Staunen und Reisen. Kleine Geschichte der Weltwunder

Noch bevor die Titanic auf Jungfernreise ging, priesen Experten das Passagierschiff als „neues Weltwunder des 20. Jahrhunderts“. Auch Big Blue, dem bereits legendär gewordenen Schachcomputer, wurde dieses Attribut verliehen. Fremdenführer preisen die Wasserfälle an der argentinisch-brasilianischen Grenze, das birmanische Pagan oder die Reisterrassenberge auf der philippinischen Insel Luzon als „modern wonder of the world“, und mehr als 500 Monumente und Naturattraktionen schützt die Unesco in der Kategorie Weltkulturerbe der Menschheit.

Sind das alles „Weltwunder“? Was ist überhaupt ein Weltwunder? Für die Heranwachsenden der Nachkriegszeit, die nicht nur die Bilder der besten Fußballer und der höchsten Gebäude, sondern auch die Fotografien der längsten Brücken und der schnellsten Autos in ihre Alben klebten, war die Antwort klar: Weltwunder waren „das Größte“.

Was aber ist mit dem Kölner Dom? Wie steht es mit dem Empire State Building, der Golden Gate Bridge, Apollo 9 oder dem Internet? Merkwürdig, eine neue und allgemein anerkannte Weltwunderliste wurde seit dem Ende der Antike nicht mehr aufgestellt.

Irgendetwas ist mit dem Staunen über die Wunder dieser Welt geschehen. Blicken wir zurück: Die Pyramiden, die hängenden Gärten von Babylon, der Artemistempel in Ephesos, das Mausoleum in Halikarnassos, der Leuchtturm von Pharos bei Alexandria, die Zeusstatue in Olympia und der Koloss von Rhodos – das sind die Weltwunder, die der griechische Ingenieur Philon von Byzanz um 200 vor Christus dem gebildeten Publikum vorstellen will. Sein fragmentarisch überlieferter Kanon ist keineswegs die erste, sondern lediglich die älteste uns bekannte Quelle, in der die „sieben Werke“ vorgestellt werden. Denn die Antike kennt noch andere Weltwunder: den Hörneraltar des Apoll auf Delos, die Athene-Statue auf der Akropolis, den Palast des Perserkönigs Kyros in Ekbatana, das siebentorige Theben, die Brücken von Babylon. Die Römer fügten je nach Gusto das flavische Colosseum, das Kapitol oder den Hadrianstempel von Kyzikos hinzu. Welche Weltwunder auch immer in den Listen auftauchen – entweder sind es in Anlehnung an die orientalische Zahlenmystik sieben, oder es sind acht, wobei die Idee des „achten Weltwunders“, von den Römern ersonnen, nichts weiter bedeutet, als dass sich die Sieben Weltwunder in einem alles übertreffenden achten Weltwunder vollenden.

Was aber ist allen antiken Weltwundern gemeinsam? Zunächst entstammen sie samt und sonders dem griechisch-römisch-orientalischen Kulturkreis, der für die Gebildeten der damaligen Ökumene der einzige Bezugspunkt von Zivilisation und Gesittung darstellte. Sodann sind sie Schöpfungen, bei denen ihre Erbauer und Gestalter bis an die Grenze dessen gingen, was im Verständnis der Zeit menschenmöglich war. Und schließlich handelt es sich durchweg um technisch-künstlerische Enormitäten. Ein imposantes Naturpanorama, einen heiligen Berg wie den Olymp oder eine gewaltige Schlucht wird man in den antiken Weltwunderlisten vergeblich suchen.

Nicht dass die Griechen für die Schönheiten der Natur unempfindlich gewesen wären: Von Homer bis Apollonios von Rhodos finden sich Passagen, in denen Berge erklommen und Aussichten genossen werden – dieses Naturbehagen ist jedoch nicht mit der Bewunderung vergleichbar, die der antike Mensch im Angesicht menschlicher Leistungen empfand. Der griechische Schriftsteller Pausanias, der im 2. nachchristlichen Jahrhundert eine Perihegesis tes Hellados, eine Art Baedeker der Antike, verfasste, beschreibt jeden Wald- und Wiesentempel, aber von der Schönheit der griechischen Landschaft erfahren wir nichts. Nein, die Bewunderung in ihrer ausgeprägtesten Form blieb dem technisch-künstlerischen Weltwunder vorbehalten – wobei es für Philon von Byzanz zum Inbegriff der Bildung gehörte, von der Existenz dieser menschlichen Höchstleistungen auch dann zu wissen, wenn man nicht die Gelegenheit hatte, sie zu besuchen. Mit anderen Worten: Die Bewunderung dieser Werke war ein Merkmal der Zugehörigkeit zur antiken Welt.

Mit dem Untergang der griechisch-römischen Antike änderte sich alles. Nach Experimenten in frühmittelalterlicher Zeit, in der die heidnischen Weltwunder zugunsten der Hagia Sophia oder des Salomonischen Tempels, schließlich sogar zugunsten der Arche Noah ausgemistet wurden, wachsen die Listen über die bisher sakrosankte Siebener-/Achterzahl hinaus. Zusammenstellungen mit zwölf, sechzehn, schließlich sogar neunundzwanzig Wundern werden konzipiert – und bleiben unbeachtet. Die Tradition der Sieben Weltwunder scheint an ihr Ende gekommen zu sein.

