Leseprobe Kapitel 11: Die wunderlichen Kinder (1)

    Auch der 1. Mai war ein strahlender Frühlingstag, und ganz Zakepie war auf den Beinen. Kaum jemand fehlte beim Maifest, nicht nur, weil es Würste und Wodka gab, sondern auch, weil die Abwesenheit bei solchen Veranstaltungen aufmerksam registriert wurde. Abgesandte der Parteibrigaden zogen mit großen Fahnen und Plakaten von Dorf zu Dorf, um den Welttag des Arbeiters gebührend zu feiern.  Sogar der Priester Kamil Somorowski saß als Vertreter der Kirche an einem der vorderen Tische vor seinem Bier. Von Jahr zu Jahr wurde er beleibter, nur die  Zornesfalte auf seiner Stirn hatte sich nicht weiter vertieft, seitdem Liliana Lubow seinen Haushalt führte.

   Zum Abschluss des Festes hielt Parteisekretär Dariusz Cyrankawicz eine Rede. Auch er war älter geworden, aber seine Stimme war noch immer kräftig und gut verständlich. Er erinnerte an den langen Weg, den das polnische Vaterland seit dem Ende des Krieges zurückgelegt hatte. „Es ist ein erfolgreicher Weg gewesen“, rief er, „denn unsere Städte sind wieder aufgebaut worden und die Landwirtschaft produziert Überschüsse.“ Niemand leide mehr Hunger, fuhr er fort, und das Bündnis mit der Sowjetunion sichere den Frieden. Unbeirrbar schreite die Partei unter der Führung des Genossen Gomulka voran. Die Elektrifizierung stehe an, und bald würde die Wasserversorgung des Landes durch ein neues Leitungssystem verbessert,  Noch nie in der Geschichte hätten so viele Polen studiert, überall im Land würden neue Schulen gebaut oder vergrößert. Während der kapitalistische Westen im Elend versinke, erstrahle die Morgenröte einer neuen Zeit über der sozialistischen Völkergemeinschaft.

  So vernahmen die Bauern von Zakepie Jahr für Jahr wie wunderbar es aufwärts ging. Ganz so wunderbar waren die Verhältnisse zwar nicht, aber man musste zugeben, dass Frieden herrschte und dass wenigstens einige der Versprechen der Partei eingehalten wurden. Neue Wasserleitungen und Straßen entstanden, der Bahnhof von Lukow erhielt ein neues Gleis, und auch die Schulerweiterung in Zakepie wurde in Angriff genommen. Bauarbeiter kamen aus Kock, luden Baustoffe ab, hoben Gruben aus und begannen mit der Arbeit. Jeden Tag lief Lilia zur Schule und beobachtete, wie das Hauptgebäude neu verputzt wurde und zwei zusätzlicher Anbauten in die Höhe wuchsen. Ein unebenes Feld neben der Schule wurde begradigt und als Sportplatz hergerichtet. Allerdings konnte Lilia die Schule nicht betrachten, ohne dass sie die Erinnerung an Elzbietta überkam. Nun war sie Himmel, saß zu Füßen der Muttergottes und schaute von oben auf  sie herab.  Der Gedanke tröstete sie, und sie  nahm sich vor, in ihrer Klasse Niemanden neben sich sitzen zu lassen, damit sie der leere Platz immer an die verstorbene Freundin erinnere. 

  Dann war es endlich soweit. Am ersten September, dem offiziellen Schuljahresanfang,   marschierten die sechsjährigen Jungen und Mädchen aus Zakepie, Czarna, Bielany und den anderen Orten  zur Schule nach Zakepie. Manche kamen zu Fuß, manche mit der Kutsche, aber alle in Begleitung ihrer Mütter, die ihre Kinder so prunkvoll ausgestattet hatten, wie sie es vermochten.  Stolz trug Lilia ein plissiertes dunkelblaues Kleid, das die Mutter aus einem feinen Stoff geschneidert hatte.  Gracyna Gontasch hatte ihrem Sohn Andre messerscharfe Bügelfalten in seine Hose geplättet. Adam Brosz trug einen dunkelblauen  Pullover mit einem Tuch um den Hals.  Auch Zusanne, Laura und Emilia waren mit ihren Eltern da und winkten zaghaft herüber. Die anderen Schüler der oberen Klassen waren nicht anwesend. Ihr Unterricht würde erst morgen beginnen.

