Leseprobe Kapitel 8: Die Reise in den Gulag

Mitten in der Nacht fuhr der Zug in Moskwa ein. Die Türen gingen auf, die Soldaten sprangen in den Waggon und weckten die Schlafenden mit rüden Tritten. Eine neue Wachmannschaft war im Einsatz,  lauter groß gewachsene Uniformierte, die mit ihren Gewehren vor den Augen der Häftlinge herumfuchtelten. Die Deportierten wurden zu zwei  Gefängnisbussen geführt, die sie vom Bahnhof in die Stadt fuhren.  Nirgendwo brannte eine Straßenlaterne. Unrat häufte sich auf den Bürgersteigen, und  manche Häuser wirkten mit ihren schadhaften Fassaden wie Ruinen nach einem Bürgerkrieg. War das Moskwa, die Hauptstadt der sozialistischen Welt? Obwohl bereits die ersten Lichtstreifen den Morgenhimmel durchzogen, war niemand auf den Straßen zu sehen.   Die Busse stoppten vor einem großen, umzäunten Gefängnisgebäude.  Zwei Dolmetscher verkündeten im Befehlston, dass es am Eingang des Gefängnisses vier Reihen gäbe, je eine für Russen, Balten, Deutsche und eine vierte für Polen, und  dass es von jetzt an streng verboten sei, auch nur ein Wort zu sprechen.    Die polnische Schlange war die längste, aber es dauerte nicht lange, bis  Marek an die Reihe kam. Er  nannte seinen Namen, seinen Herkunftsort, unterschrieb einen Beleg,, den er nicht lesen durfte und wurde in eine Halle geführt, in der er seine Kleidung ausziehen musste. Seine beiden Pullover, die dicke Hose, die Unterwäsche, das Hemd und die Schuhe warf er auf einen Haufen zu den andern Sachen, um sich gleich anschließend nackt in einen Nachbarraum zu begeben, wo ihn ein Russe mit einem Schlauch erwartete und abspritze Der Strahl war stark, und eiskalt. Ein älterer Mann vor Marek rutschte aus und fiel zu Boden. Wie ein Insekt, das sich nicht mehr erheben konnte, krabbelte er auf den Fließen herum, während der Russe sich einen Spaß daraus machte, den Alten durch gezieltes Bespritzen am Aufstehen zu hindern.  Da es den Gefangenen verboten war, zu sprechen, war nur das Lachen und Grölen der Wachmannschaften zu hören. Dann ertönte ein scharfer Befehl, und der Wärter mit dem Schlauch beendete seine Schikane. Der Alte vor Marek stand auf und ging zitternd in die nächste Halle. Hier wurden alle Häftlinge mit Entlausungsmitteln besprüht, ehe ein Arzt ganz am Ende des Durchlaufs die Abschlusskontrolle vornahm. Mehr als einen kurzen Blick gönnte er keinem der Häftlinge,. Ein Wink und weiter ging es.  Hinter den drei Hallen erhielten die Gefangenen nummerierte Häftlingskleidung, ein Wärter notierte die Nummern auf den Häftlingsuniformen Mareks Nummer war 1794.   Über der  Zelle, in die Marek zusammen mit anderen Häftlingen geführt wurde, prangte die Nummer 127. Als die Zellentüre geöffnet wurde, erblickte er einen lang gezogenen dunkeln Raum voller Menschen. Die meisten von ihnen lagen in grotesken Schlaf- und Ruhehaltungen auf dem Boden, einige lehnten sich an den Wänden, andere versuchten, in der Hocke zu schlafen. Pritschen oder Decken gab es nicht, dafür standen zwei Kot-Eimer in der Ecke, von denen ein übler Geruch ausging. Tageslicht kam aus einem schmalen Fenster gleich unterhalb der Decke.    Es dauerte etwas, bis Marek einen Platz an der Wand fand, und dass auch nur, weil er sich resolut in die Menschenmenge hineindrängte. Der Priester Mieszko, der triefäugige Kolja und der stiernackige Tolja aus Gnesen, die auch in die Zelle gestoßen worden waren, ließen sich nach einigen Rangeleien in seiner Nähe nieder.    