 Tatsächlich erfüllen die Reliquien in der mittelalterlichen Welt für die kollektive Bewunderung jene gemeinschaftsbildende und zugleich partizipative Funktion, die in der Antike die Weltwunder innehatten. Was nicht etwa bedeutet, dass die architektonischen Fähigkeiten des Mittelalters hinter denen der Antike zurückgeblieben wären – zur Aufbewahrung der Reliquien etwa der Heiligen Drei Könige oder des heiligen Jakobus wurden in Köln und Santiago de Compostela Bauwerke errichtet, die es mit jedem antiken Weltwunder hätten aufnehmen können – und doch galten sie nur als Behältnisse des Heiligen.

Im Unterschied zur antiken Weltwunderidee geht mit dem neuen Modus der kollektiven Bewunderung ein hohes Maß an Mobilität einher. Nicht nur die Gläubigen pilgern auf der Suche nach Heil und Vergebung bis nach Jerusalem und Santiago de Compostela an das östliche und das westliche Ende der christlichen Welt – auch die Reliquien reisen. Die Weltgeschichte treibt die Überreste des heiligen Spirídon von Zypern nach Konstantinopel über Albanien nach Korfu, die Gebeine des heiligen Markus werden von den Venezianern, unter Schweinefleisch verborgen, aus Ägypten herausgeschmuggelt, und vom heiligen Nikolaus liegt noch heute ein Fuß in Myra und der Rest in der Kathedrale von Bari.

Der Besitz oder die Verwertung bedeutender Reliquien entwickelt sich in jener Zeit zu einer Art Standortfaktor, für dessen Maß im Mittelalter sogar Ranking-Systeme existieren. So rangiert im 13. und 14. Jahrhundert Santiago de Compostela mit einer Messmarke von 4000 Vaterunsern, die man zu beten hat, wenn man die Wallfahrt nicht unternimmt, hinter Jerusalem und Rom (je 8000 Vaterunser) im oberen Segment der herausgehobenen Pilgerziele und weit vor dem heiligen Köln, das als verpasstes Pilgerziel nur bescheidene 1000 Vaterunser wert ist.

Mit der Renaissance geht zwar die Volksgläubigkeit keineswegs zu Ende, aber mit der „Wiedergeburt der Antike“, die schon von den Zeitgenossen als epochaler Vorgang begriffen wird, beginnen sich die kollektiven Formen von Bewunderung und Andacht zu verschieben. Christliche Demut und Bescheidenheit, aus der heraus die Bewunderung nur dem wahrhaft Heiligen gelten konnte, treten hinter eine erneute Wertschätzung menschlicher Werke zurück. „Die Vollendung der Persönlichkeit“ überschrieb Jacob Burckhardt eines der zentralen Kapitel seiner Kulturgeschichte der Renaissance, in dem er am Beispiel Dantes, Albertis und Leonardos den Drang des großen Mannes beschreibt, immer und überall der Erste sein zu wollen. Und als der Condottiere Gattamelata vom Bildhauer Donatello gleich neben der Kathedrale von Padua sein Abbild als die erste frei stehende Reiterstatue seit Mark Aurel errichten lässt und es ihm Bartolomeo Colleoni in Venedig gleichtut, hat die Ruhmsucht die öffentliche Akzeptanz des Ruhmes schon wieder überholt.

Auch die geblähten Wunderlisten werden nun von mittelalterlichen Hinzufügungen gereinigt. Vorübergehend findet das römische Colosseum Eingang in die wiederhergestellten Weltwunderlisten. Letztendlich aber bleibt es beim antiken Siebenerkanon.

Warum wurde die renovierte Liste nicht fortgesetzt? An technisch-künstlerischen Höchstleistungen bestand weder im 16. noch im 17. Jahrhundert ein Mangel: Der Petersdom, das Schloss von Versailles, die Festungsbauten oder die Kanäle der absolutistischen Könige können sich an Aufwand und Raffinesse mit jedem antiken Weltwunder messen. Doch so wie den frühchristlichen Kirchenvätern die Spitzenleistungen der antiken Technologie merkwürdig irrelevant für das Seelenheil der Menschen erschienen, so entwickelt sich bald auch im neuzeitlichen Europa ein geradezu modern anmutender Verdruss an der mathematisch-naturwissenschaftlichen Überwältigung der Welt.

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist der überwältigende Erfolg der ersten berühmten Preisschrift von Jean Jacques Rousseau zu verstehen, der im Jahre 1749 auf die Preisfrage der Akademie von Dijon, „ob der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat“, mit einer temperamentvollen Verneinung antwortet. „Die Wissenschaften“, schreibt Rousseau „sind unnütz, durch das, was sie erstreben und noch viel gefährlicher durch die Wirkungen, die sie hervorbringen.“ Aus dieser folgenreichen Denunziation der modernen Wissenschaften erwächst bei Rousseau ein nicht weniger folgenreicher Therapievorschlag, der unter dem Schlagwort „Zurück zur Natur“ die Epoche der Aufklärung vollendet und überwindet.

