Leseprobe Kapitel 6: Das Konzentrationslager

   Am Tag von Jozefs Ankunft mussten die letzten tausend toten Russen verbrannt werden.  Eine gewaltige Grube wurde ausgehoben, in die die sterblichen Überreste der Russen hineingeworfen wurden. Es roch nach süßem Fett, als die Leichen der  Russen im prasselnden Feuer  verbrannten. Die Hitze und die ausströmenden Gase aus den brennenden Körpern führten dazu, dass sich einige der Leichen mitten im Feuer scheinbar bewegten. Arme und Beine hoben und senkten sich, als wollten die Toten aus den Flammen fliehen. Jozef beobachtete die Verbrennung nur aus der Ferne, hielt sich aber trotzdem die Nase zu. Was er roch, war der gleiche Gestank, der nach der Blutnacht von Jozefuw über Zakepie gelegen hatte.

   Jozef war zunächst einer Maurerbrigade zugeteilt. Sie wurden von einem deutschen Zivilarbeiter befehligt, der sich  „Herr Walter“ nannte. Herr Walter beherrschte ein leidliches  Polnisch, sprach aber trotzdem jeden Zwangsarbeiter mit „Polacke“ an. „He, Polacke, ich brauche neuen Mörtel!“ oder „Mensch, du Polacke, pass doch auf, dass die Mauer nicht schief wird.“  Befanden sich Russen in seiner Arbeitsbrigade, nannte er sie alle „Iwan“, Juden waren „Itzigs“ und alle Tschechen und Slowaken hießen „Pawel“.

  Manchmal arbeiteten sie vierzehn Stunden am Tag, unterbrochen nur von den deftigen Mahlzeiten, die Herrn Walter von der Lagerküche auf Blechgeschirr geliefert wurden.  Es gab aber auch Leerlauf, wenn Steine oder Zement fehlten, was Herrn Walter Gelegenheit gab, an den Arbeitern sein Mütchen zu kühlen. „He, Polacke“, sprach er einen Arbeiter neben Jozef an.  „Was meinst du, wie viele slawische  Gehirne passen in meinen kleinen Finger?“

  „Ich weiß nicht.“ antwortete der Angesprochene. Er hieß er Witold, kam aus Warszawa und war Lehrer gewesen, was er aber geheim hielt, um sein Leben nicht zu gefährden. 

  „Na rat´ doch mal“

  „Kommt darauf an, ob es sich um polnische, russische oder tschechische Gehirne handelt“ wandte Witold ein.

  „Ist doch egal“

  „Fünfzehn?“

  „Wie kommst du denn auf fünfzehn?“ fragte Herr Walter.

  „Weil unsere Arbeitsgruppe fünfzehn Personen umfasst, Herr Walter. Und alle unsere Gehirne passen in ihren kleinen Finger. Nur so sind wie eine Einheit.“

  Alle lachten, auch Herr Walter. Plötzlich aber hielt er inne. „Das war aber eine zu intelligente Antwort, Polacke“, sagte er. „Bist du etwa ein gefährlicher Intelligenzler?“

  „Nein, ich bin auf einem Bauernhof groß geworden.“

 „Bis wohin kannst du zählen?“

 „Bis hundert.“

 „Und was ist mit einhunderteins?“

 „Ist mir völlig unbekannt, Herr Walter.“

  „Und hundertzwei?“

  „Noch nie gehört.“

  Alle blickten auf den Boden. Witold übertrieb es. Herr Walter mochte dumm sein, aber so dumm, dass er nicht merkte, dass er veralbert wurde, war er nicht.

  In diesem Augenblick schleppte ein Trupp jüdischer Arbeiter neuen Mörtel und Ziegel heran. „Ah, da kommen die Itzigs“, sagte Herr Walter. „Los. machen wir weiter.“ 

  Einige Tage später kamen zwei deutsche Ingenieure zum Rohbau. Sie begutachten die Arbeit, berieten sich untereinander, lösten die Maurerbrigade auf und schickten Herrn Walter fort. Anschließend wurde Jozef zusammen mit seinen Mithäftlingen an eine andere Stelle des Lagers geführt, wo ein lang gezogener Steinbau mit einem zwanzig Meter hohen Kamin gebaut werden sollte. 

  Dieser Bau besaß oberste Priorität, alle Materialien wurden punktgenau zur Baustelle geliefert. Der Bauleiter, ein  junger Architekt mit einem Pferdegesicht, war von morgens bis abends am Ort und überwachte jeden Bauabschnitt. Von Zeit zu Zeit wurden deutsche Vermessungstechniker aus Lublin eingesetzt, die abends wieder verschwanden. Dann kamen fünf deutsche Facharbeiter, die drei große Krematorien in den Basisbau einfügten. Diese Krematorien  wurden über Luftschächte mit dem Kamin verbunden.