Drei Tage vergingen. Zweimal am Tag erscheinen die Wärter, brachten Suppe und Brot und tauschten die Koteimer aus.  Fast stündlich  wurden einzelne Gefangene herausgerufen, manche kamen wieder, andere nicht. Hin und wieder waren Schüsse aus dem Innenhof des Gefängnisses  zu hören.    Mieszko saß direkt neben Marek und betete viel. Er besaß ein grobporiges, flächiges Gesicht mit einer fleischigen Nase und runden, müden Augen. Seine Stirn war von tiefen Falten durchzogen. Sein Bart mochte einmal gepflegt gewesen sein, nun war er völlig verfilzt. Er neigte den Kopf zu Marek und sprach ihn leise an. „Mein Sohn, weißt du, wo wir hier sind?“     Marek blickte auf und schüttelte den Kopf.   „Wir befinden uns in der Butryka, einem der schlimmsten Gefängnisse in Moskau.“    „Woher weißt ihr das?“ fragte Marek. „Ein Priesterbruder, der nach Moskwa verschleppt worden war und wieder freikam, hat mir davon erzählt und mir den Bau beschrieben.“  „Was ist so schlimm an diesem Gefängnis?“ schaltete sich Kolja ein.   „In diesem Gefängnis ist alles möglich“, antwortete Miezko. „Und zwar ganz unabhängig von deiner Schuld. Du kannst im Hof erschossen werden, man kann dich für den Rest  deines Lebens nach Sibirien schicken, oder du kommst frei.“     Als Marek und Kolja schwiegen, fuhr Miezko fort: „Dieses Gefängnis stammt noch aus der Zeit der Zarin Katharina. Die Butryka war früher das Gefängnis des Zaren gewesen, so etwa wie die Bastille in Paris,  nur eben in Moskau.“  Tolja  war wachgeworden. „Was für eine Bastille?“ fragte er.   „Na eben die Bastille in Paris, mit deren Erstürmung die französische Revolution begann“, erwiderte der Priester „Hier in der Butryka war es im Prinzip ganz ähnlich gewesen. Nach dem Sturz des Zaren stürmten die Arbeiter im November 1917 die Butryka und ließen alle Häftlinge frei.“     „Hat aber nicht lange vorgehalten“, merkte Kolja an.   „Stimmt, heute ist die Butryka wieder ein politisches Gefängnis, nur viel überfüllter als es in der Zarenzeit jemals gewesen war“, antwortete Miezko. „So geht es halt mit den Revolutionen.“  Ein dünner kleiner Mann mit fliehenden Kinn und einer randlosen Brille war dem Gespräch schweigend gefolgt. Nun drehte er den Kopf und sah den Priester an. „Du quatschst zu viel“ warf er auf Polnisch ein. „Wer so viel quatscht wie du, wird hier nicht alt werden.“   Miezko schaute überrascht auf. „Wieso das?“    „Der Vergleich, den du gerade angestellt hast, ist konterrevolutionär. Außerdem sind die Revolutionen die Lokomotiven der Geschichte, das hat jedenfalls Karl Marx gesagt. Ich denke mal, für diese Herabsetzung der Revolution könnten sie dir zehn Jahre Lager aufbrummen.“    Der Mann besaß ein ausgemergeltes, aber intelligentes Gesicht, das sich zu einem angedeuteten Grinsen verzog. Wenn er ein Zellenspitzel war, dann hatten sich Miezkos Aussichten soeben erheblich verschlechtert. Aber ein Zellenspion würde sich nicht so unverblümt in ein Gespräch einschalten. „Übrigens, mein Name ist Vadim“, fügte der dünne Mann hinzu. „Ich sitze schon seit drei Wochen in dieser Zelle.“  „Warum? Wie lautet die Anklage?“ fragte Kolja.  „Wahrscheinlich Verstoß gegen Artikel 58.