Leseprobe Kapitel 9: Der gute Ortsvorsteher

Während Jozef den Raum erließ, um Halka und Janka zu suchen, erschien der Lehrer im Klassenzimmer und nahm die Grüße der Eltern entgegen. Er trug er einen neuen Anzug mit Jackett, gebügelten Hosen, sauberen Schuhen und sah wie eine Autoritätsperson aus. „Ich hoffe, dass ich mich meines Vorgängers, des bedeutenden Pädagogen Fransziscek  Kattanski würdig erweisen kann“, sagte er zu Maria. „Ich habe nur Gutes über ihn gehört“.

  Maria dachte an den alten Sabberich und antwortete: „Er war ein großer Patriot.“

  „Das bin ich auch“ versicherte Kosolski und blickte Maria tief in die Augen. Kosolski hatte runde, leicht asymetrische Augen und blinzelte ein wenig. Es waren Städteraugen, denen anzusehen war, dass sich hinter ihnen  zu viele Gedanken tummelten. „Aber wir haben doch jetzt noch ein zweites Vaterland“, fügte er hinzu. „Die Gemeinschaft der sozialistischen Volksrepubliken unter der Führung der  großen Sowjetunion“

  Dazu wusste Maria nichts zu antworten, und es entstand eine Gesprächspause. Dann setzte August Kosolski wieder ein. „Genossin Kaminska, haben Sie eigentlich unsere künftige Leihbücherei gesehen?

  „Nein.“

  „Ich zeige sie Ihnen“, bot Kosolski an. „Folgt mir.“

  Die künftige Leihbücherei entpuppte sich als kleiner Raum mit einem Tisch, zwei Stühlen und einem halb mit Büchern gefüllten Regal. „Es werden bald noch mehr Bücher kommen“, erklärte Kosolski, „Bücher für Kinder, aber auch Bücher für Erwachsene.“ Er griff ins Regal und zog ein voluminöses Buch heraus.  „Hier habe ich etwas für Sie, Genossin Kaminska, das heißt, wenn es Sie interessiert. Lesen Sie denn gerne?“

  Maria erröte. Das wusste sie gar nicht, weil sich im Haus ihrer Eltern nur wenige Bücher befunden hatten. In der Bibel hatte sie viel gelesen, aber diese Geschichten kannte sie bis zum Überdruss. 

  Kosolski trat näher an Maria heran. Er roch den Geruch frischer Seife. „ Es  stammt von einer polnischen Autorin aus Warszawa . Ihr Name ist Maria Da(o)mbrowska.“

 „Wovon handelt es?“

 „Das Buch erzählt eine Familiengeschichte aus der Zeit der Teilung, also vor dem Ersten Weltkrieg.  Es geht um einen Mann und eine Frau und die Entwicklung ihrer Liebe.“

  Maria errötete über das ganze Gesicht. Die Wendung „die Entwicklung ihrer Liebe“ kam ihr unerhört anrüchig vor.  Der Lehrer schien das nicht zu bemerken und fuhr fort. „Aber am interessantesten finde ich die Geschichte  ihrer gemeinsamen Tochter Agnieszka, die sich aus den Familienbanden löst und zu einer Freiheitskämpferin wird.“

  Mann und Frau, Liebe und Freiheit, das hörte sich zugleich fremd und verlockend an.  Maria machte ein unentschiedenes Gesicht.

 „Wollen Sie es lesen, Genossin? Ich verleihe es gerne“, bot Kosolski an. „Die Erntezeit ist vorüber, die Tage werden kürzer, da ist es gut, ein Buch zur Hand zu haben.“

  Jozef erschien im Türrahmen, neben ihm Halka und Janka, die er gesucht hatte „Ich gehe jetzt, Maria Kommst du gleich noch auf den Hof? Wir müssen noch überlegen, was wir auf den Markt mitnehmen.“

  Maria nahm das Buch aus den Händen des Lehrers entgegen und verabschiedete sich mit einem Knopfnicken von Kosolski. 

  „Was hast du da? fragte Jozef, als sie gemeinsam zu den beiden Höfen zurückgingen.  Halka und Janka waren bereits vorgelaufen.

 „Ein Buch“.

 „Was für ein Buch?“

 „Einen Roman.“

 „Einen Roman? Wovon handelt er.“

 „Das werde ich dir erzählen, wenn ich ihn gelesen habe.“

   Entgegen der Befürchtungen des Ortsvorstehers erwies sich der junge Lehrer in der praktischen Arbeit als anstellig und durchsetzungsstark. Er entwarf einen Lehrplan für drei Altersklassen, dazu einen Sitzplan, der nicht eigenmächtig verändert werden durfte. Seine Erklärungen waren verständlich, seine Tafelanschriebe lesbar und seine Beurteilungen gerecht. Jede Woche kontrollierte er, ob die Schulbücher auch keine Eselsohren aufwiesen und wie gut die Schulhefte geführt wurden. Dass sein Unterricht viel besser war als der des alten Kattanski, konnte niemand ernsthaft bezweifeln. Nur dass  das Lesenlernen nicht mehr mit Texten aus der Bibel sondern anhand der Reden des Genossen Bierut geübt wurde, kam manchen Eltern merkwürdig vor. 