  Die Tore des Schulgebäudes öffneten sich und das Lehrerkollegium erschien. An seiner Spitze befand sich Direktor Zetzek, ein schon etwas älterer Pädagoge mit Krawatte und Bart, der aufrecht wie Stock ein kleines Podest erstieg und die Erstklässler begrüßte. Sein kugelrunder Kopf saß auf einem dünnen Hals, der aus einem zu großen Hemdkragen ragte. „Wir alle“, so verkündete der Direktor mit weit ausholender Geste, „leben in einer großen Zeit, einer Epoche des triumphierenden Sozialismus. So wie der russische Kosmonaut Juri Gagarin in diesem Jahr als erster Mensch in einer Raumkapsel die Erde umkreiste, so beweisen die Leistungen der sozialistischen Staaten jeden Tag aufs Neue die Überlegenheit des Sozialismus.“

  Die Gesichter der erwachsenen Zuhörer blieben regungslos, die Kinder schauten sich ratlos um, denn sie verstanden nicht, was der Direktor meinte. 

 „Die Mutter dieser Erfolge ist das Lernen“ fuhr der Direktor fort, „das Lernen unseres Landes von der Sowjetunion und das Lernen der Kinder von ihren Lehrern.“ Der Direktor machte eine Pause und überblickte die kleine Menschenmenge, die vor ihm stand.  „Freut euch liebe Kinder, eine herrliche Zeit bricht nun für euch an, eine Zeit des Lernens und der Überraschungen“, setzte er wieder ein. „In euren Gesichtern,   sehe ich das Kostbarste was es gibt: die Neugierde auf die Welt und den Wunsch, zu lernen. Macht euren Eltern, macht eurem Land Ehre, es lebe der Sozialismus.“ 

  Hinter Direktor Zetzek stand das Lehrerkollegium, dessen Mitglieder Lilia erst noch kennenlernen würde. Ganz vorne stand Cecilia Zetzek, die bulldoggengesichtige Frau des Direktors, hinter ihr verfolgten der Polnischlehrer Marian Wamartzki und der  Sachkundelehrer Edwin Hlandyn die Rede des Schulleiters. Etwas abseits warteten drei weitere Personen: der immer etwas traurig dreinblickende Musiklehrer Flotow, der vierschrötige Hausmeister Pawetschik und Frau Chlupp, die Leiterin des Schulkiosk, in dem man Stifte und Hefte kaufen konnte.

  Nach der Begrüßung lernten die Erstklässler ihren neuen Klassenlehrer Pan Hiernow kennen. Pan Hiernow war ein freundlicher Mann in mittleren Jahren, der die Schüler  in ihren Klassenraum führte. Der Raum  besaß ein Pult und eine Tafel an seiner Stirnseite  und etwa zwanzig kleine Tische, an denen je zwei Schüler sitzen mussten. Natürlich blieb der Platz neben Lilia nicht frei, weil sich ein Mädchen sofort neben sie setzte. Sie hatte pechschwarze, glatte Haare und kleine Knopfaugen. „Mein Name ist Krystyna“, sagte sie. „Wollen wir nicht Freundinnen werden?“ Zögerlich stimmte Lilia zu. So schnell eine neue Freundschaft einzugehen, erschien ihr fast wie ein Verrat an Elzbietta.

  Dann verlas Pan Hiernow die Namen der Schüler. Jeder, der aufgerufen wurde, musste kurz aufstehen und  etwas sagen. Manche wie Andre Gontasch oder Krystina plapperten unbeeindruckt darauf los, andere wie Emilia oder Laura standen mit hochrotem Kopf neben ihrem Pult und bekamen die Zähne nicht auseinander. Auch Lilia fühlte sich unbehaglich, als sie die Blicke der andern auf sich spürte. Sie nannte nur ihren Namen und  setzte sich wieder hin.