“ „Was bedeutet das?“ „Antisowjetische Hetze“, sagte Vadim.  „Und, hast du gehetzt?“ fragte Kolja.   „Nein, aber das ist egal. Nach Artikel 58 kann man dich jederzeit wegen antisowjetischer Hetze anklagen, auch wenn du nur über das Wetter meckerst.“   „Ich habe in Gnesen dem stellvertretenden Parteisekretär eins aufs Maul gegeben, weil er mir blöd kam, da hatte ich wenigstens etwas davon“, bemerkt Tolja.    Die Zellentüre ging auf, und ein Wärter erschien im Türrahmen. Er rief einen Namen, ein allgemeines Geschiebe setzte ein, ehe sich ein korpulenter Mann in viel zu enger Häftlingskleidung erhob und die Zelle verließ.  „Das war Donskoi, der Zellenspion“, erklärte Vadim. „Er muss zum Rapport.“   „Ein Zellenspion? Woher wisst ihr das?“ fragte Marek.    „Das hat er uns selbst erzählt, um sicherzugehen. Denn wer hier in der Butryka von  seinen Mitgefangenen als Zellenspion enttarnt wird, hat nichts zu lachen“, erklärte Vadim. „Jetzt erzählt er den Aufsehern alle paar Tage lauter Belanglosigkeiten aus der Zelle, damit wir Ruhe haben.“  Aber Donskoi kam nicht zurück. Freigelassen, Zwangsarbeit, Verbannung, Tod durch Erschießen, wer wollte das wissen?     Am Morgen des vierten Tages öffnete ein  Wärter die Zellentüre und rief: „Marek Plewka“.   Marek schreckte hoch, als sein Namen aufgerufen wurde. Wie fremd er sich aus dem Mund eines russischen Wärters anhörte. So fremd, wie das Schicksal, das ihn erwartete.     Marek wurde durch mehrere unterirdische Gänge geführt und atmete ein so tief ein, wie er konnte. Die Luft in den Gängen  war die reine Labsal gegenüber dem Zellengestank. Er erhaschte einen Blick durch ein offenes Fenster auf die Häusersilhouette der Stadt, dann betrat er Raum 082, das Arbeitszimmer es Untersuchungsrichters.   In der Mitte des Raumes befand sich ein Tisch, an dem zwei Personen saßen, der Untersuchungsrichter und eine Sekretärin. Der Untersuchungsrichter war glatzköpfig und besaß einen  Mund, der für den Rest des Gesichtes viel zu groß war. Ein grausamer Mund, der Leben frisst, schoss es Marek durch den Kopf, als er sich vor dem Tisch des Untersuchungsrichters aufstellte.      „Sprechen Sie Russisch?“ fragte der Beamte, ohne von seinen Akten aufzusehen.  „Etwas“  „Name?“   „Marek Plewka“   „Herkunft?“  „Bezirk Lukow, Polen“  „Vater?“   „Wieslaw Plewka“ „Vergehen?“ „Weiß ich nicht.“   Der Untersuchungsrichter blickte hoch. Marek erkannte ein grenzenloses Erstaunen in seinem Gesicht, dann erschien eine Zornesfalte auf der Stirn des Untersuchungsrichters. „Welche  Unverfrorenheit“, sagte er und fügte hinzu;  „Zwei Tage Einzelhaft.“   Ehe sich Marek versah, wurde er aus dem Zimmer herausgezerrt und in den Keller geführt. Hier stießen ihn zwei Wärter in eine nur wenige Quadratmeter große fensterlose Zelle.   Als die Türe ins Schloss fiel, war es stockdunkel. Der Boden war feucht, die Wände bemoost, und die Zelle war so eng, dass er sich nicht ausstrecken konnte. Angst überflutete ihn, so plötzlich und stark, dass sie ihn überraschte. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und  einen Augenblick lang fürchtete er, wahnsinnig zu werden. Marek hockte sich mit angewinkelten Beinen an die Wand, verbarg den Kopf in seinen Händen und schloss die Augen. Eine Stunde lag zählte er seinen Herzschlag, wobei er immer bei hundert neu anfing. Dann wurde er langsam ruhiger. Er versuchte so langsam wie möglich zu atmen und seine Gedanken zu kontrollieren. Schließlich faltete er die Hände und betete. Doch die Stunden schlichen dahin wie Schnecken. Für einen erholsamen Schlaf war die Zelle zu eng und zu feucht. Von Zeit zu Zeit wiederholten sich die Angstanfälle. Am zweiten Tag halfen auch die Gebete nicht mehr.    Nach drei Tagen wurde er wieder zum Untersuchungsrichter geführt. Es war der gleiche wie das letzte Mal,  nur die Sekretärin hatte gewechselt, eine füllige Matrone glotze ihm mit ausdruckslosem Blick entgegen.  „Name?“ fragte der Untersuchungsrichter.  „Marek Plewka“ „Herkunft?“ „Bezirk Lukow, Polen“ „Vater?“ „Mieslaw Plewka“ „Vergehen?“ „Widerstand gegen die Staatsgewalt.“ „Aha! Schildern Sie Einzelheiten.“ „Ich habe mich im polnischen Wahlkampf auf die Seite der reaktionären polnischen Bauernpartei geschlagen und gegen die  russische Verwaltung konspiriert.“  Der Untersuchungsbeamte schürzte seinen grausamen Mund, als schmecke er Mareks Aussage nach. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, schlug eine Akte auf und studierte einige Papiere. Noch immer glotzte die Sekretärin stumpfsinnig vor sich hin. Marek stand gerade wie ein Zinnsoldat vor dem Tisch des Untersuchungsrichters.   Der Richter hatte genug gelesen und klappte den Aktendeckel zu. „Major Medrewzow, der sowjetische Kommandant von Lukow, spricht von einer Verschwörung von Kirche, Bauernpartei und reaktionären Elementen des Kulakentums in dem Dorf Zakepie. Stimmt das?“ fragte er.  „Soweit ich das beurteilen kann – ja“ erwiderte Marek.   Der Untersuchungsrichter schüttelte den Kopf. „Was für ein Spiel spielen sie, Plewka?“ fragte er. „Versuchen Sie mich in die Irre zu führen, oder ist ihnen die Tragweite ihrer Vergehen nicht klar?“  „Doch, die Tragweite ist mit vollkommen klar“, entgegnete Marek. „Ich bin mir der Schwere meines Vergehens bewusst und erwarte eine gerechte Strafe.“   Wieder zögerte der Untersuchungsrichter, dann gab er sich einen Ruck und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. „Gut, dann könne wir uns ja kurz fassen. Ich verurteile Sie wegen konterrevolutionärer Zersetzung zum Tode. Sie werden morgen früh im Hof der Butryka erschossen.“  Marek schoss das Blut ins Gesicht, noch immer blickte ihn die Protokollantin teilnahmslos an.    „Aber…“ stotterte er,   „Was aber? Haben sie noch etwas zu sagen, Häftling Plewka?“  „Ich dachte, die Gnade der Sowjetmacht…“ „Sowjetmacht, Gnade, Gnade, dachte, dachte“, fiel ihm der Untersuchungsrichter ins Wort und sprang auf. Er war überraschend klein von Statur, das einzige Große an ihm war sein Mund. „Wie mich dieses Gewinsel anwidert. Große Pläne gegen die Vertreter des Volkes schmieden und dann um Gnade winseln, wenn es  schiefgelaufen ist! Das könnte Ihnen so passen, Sie Volksschädling! Nein, die  Sowjetmacht ist nicht gnädig, die Sowjetmacht ist  revolutionär. Sie bringt ihren Feinden den Tod – und jetzt raus!“   Leichenblass erreichte Marek wieder die Zelle 127. Er war so erschüttert, dass er den Gestank im Raum kaum noch wahrnahm. „Ich bin zum Tode verurteilt worden“, stieß er hervor, als ihn Miezko und  Kolja fragend anblickten. Auch Vadim beugte den Kopf nach vorne

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