   Mit dem Eintreffen August Kosolskis und seiner Leihbücherei begann für Maria Kaminska die Begegnung mit der Literatur, und diese Begegnung begann mit einem großen Erstaunen. Niemals hätte sie erwartet, dass ein Buch wie „Nächte und Tage“ sie derart fesseln könnte. Aber so war es. Das pralle Leben sprang ihr aus den Buchseiten entgegen, die Figuren, die in dem Roman beschrieben wurden, besaßen eine unerhörte Gegenwärtigkeit, als wären sie lebende Wesen. Ein unendlich weiter Teppich aus Worten breitete sich vor ihr aus, in dem sie immer neue Überraschungen entdeckte. Wieviel Leben sich auf einer einzigen gedruckten Seite entfalten konnte, setzte sie in Erstaunen, auch dass es möglich war, zwischen den Zeiten hin und her zu springen, wunderte sie. Manchmal war die Sprache so schön, dass sie die Sätze mehrfach las und den Wunsch verspürte, einzelne Wendungen aufzuschreiben. Und das wunderbarste war, dass sie heimisch wurde in den Charakteren der Hauptpersonen, dass sie schon nach kurzer Zeit in der Lage war, die Welt mit ihren Augen zu sehen und ihre Gefühle nachzuempfinden. Und was sie sah und fühlte, kreiste immer um das gleiche Thema: um die Liebe und ihre Verstrickungen und Kostümierungen. Eine Zeitlang konnte Maria es kaum erwarten, bis der Abend kam, bis alle Furchen gezogen und alle Tiere versorgt waren, um sich mit der Lampe  in ihr Schlafzimmer zurückzuziehen und zu lesen. Im ganzen Haus roch es nach  Nafta, weil maria die Lampe die halbe Nacht brennen ließ.   

    Der Roman „Nächte und Tage“ erzählte die Geschichte von Bogumul und Barbara. Bogumil  Niechcic war der  Spross eines verarmten Adelsgeschlechtes, während die schöne Barbara Ostrzenska einem gutbürgerlichen Haushalt entstammte. Von Anfang an war diese Liebe mit einem Makel behaftet, denn sie war einseitig. Die anspruchsvolle und lebhafte Barbara träumte von einer guten Partie mit luxuriösem Haushalt, von Festen und Tänzen und sah auf den armen Bogumil herab. Erst nach der bitteren Enttäuschung mit einem adligen Freier schickte sich Barbara widerwillig in die Ehe mit dem redlichen Bogumil, ganz einfach, weil sich kein besserer Freier fand. Das eheliche Leben begann, und zu Barbaras Überraschung wuchsen ihre Gefühle für den Gatten, wozu  – Maria traute ihren Augen nicht, als sie das las –  eine erfüllte körperliche Liebe zwischen den Eheleuten das ihre beitrug.  Maria wurde heiß und kalt, als sie diese Passagen las, und vor Schreck legte sie das Buch beiseite. Was bedeutete das? War denn die  körperliche Liebe etwas Eigenes, etwas Anderes als die pure Erfüllung der ehelichen Pflicht?  Wie dem auch gewesen sein mochte, drei Kinder wurden dem Ehepaar geboren, von denen die älteste Tochter Agnieszka die Auffälligste war, denn sie studierte im Ausland und verliebte sich in einen jungen Helden, der für Polens Unabhängigkeit und Freiheit sein Leben riskierte.

   Maria las das ganze Buch innerhalb weniger Wochen. Die Nächte wurden länger, der Nafta-Vorrat schwand, doch das Reich der Fantasie verlangte immer weiter nach neuer Nahrung, bis das Buch plötzlich zu Ende war. Im Vorfeld des Ersten Weltkrieges brach es ab. Unglaublich, es ging einfach nicht weiter. Wie konnte die Autorin den Lesern das antun?

  August Kosolski, daraufhin vorsichtig bei einem Spaziergang befragt, erzählte, dass die Autorin keine Zeit gefunden habe, den Roman zu Ende zu schreiben. Vielleicht aber war das plötzliche Ende auch beabsichtigt, denn so könne sich ein jeder überlegen, wie es weitergehen würde.