  Andre Gontasch meldete sich und fragte, was die drei Bilder über der Tafel bedeuteten.  Pan Hiernow dreht sich um und erklärte, dass das mittlere Bild den polnischen Adler darstelle, das Symbol der großen polnischen Nation. „Die Bilder rechts und links zeigen den Ersten Sekretär Gomulka und den Ministerpräsidenten Cyrankiewicz. So wie eure Väter jeden Tag auf dem Feld arbeiten, so arbeiten die Genossen Gomulka und Cyrankiewicz unermüdlich für das Wohlergeben des polnischen Volkes.“

  Lilia wunderte sich über die Glatzen von Gomulka und Cyrankiewicz und fragte ihre Nachbarin Krystyna: „Warum haben sie denn kaum Haare auf dem Kopf?“

  „Na, weil sie sich so viel Sorgen um das polnische Volk machen“, gab Krystyna zurück. „Denk nur an unseren Priester, der hat auch eine Glatze, weil er sich so viel Sorgen wegen all der Sünden macht.“

  Als nächstes erzählte Pan  Hiernow  eine Geschichte. Sie handelte von einem Wolf, der sechs Geißlein fraß. Am Ende kam die Mutter, befreite die Geißlein aus dem Bauch des Wolfes und füllte seinen Bauch mit schweren Steinen, mit denen er schließlich ertrank.

  Alle klatschten, als der Wolf im Brunnen lag, doch Pan Hiernow hob die Hand und fragte: „Und was hat diese Geschichte mit dem Sozialismus zu tun?“

  Das wusste keiner und ratlos blickten die Schüler ihren Lehrer an.

  „Das ist doch ganz einfach“, erklärte Pan Hiernow. „Der Wolf ist der Kapitalismus, der alles, was er in die Krallen bekommt, auffrisst. Die die Mutter ist der Sozialismus, der dem Wolf das Handwerk legt.“

  „Und wer sind die Geißlein?“ fragte Lilia.

 „Die Geißlein seid ihr.“ 

 

  Mit dem Tag der Einschulung änderte sich Lilias Leben.  Plötzlich war überhaupt keine Zeit mehr, mit Dredek über den Hof zu laufen, gemütlich mit Adam unter dem Baum zu sitzen oder Mutter beim Kochen zuzusehen. Vier, fünf, sechs Stunden am Tag verbrachte sie nun in der Schule, und auch wenn manche Stunden, wie das Singen beim Musiklehrer Flotow im Nu vergingen, war das Rechnen bei Pani Zetzek eine einzige Qual. Pani Zentek erklärte schlecht und verzieh es nicht, wenn man ihre  Aufgabenstellungen nicht lösen konnte. So kam schon in der zweiten Woche des Unterrichts das lange Lineal zum Einsatz, das hieß,  der Lehrer schlug frechen oder säumigen Schülern mit dem Lineal einige Mal auf die flache Hand,  die ihm die Schüler entgegenstrecken mussten. Als Andre Gontasch bei Pan Hiernow die Hand zurückzog und das Lineal des Klassenlehrers ins Leere sauste, erhielt er umstandslos eine Ohrfeige und war hinfort an solchen Späßen nicht mehr interessiert.  

  Lilia blieb vom Lineal verschont, denn sie war ein fleißiges Kind. Sie schwatzte nicht und wusste immer eine Antwort auf die Fragen des Lehrers. In ihren Schulsachen duldete sie keinerlei Unordnung, und sobald ein Tintenfleck eine Heftseite verunzierte, schrieb sie die komplette Seite neu ab. Die Buchstaben lernte sie schnell, und auch die Verknüpfung zu ganzen Worten machte ihr keine Schwierigkeiten. Andere hatten damit mehr Probleme.  Waldemar Tulsa aus Bielany schaffte es einfach nicht, die Buchstaben zu einem Wort zusammenzusetzen. Er versuchte es ein oder zweimal, dann setzte er sich einfach wieder hin und machte ein grimmiges Gesicht.  Auch Krystyna hatte mit den Wörtern schwer zu kämpfen, obwohl sie großen Einsatz zeigte. Ihre besondere Liebe galt allen Worten, die Tiere beschrieben. Voller Enthusiasmus schrieb sie „Hunt“, „Ku“, „Schwain“, „Okse“, „Ferd“, „Hun“ und „Fucks“ in ihr Heft und war beleidigt, als Pan Hiernow an diesen Wörtern etwas auszusetzen hatte.   

