geschützt waren. Aber was war Schein, was war Sein? 

   Kein Geringerer als der südafrikanische Nobelpreisträger J. M. Coetze hatte die Umgebung von Grahamstown ausgewählt, um die Zerbrechlichkeit dieser Normalität in seinem großen Roman „Schande“  (im Englischen „Disgrace“, was eigentlich „Ungnade“ bedeutet)  darzustellen. In welchem der umliegenden Dörfer der  Roman spielte, war dem Buch nicht zu entnehmen,  möglicherweise war es auch ein fiktiver Ort, aber ich war mir sicher, dass Coetze vor der Abfassung seines Romans in der Umgebung von Grahamstown recherchiert hatte. So fuhr ich auch ein wenig in der Umgebung herum, passierte den Flughafen, dann das Grahamstown-Gefängnis, hielt mich südlich in Richtung Salem, schlug mehrere Haken, sah Vieh auf der Weide, Farmer auf  den Feldern und Arbeitskolonnen beim Straßenbau. Es gab auch einige Naturschutzgebiete, eine Schnellstraße, die nach East London führte, aber auch Blechbuden und Squatter Siedlungen. War es ein Zufall, dass „Schande“ gerade in der Umgebung von Grahamstown spielte oder hätte man Schauplatz des Romans auch an andere Ort Südafrikas verlegen können? Wenn ich an die Geschichte dieser Grenzregion dachte, glaubte ich nicht an einen Zufall.

  Ich hatte „Schande“ vor Jahren das erste Mal gelesen, und ich erinnerte mich noch genau an die Hauptperson, an  Professor David Lurie, einen geschiedenen, eitlen Womanizer, den eine Affäre mit einer Studentin die Stellung kostete  und der sich daraufhin in die Provinz rund um Grahamstown zurückzog. Hier lebte seine Tochter  Lucy und betrieb eine kleine Farm mit einer angeschlossenen Hundepension.  Vater und Tochter hatten sich noch gar nicht wieder aneinander gewöhnt, da wurden sie Opfer eines Überfalls. Drei Schwarzafrikaner überfielen die Farm, vergewaltigten Lucy und versuchen David Lurie, der seiner Tochter zu Hilfe kommen wollte, zu verbrennen.  Beide überlebten schwer traumatisiert, konnten aber nicht auf Aufklärung des Verbrechens hoffen, weil die allgemeine Gesetzlosigkeit längst überhandgenommen hatte. Erstaunlich, wie unverblümt der Roman die allenthalben schlummernde Gesetzlosigkeit zur Sprache brachte. Ein älterer weißafrikanischer Farmer, der in Lucys Nachbarschaft lebte und der Gewalt nicht weichen wollte, ging nicht mehr ohne sein Gewehr schlafen. Dass er noch lange leben würde, glaubte er selbst nicht.    

  Diese ungeschminkte Darstellung hatte mich schon bei der ersten Lektüre des Romans verblüfft.  Noch verblüffender aber war die Reaktion Lucys auf die Vergewaltigung: sie verzichtete auf eine Anklage gegen die drei Verbrecher und verschwieg das Verbrechen – allerdings vergeblich, wie sich herausstellte, weil die Täter ihre Tat völlig unbekümmert bekannt machten. Alles Drängen des Vaters, die  Täter verfolgen zu lassen, verpuffte am düsteren Realismus der Tochter, die den Weg der Unterwerfung wählte. Sie wurde die Zweit- oder Drittfrau eines erfolgreichen schwarzafrikanischen Farmers, der in der Lage war, sie vor weiteren Vergewaltigungen zu beschützen. Sie wählte ein Leben in der Kapitulation auf dem untersten Niveau der Anpassung an die neuen Verhältnisse im Land. 

   Ich hatte im Vorfeld der Reise beschlossen, das Buch ein  zweites Mal zu lesen, hatte in Kapstadt damit begonnen, in der Weinprovinz pausiert, um nach Plettenberg wieder intensiver weiterzulesen.  Viel stärker als bei der ersten Lektüre erkannte ich die Vergewaltigung als extremste Manifestation der absoluten Macht. Es gibt keine größere Demütigung für ein Volk, als wenn seine Frauen vergewaltigt werden und die geschändeten Frauen die Kinder der Eroberer austragen müssen. Unzählig sind dazu die Beispiele aus der Geschichte – vom Raub der Sabinerinnen, der in Wahrheit eine Massenvergewaltigung gewesen war, über die Übergriffe der Konquistadoren und  Kolonialherren bis hin zu den Massenvergewaltigungen der Roten Armee, von denen sich die deutsche Psyche auch siebzig Jahre nach Ende des Zweigen Weltkrieges noch nicht erholt hatte. Vergewaltigung existierte in der „weichen“, aber nicht minder widerlichen Variante, wie sie Professor Lurie gegenüber seinen Studentinnen ausübte, und in der demonstrativen Variante, wie sie die drei jungen Schwarzen ausübten, um zu zeigen, wer nun in dem Land das Sagen hat. Schärfer als in der Reaktion Lucys, die sich als vergewaltigte weiße Frau in den Schutz eines farbigen Mannes  begab, um weiteren Vergewaltigungen zu entgehen, konnte man den Machtwechsel am Kap nicht darstellen. Das war in meinen Augen eine der Kernaussagen des Buches, das viel mehr als es in der öffentlichen Rezeption realisiert wurde, auch als ein Abgesang auf das alte, weiße Südafrika begriffen werden musste.