Aus dem Bedrohlichen und Kreatürlichen, vor dem sich der Mensch hinter die wachsenden Schutzwälle von Zivilisation, Technik und Sitte verbarrikadiert hatte, entstand nun bald das romantische Naturgefühl mit seiner Dialektik von Schaudern und Annäherung – und schließlich die idyllische Idee von Gottes großem Garten, in dem für jeden, der ein gutes Herz besaß, die Handschrift des Schöpfers auf Schritt und Tritt zu sehen war.

Der alexandrinische Leuchtturm von Pharos war noch zu dem Zweck erbaut worden, im Angesicht von Wetterumschwüngen und Stürmen den Seefahrern schon von weitem einen sicheren Hafen zu weisen. Bei Immanuel Kant, der seine Bestimmung der Natur schon unter dem Einfluss der Rousseauschen Wendung vollzieht, erhalten die bedrohlichen Eruptionen der Natur eine gänzlich andere Wertung: „Kühn aufragende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörerischen Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, Ozeane, in Empörung versetzt“, diese und andere Naturerscheinungen sind nach Kant „erhaben“, weil „sie die Seelenstärke über ihr natürliches Mittelmaß erhöhen, und ein Vermögen zu widerstehen und von ganz anderer Art in uns erwecken“.

Eine Melange beider Empfindungsweisen dürfte der psychologische Hintergrund der letzten großen Entdeckungsreisen zwischen 1760 und 1910 gewesen sein. René Caillié und Mungo Park, die ihre Wege kreuz und quer durch Westafrika suchten, taten dies nicht nur, um Timbuktu oder den Niger zu finden; Louis Antoine de Bougainvilles Beschreibungen des frühen Tahiti schwankten zwischen einer realistischen Bestandsaufnahme und dem Wunsch, sich von diesem Stück Erde verzaubern zu lassen. David Livingstones endlose Fußwanderungen durch den Süden Afrikas sind, liest man seine Tagebücher in dieser Hinsicht, eine einzige Selbsterprobung und Gottsuche. Und die Transhimalaya-Trilogie von Sven Hedin ist voll von Passagen, in denen der schwedische Forscher die Härte des tibetischen Klimas als willkommene Herausforderung auffasst und Tibets Grandiosität anschwärmt wie eine religiöse Offenbarung.

Deswegen enden die spektakulären Reisen auch keineswegs in dem Augenblick, als der letzte weiße Fleck auf der Landkarte getilgt war. Thor Heyerdahl überquert den Pazifik, um eine krude Theorie zu beweisen, Reinhold Messner besteigt den Everest ohne Sauerstoffmaske, und der Schweizer Bertrand Piccard umrundet die Erde im Ballon. Auch wenn jede dieser Aktivitäten als eitel und unnütz verschrien wurde – eine Sehnsucht nach Entdeckung, Abenteuer und Selbsterfahrung hat die modernen Gesellschaften erfasst.

Es wäre deswegen gänzlich falsch zu erwarten, dass sich nach den künstlerisch-technischen Höchstleistungen der Antike und der Reliquienverehrung des Mittelalters nunmehr ein neuer Kanon von erstrangigen „Naturwundern“ herausbilden würde, der als eine moderne Weltwunderliste anzusprechen wäre. Auch wenn sich die spektakulären Naturattraktionen, möglichst noch durchmischt mit malerisch drapierten Ruinenresten, für diese Stimulierung in besonderer Weise zu eignen scheinen, ist es prinzipiell gleichgültig, an welchem Objekt sich der moderne Mensch erhebt . Denn im Kern wirft jede Konfrontation mit außerordentlichen Natureindrücken den Erlebenden auf sich selbst zurück.

Ein diffuses Gefühl von Glück, Erfüllung oder Gottesbegegnung, aber auch Anmutungen der Leere: Die Gefühle, die der Mensch im Angesicht des Unerhörten hat, mögen zunächst so unterschiedlich sein wie nur vorstellbar – ihr gemeinsamer Nenner ist die Selbstbegegnung. Die Hochschätzung der Natur entpuppt sich so auch als ein selbstbezügliches, ein narzisstisches Projekt, als einer der Höhepunkte in der modernen Geschichte der Subjektivierung. Die Umrundung des heiligen Berges Kailash in Tibet, das Erlebnis der Namib-Wüste, die Betrachtung der Szenerien von Angkor Wat und Machu Picchu, in denen die Geschichte gleichsam in die Natur zurückkonvertiert, der Anblick der Victoria-Fälle oder eines kalbenden Riesengletschers in Perito Moreno sind nur einige der bevorzugten Anlaufstellen dieses modernen Pilgertourismus. Im Prinzip sind beliebig viele andere Ziele denkbar, wenn sie nur das Weltwundererlebnis initialisieren.

So bleibt auf die einleitende Frage nach dem Verbleib der modernen Weltwunder nur die Antwort: Sie existieren im Kopf und warten dort, als Drehbücher der Selbsterfahrung, darauf, verwirklicht zu werden.