  Strikt verboten war es, während des Unterrichts zu essen, was nicht einfach durchzuhalten war, weil die Kinder ständig hungrig waren und an ihren Essenspakten unter der Bank herumnestelten. Übrigens unterschieden sich die Esspakete, die die Eltern ihren Kindern mitgaben, ganz erheblich. Juliusz Bielski aus Hordiezw kam oft ganz ohne Kanapki in die Schule, so dass Lilia ihm etwas abgab. Auch Jola Adamtschek aus Adamaow hatte nie etwas zu essen dabei, schien aber keinen Hunger zu haben. Andre Gontasch dagegen prahlte mit seinen Paketen und  hob in den Pausen die Brotscheiben hoch, um jedermann zu zeigen, wie dick die Mutter die Wurst aufs Brot geschmiert hatte. 

    Einmal in der Woche trafen sich die Erstklässler im Haus des Priesters zum Religionsunterricht. Bis zur heiligen Kommunion am Ende des ersten Schuljahres würden alle Kinder anwesend sein müssen, sogar Andre Gontasch und Waldemar Tulsa waren bei Androhung einer kräftigen Tracht Prügel zur Teilnahme verdonnert worden. Adam Brosz dagegen kam freiwillig und fragte gezielt nach bestimmten Geschichten über die er gerne mehr wissen wollte. 

  Lila und Krystina, Emilia, Zusanne und Laura saßen mit klopfendem Herzen in der ersten Reihe, als Kamil Somorowski den Raum betrat.  Seine Stimme war tief, sein Mund glich einem Schlund und seine Augen schienen jedem der Kinder geradewegs ins Herz zu blicken. Gottlob verschwand er wieder nach einigen mahnenden Worten und ward hinfort beim Religionsunterricht nicht mehr gesehen. Ihn leitete Somorowskis Assistent, der junge Priester Igor Selenski. Igor Selenksi war erst vor einem Monat frisch aus dem Priesterseminar aus Lublin nach Zakepie gekommen, um dem alten Priester zur Hand zu gehen. Auf den ersten Blick wirkte er mit seinem länglichen kahlen Kopf und der kleinen Nase unscheinbar, aber nur, solange er schwieg. Seine Stimme war wie ein sanfter, langsam dahin gleitender Strom, seine Augen waren gütig, und nie richtete er das Wort an eines der Kinder, ohne dabei zu lächeln.  Igor Selenski wohnte in einem winzigen Zimmer im  Pfarrhaus und aß am Tisch des alten Priesters die Speisen, die Lilia Lubow auftischte. Igor Selenski reinigte die Außenfassade der Kirche vom Moos, brachte die Hostienvorräte in Ordnung und suchte geeignete Bibelstellen heraus, mit denen Kamil Somorowski seine Predigten schmücken konnte.  Beim Gottesdienst in der Kirche stand er hinter dem alten Priester und reichte ihm Kelch und Tuch. Nach seinem Dienst verschwand Igor Selenski in seiner Kemenate und betete.  Nie sah man ihn widerspenstig oder wütend, meistens war er heiter, und am meisten liebte er den Religionsunterricht mit den Kindern.    

  Jede Religionsstunde begann mit einem Rosenkranzgebet, meist über das „freudenreiche Geheimnis“ der Geburt und Kindheit Jesu, manchmal auch über die fünf „lichtreichen Geheimnisse“, in denen das Wirken und die Wunder Jesu gepriesen wurden. Es dauerte eine Weile, ehe die Kinder den Aufbau des Rosenkranzes mit seinem Kreuz und seinen 59 Perlen verstanden hatten,  Waldemar Tulsa begriff es bis zum Ende des Jahres nicht. Gerne hörten die Kinder Geschichten aus dem Alten Testament, die sich  als viel spannender erwiesen, als Lilia erwartet hatte.  Adam und Eva, Noah und Methusalem, Abraham und Jakob,  Moses und der Pharao, David und Salomo – eine vollkommen andere Welt entstand in Lilias Fantasie, viel bedeutsamer und erhabener als  alles, was in Zakepie geschah. Wo entschwand zwischen Warszawa und Lublin schon einmal ein Prophet mit einem feurigen Wagen in den Himmel? Wo wurde ein junger Mann aus einem Brunnen gerettet, den sich Lilia vorstellte wie den heimischen Brunnen gleich an der Grabuffka. Unerhört, was sich Moses gegenüber dem Pharao herausnahm, und wie überraschend, als die Krieger des Pharao im Roten Meer versanken.  Und der junge Priester erzählte gut. Er modulierte seine Stimme je nach Szene, sprach dumpf und herrisch wie der Pharao oder erhaben und klar wie Erzvater Abraham.