 Derweil wuchs das Lager weiter. Mittlerweile waren fast einhundert Baracken in fünf Lagerteilen vollendet, doch es waren noch immer zu wenige. Fast jeden Tag trafen neue Gefangenentransporte ein, und da es so viele waren, entwickelte der neue Lagerkommandant Max Koegel das Konzept „Feierabend“, das darin bestand, alle überzähligen Russen, für die es keine Unterkunft gab, einfach zu erschießen. Jede Menge Zigaretten wurden unter den Ukrainern und Letten verteilt, die dafür mehrere hundert russische Soldaten an einem einzigen Nachmittag erschossen. Das Geratter der Maschinengewehre und das Geschrei der Russen dröhnte eine Stunde lang über den Platz. Max Koegel ordnete an, dass die Toten in ein Massengrab geworfen wurden, weil der Gestank der letzten Massenverbrennungen die Polen in der Umgebung Lublins beunruhigt hatte. 

  Obwohl Jozef darauf achtete, sich jeden Abend penibel zu säubern, entweder mit kalten Wasser, wenn es zur Verfügung stand, oder mit einer  Bürste, die er sich von seinem Bettnachbarn  geliehen hatte, war sein ganzer Körper bald von  Läusebissen und Kratzspuren gezeichnet. Seinen Mitgefangenen ging es nicht besser. Auf allen Gesichtern begann der Mangel seine Furchen zu graben. Glatte junge Gesichter gab es nicht mehr, an ihre Stelle traten  tiefe Nasenlabialfalten, eingefallene Wangen und faltige Hälse. Tiefe Ringe unter den Augen hatten alle, und Jozef lernte, dass ab einem bestimmten Schwarzton der umränderten Augen der Tod vor der Türe stand.

  Den schlimmsten Anblick boten die jüdischen Zwangsarbeiter. Da ihre Verpflegung nichts anderes war als ein herausgezögerter Hungertod, wiesen sie die mit Abstand höchste Sterblichkeitsquote auf. Nur am Anfang waren die neu angekommenen Juden in der Lage, einige Wochen lang ebenso hart zu arbeiten wie die Polen, dann verließen sie die Kräfte. Sie wurden langsamer und schwächer, bis sie spätestens ab der  fünften oder sechsten Woche den Aufsehern auffielen. Eine Zeitlang wurden sie noch angetrieben, drangsaliert und verprügelt, ehe sie abgeholt und erschossen wurden. Die Stunde des Todes für die entkräfteten Juden schlug jeden Morgen unmittelbar nachdem die SS Mannschaften ihr Frühstück eingenommen hatte. Ein scharfes Kommando, Schüsse, Schreie, ein neuer Tag begann. 

  Auch in der polnischen Baracke hielt der Tod reichlich Ernte. Bogdan, einer von Jozefs Bettnachbarn, zappelte unablässig, redete wirres Zeug,  schrie mitten in der Nacht auf und rannte wie von Furien gejagt durch die Baracke, bis die SS Männer kamen, und er verschwand.  Der nächste, dessen Namen Jozef gar nicht mehr erfuhr,  schnitt sich nachts mit dem Rand einer Blechdose die Pulsadern auf. Als man ihn fand, tropfte das Blut die Holzpfosten herunter. Viele litten an chronischem Durchfall, konnten ihre Notdurft nicht bei sich behalten und entleerten sich in ihren Betten oder auf dem Boden.   

  Schließlich war der Bau mit dem hohen Kamin fertig.  Von weitem glich er einer flachen Kirche mit  zwei Basiliken, in deren Mitte sich der hoch aufragende  Kamin wie ein Glockenturm erhob. im Innern bestand das Gebäude aus drei Hallen mit Düsen an der  Decke, von denen niemand erklären konnte, wozu sie gut sein sollten, denn Wasserleitungen waren nirgendwo in Sicht. In einem besonderen Raum befanden sich drei Verbrennungsöfen.

  „Wozu, glaubst du, wurde dieses Gebäude gebaut?“ fragte Jozef am Abend seinen Bettnachbarn Boleslaw. Boleslaw war der Mann gewesen, der am ersten Tag in der Zelle von Lukow den Streit von Mirko und Jano geschlichtet hatte. Er war nach Oskars Verschwinden in die Baracke gekommen und hatte das freie Bett belegt. “Was wir gebaut haben, waren Todeskammern“, sagte er.

  „Wie kommst du darauf?“

  „Aus den leeren Hallen kann man nicht fliehen, nur sterben.“

  „Und der Kamin?“

  „Wahrscheinlich werden die Leichen verbrannt.“

  Am nächsten Tag war wurde Boleslaw zur Lagerleitung gebracht und kam nicht zurück. Nach einigen Tagen hieß es, er sei erschossen worden. Unter der Hand wurde gemunkelt, er sei ein Agent der Armia Krajowa, der polnischen Heimatarmee,  gewesen, der sich freiwillig in die Gefangenschaft begeben hatte, um im Auftrag der polnischen Exilregierung in London Näheres über Zwangsarbeitslager und Konzentrationslager zu erfahren. Andere behaupteten, er sei ein Kommunist gewesen. Die meisten aber zuckten nur mit den Schultern. „In diesen Zeiten einen Polen zu erschießen, brauchst du überhaupt keinen Grund“, spottete einer und spuckte auf den Boden.

Stammtafel

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