  Maria hatte keine Ahnung wie es weitergehen könnte, weil ihr das Verhalten der Hauptfiguren rätselhaft blieb.  Warum warb der wackere Bogumil nur so  anhaltend um die schwierige Barbara, wenn sie ihn doch immer wieder enttäuschte? Und warum tat Barbara das? Was konnte man sich als Frau Besseres wünschen als einen Bogumil, der einen unerschütterlich liebte? Und warum verlor Barbara schon bei nichtigsten Anlässen sofort die Fassung?  Sicher, ihr erstgeborenes Kind war gestorben, aber das war doch nichts im Vergleich zu den Schrecken, die fast alle Polen während des letzten Krieges hatten erdulden müssen. Barbaras Flatterhaftigkeit kam Maria wie ein Gebrechen vor, mit dem man nur in guten Zeiten überleben konnte. Gab es jemanden im Dorf, der dem Bild dieser Barbara entsprach? Nein. Maria kannte Niemanden. So etwas wie Barbara konnte es vielleicht nur in der Stadt geben, wo die Menschen nervöser waren. Ganz anders die Gestalt des Bogumil, den Maria sofort in ihr Herz schloss. Auch ihn verstand sie nicht wirklich, bewunderte ihn aber. Was für ein Mann, dessen Lebensziel in nichts anderem bestand, als seine Gattin auf Händen durchs Leben zu tragen. Aber warum schlug er nicht öfter mal auf den Tisch und brachte seine Barbara zur Raison? Es war doch seine Liebe, die ihr den Spielraum für ihre Launen gab.

 Vorsichtig fragte sich Maria, ob sie denn auch einen Bogumil kennen würde? Baruch Meyer wäre sicher kein Bogumil geworden, wenn er den Krieg überlebt hätte. Sein Sinnen war auf Höheres gerichtet, auf Gott und die Ewigkeit, da war kein Platz für die Liebe. Was aber war mit dem jungen Lehrer August Kosolski? Ein beunruhigende Frage, die ihr fast ein wenig peinlich war. Aber nein. Der Lehrer war kein Diener der Liebe, dafür nahm er sich selbst zu wichtig. Nicht, dass der Lehrer Maria nicht gefallen hätte – seine runden Augen besaßen etwas Niedliches, seine zarte Gestalt kam ihr schützenwert vor, aber Bogumil stellte sie sich ganz anderes vor: groß, kräftig und fürsorglich, ausgestattet mit einem Übermaß an Kraft, das  seiner Liebsten zu Diensten stand.  Am ehesten ähnelte der Lehrer noch der Gestalt des eitlen Adligen, der der schönen Barbara ganz am Anfang des Romans eine Orchidee aus dem Fluss geholt und sie ihr überreicht hatte.  Aber dieser Adlige hatte die Orchidee  nicht aus Liebe zu Barbara aus dem Fluss geholt sondern um seinetwillen. Seine Tat war keine Tat der Liebe, sondern der Eitelkeit.

  So belebend die Lektüre des Buches auch gewesen war, so aufgewühlt war Maria, als sie an einem Nachmittag kurz vor Weihnachten zum Schulhaus ging und das Buch zurückgab. Sie traf August Koslowski in seinem Arbeitskabuff über einer Diktatkorrektur. Inzwischen hatte er sich einen kleinen Ofen besorgt, der kräftig vor sich hin bollerte und den Raum erwärmte. August unterbrach seine Arbeit und bereite einen Herbata zu, den sie in dem kleinen Raum eng beieinander sitzend tranken.

  „Hat Ihnen das Buch gefallen?“ fragte der Lehrer.

  Maria nickte. „Ich habe noch nichts Schöneres gelesen, es war wunderbar, und ich bin euch dankbar, Genosse Lehrer,  dass ihr mir dieses Buch empfohlen habt.“ Marias Gesicht war gerötet, im Schein der Kerze flackerte Schatten über ihr Gesicht. Augusts runde Augen richteten sich auf Maria.   „Wollen wir uns nicht bei den Vornamen nennen?“ fragte er.

  „Gerne, ich bin Maria“

  „Und ich August“, gab der Lehrer zurück und hob das Glas. „Aber sag, Maria, was hältst du von der Figur der Agnieszka?“

  „Agnieszka… Ganz gut, aber ehrlich gesagt habe ich mich mehr für Barbara und Bogumil interessiert. Ihre Geschichte lässt mir keine Ruhe.“

  „Tatsächlich?“ wunderte sich August Kosolski.  „Ich finde die beiden  eigentlich recht uninteressant. Zwei Verirrte, die sich in ihrer Liebeständelei verlieren. Da ist doch die Tochter von einem ganz anderen Kaliber, denn sie hat Ziele, die weit über das Private hinausgehen.“

   Maria schwieg. Die geringschätzige Kommentierung ihrer Meinung kränkte sie, was August Kosolski nicht bemerkte. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, dem Lehrer ihre Theorie vorzutragen, nach der Barbara das „Städtische“ und Bogumil „das Ländliche“ verkörpere. Vielleicht hatte sie sogar auf eine Diskussion gehofft, zwischen ihr, der Bäuerin, und dem gebildeten Lehrer, doch nun schwieg sie, weil sie seine Belehrung fürchtete. 

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