  Manchmal erzählte der junge Priester auch Episoden aus der polnischen Geschichte, meist solche, bei denen der Herr oder die Madonna in das Geschehen eingriffen, um Polen zu retten. Im Mittelpunkt dieser Geschichten stand die Schwarze Madonna von Czenstochau, die „gekrönte Königin Polens“, wie sich Selenski ausdrückte.  Es dauerte etwas bis Lilia und ihre Mitschüler begriffen, dass es sich bei dieser „Königin“ um ein Bild handelte, um eine heilige Ikone, die im Kloster von Jasna Gora in Czenstochau aufbewahrt wurde. „Der heilige Lukas, einer der vier Evangelisten, hat es eigenhändig gemalt“, erklärte der Priester. „Das Holz, auf dem das Bild gemalt wurde, entstammt dem Holz des Hauses, in dem die heilige Familie gelebt hatte. Dieses Bild wurde über tausend Jahre lang in der Kaiserstadt Konstantinopel aufbewahrt, ehe eine byzantinische Prinzessin dieses Bild im späten Mittelalter als Geschenk des oströmischen Kaisers nach Polen brachte.“  

  Ein Heiliger, der den guten Herrn Jesus und die Madonna gemalt hatte, ein Bild das tausend Jahre lang in einer Kaiserstadt gehütet wurde, diese Nachrichten versetzten Lilas Fantasie in Schwingung. Wie mochte sich die Prinzessin gefühlt haben, als sie ihre Vaterstadt verlassen musste und nach Polen gekommen war? Was hatte sie für ein Kleid getragen und wer hatte sie beschützt?  

  „Wo liegt denn die Stadt Konstantinopel?“ fragte Zusanna plötzlich.

  „Diese Stadt gibt es nicht mehr“, antwortete Selenski. „Einige Jahrzehnte nachdem die Schwarze Madonna die Kaiserstadt verlassen hat, haben die Türken Konstantinopel erobert und die Stadt in Stambul umbenannt.“

  „Da hätten sie die Schwarze Madonna besser behalten sollen“, meine Lilia. 

  „Warum haben die Türken die Stadt umbenannt?“ fragte Zusanne unbeirrt.

  „Weil sie so lange Worte wie Konstantinopel nicht aussprechen können“ warf Andre ein und grinste.

  „Vielleicht, vielleicht“, gab der Priester zurück. „Auf jeden Fall befand sich die schwarze Madonna nun in Polen. Aber auch hier war sie nicht sicher, denn aus dem Osten rückten die Tataren heran.  Die Tataren waren wilde Reiter, die immer wieder das unschuldige Polen überfielen. Ganz besonders gerne zerstörten sie dabei die christlichen Heiligtümer.“

  Die Mädchen machten betrübte Gesichter. Wie war so etwas nur möglich?

  „Deswegen wollten die Polen die das Bild der Madonna nach Schlesien in Sicherheit bringen. Doch als die Kutsche mit der Madonna am Kloster von Jasna Gora in Czenstochau vorbeikam, stoppten die Pferde und weigerten sich, weiter zu traben. So sehr  die Kutscher die Pferde auch peitschten, sie blieben einfach stehen. Schließlich kam ein Priester herbei und erklärte das Verhalten der Pferde zu einem wundertätigen Zeichen. Die Madonna wolle, dass ihr Bild in Polen bleibe und zwar genau hier:  im Kloster von Jasna Gora in Czenstochau.“

  Igor Selenski machte eine Pause und blickte die Kinder an. Lilia sah vor ihrem inneren Auge die alte Bolla, die vor dem Kloster den Jasna Gora weigerte, weiterzugehen.

  „So geschah es dann auch“, fuhr der Priester fort. „Das Bild der Schwarzen Madonna wurde in das Kloster gebracht, und dort ist es  auch geblieben. Einmal, als die Tschechen das Bild aus dem Kloster rauben wollten, wurde es unterwegs so schwer, dass sie es liegen lassen mussten und die Polen es ins Kloster zurückbringen konnten. Später ist es den Schweden trotz zehnfacher Übermacht nicht gelungen, das stark befestigte Kloster von Jasna Gora zu erobern. Nach dem Sieg über die Schweden wurde die Madonna vom polnischen König zur immerwährenden Königin Polens gekrönt.“

 „Wann war denn das?“ fragte Adam.

 „Das ist sehr lange her. Wenn du es genau wissen willst, es war im Jahre des Herrn 1657. Im Jahre 1957, also ein oder zwei Jahre nachdem ihr geboren worden seid, begingen die Polen das dreihundertste Jubiläum der Kröning der Jungfrau.“

   Der Priester holte ein kleines Bild aus seinem Umhang. Er hielt es in den Händen wie einen unendlich kostbaren Schmuck.  Das Bild zeigte ein Brustportrait der Madonna wie sie den kleinen Herrn Jesu auf dem Arm trägt. Wie traurig sie dreinschaut, dachte Lilia.

  „Die Madonna weint ja“, meinte Adam.

  „Nein“ widersprach Selenski. „Das, was du für Tränen hältst, sind die Spuren eines Säbelhiebes, den ein Heide eines Tages der Madonna mitten ins Gesicht versetzte. „Aber wahrscheinlich hat sie tatsächlich regelmäßig geweint“, fügte Selenski hinzu, „geweint über die Schlechtigkeit der Welt und die verlorene Seelen der Übeltäter.“

  Die Kinder beugten sich über das Bild und berührten es scheu mit ihren Fingern. „Wie weit ist Czenstochau von Zakepie entfernt?“ fragte Adam.

 „Ein bis zwei Wochen Pilgerweg,“ erwiderte Selenski. „Jedes Jahr zu einem bestimmten Zeitpunkt, brechen viele Leute aus den Dörfern rund um Lukow zu einer Wallfahrt nach Czenstochau auf.“

  „Dürfen da auch Kinder mitgehen?“ fragte Julia. 

  „Im Prinzip ja, aber ihr seid noch zu jung“, erwiderte Selenski, um sich anschließend bedeutungsvoll vorzubeugen. „Aber was würdet ihr sagen, wenn die Madonna euch besuchen kommt?“

  Die Kinder blickten erstaunt. „Uns besuchen? Scherzt ihr, Vater?“ fragte Adam.

  „Nein“, gab Selenski zurück. Ich scherze nicht. Fragt eure Eltern. Bald wird die Madonna unser Dorf besuchen.“

  Ungläubig blickten sich die Kinder an. Selenski erklärte nichts weiter, schloss die Stunde mit einem Gebet und entließ die Kinder.

  Lilia hatte zuhause noch nicht ihre Jacke abgelegt, da rief sie bereits: „Habt ihr schon gehört? Die Madonna kommt zu Besuch.“

  Die Mutter stand am Herd und würzte eine Suppe aus Rinderinnereien. Halka, die am Tisch saß und den Salat wusch,  schmunzelte bei Lilias Worten und umarmte das Kind. „Ja, es stimmt, sagte sie, die Madonna kommt demnächst in unser Haus. Hast du auch dein Bett ordentlich gemacht?“

  Lila entwand sich Halkas Umarmung, obwohl sie den Geruch der Tante liebte. „Noch nicht, aber das mache ich noch, wenn die Madonna kommt.“

   Beim Abendessen erklärte  Jozef was es mit dem Besuch der Madonna auf sich hatte.  Seit einigen Jahren wandert eine Kopie des heiligen Madonnenbildes, die selbst auch heilig ist, durch Polen das heißt, sie wird  von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf gebracht, damit die Madonna am Leben der einfache Leute teilnehmen kann.“

  „Kommt das Bild der Madonna auch in unser Haus?“ fragte Lilia.

 „Das kann durchaus sein“, antwortete Jozef und schnitt sich eine Scheibe Brot ab.

 Lilia schwieg und war beklommen. Dass sich die Madonna ihr Zimmer ansehen würde, war ihr auch nicht recht.

  „Aber das wird noch etwas dauern“, schloss Jozef. „Ehe sie kommt, wird der Herr Pfarrer einen großen Gottesdienst abhalten. Wir werden das ganze Dorf schmücken, um die Madonna gebührend zu empfangen“

Stammtafel

Zurück zum Seitenanfang