Leseprobe Kapitel 10: Eugenius

Erst ab Ende Februar, als es plötzlich wieder wärmer wurde, konnte mit der Arbeit erneut begonnen werden. Der Betrieb war gerade erst wieder in Gang gekommen, als Anfang März die Barackeninsassen durch scheppernde Trauermusik im Morgengrauen geweckt wurden. Alle Arbeiter wurden über Lautsprecher und Megaphone aufgefordert, sich  innerhalb der nächsten Stunde auf dem großen Versammlungsplatz einzufinden. Teilnahme sei Pflicht. Nichterscheinen werde streng geahndet.

  Noch bevor sich alle Bauarbeiter auf dem großen Versammlungsplatz eingefunden hatten, machte die Nachricht die Runde. STALIN WAR TOT.  

  „Endlich ist der Drecksack hin“, entfuhr es Gabriel.

  „Wenn du dein vorlautes Schandmaul nicht hältst, wird es dir noch einmal schlecht ergehen“, zischte Tymon, während er eilig aufstand, um sich anzuziehen.    

  Eugenius stand während der Trauerkundgebung viel zu weit hinten, um zu erkennen, wer vorne sprach. „Der Vater der  Völker ist von uns gegangen“ verkündete der Mann auf der Holztribüne mit einer merkwürdig verzerrten Lautsprecherstimme. „Gestern Morgen ist Marschall Stalin in Moskau verstorben. Die gesamte kommunistische Welt trauert, ist aber wachsam. Ein Ausschuss führender Genossen des Zentralkomitees hat in der UdSSR die Regierungsgeschäfte übernommen. Alle Streitkräfte stehen bereit, falls der imperialistische Klassenfeind Übergriffe plant.“ Totenstille herrschte auf dem Versammlungsplatz. Weder Geräusche der Trauer noch Jubel waren zu hören. Der Redner  sprach weiter und pries den Verstorbenen als  Lenins bedeutendsten Schüler, als weisen Führer des Weltkommunismus, als Vater der russischen Industrialisierung und als Sieger über Nazi-Deutschland. 

  Drei Tage lang hingen die Fahnen auf Halbmast, drei Tage lang wurde nicht gearbeitet. Dafür fanden pausenlos Zusammenkünfte statt, auf denen die Arbeiter über Stalins weltgeschichtliche Bedeutung informiert wurden. Nach jeder Sitzung meldeten sich Aktivisten zu Wort und legten glühende Bekenntnisse zum Sozialismus ab. „Der Tod Stalins ist uns Aufgabe und Verpflichtung“ stand in großen Lettern auf der ersten Seite der Parteizeitung zu lesen, die tausendfach  in den Unterkünften verteilt wurde.“ Und, was noch wichtiger war: „Der internationale Klassenkampf duldet keine Pause. Arbeiter verpflichten sich zu Sonderschichten zu Ehren Stalins.“ So war es auch in Nova Huta. Eine spontan zusammengerufene Sitzung der Barackenältesten von Nova Huta entschied, dass alle Bauarbeiter zwei Wochen lang umsonst zu Ehren Stalins arbeiten würden. 

 Im Rahmen dieser Sonderschichten kam es in einem anderen Teil des Baugeländes von Nova Huta  zu einem aufsehenerregenden Rekordversuch. Einem polnischer Arbeiter, vom Tode Stalin tief erschüttert und fest entschlossen, sich noch rückhaltloser dem Sozialismus zu verschreiben, gelang die Verarbeitung von 30.000 Ziegeln in einer einzigen Schicht. Sein Name war Mateusz Birkut, und die Bauleitung von Nova Huta sorgte dafür, dass die Nachricht von dieser sozialistischen Heldentat im ganzen Land verbreitet wurde. 

  „Das ist ein Drecksack“ meinte Gabriel hinter vorgehaltener Hand. „Und dieser Rekord ist Schwindel. Seine ganze Maurerbrigade hat dem Kerl die Ziegel hinterhergetragen, damit er möglichst viele davon in seiner Schicht verarbeiten konnte. Du wirst sehen, dass die Bauleiter diesen Schwindel dazu ausnutzen werden, die Arbeitsnormen auf den Baustellen zu erhöhen.“

  Am Ende des Monats erhielt Eugenius endlich Post von Letta Polak.  Er hatte schon nicht mehr damit gerechnet und zögerte lange, den Brief zu öffnen. Schließlich fasste er sich ein Herz und las, dass Letta Polak von Warszawa nach Zapekie umgezogen war. Sie würde von jetzt an auf dem Gontaschhof bei ihrer Schwester wohnen und alles Weitere würde sich finden. Warum sie Warszawa verlassen hatte, war dem Brief nicht zu entnehmen, aber einige Wendungen deuteten darauf hin, dass Lettas Abschied aus Warszawa nicht freiwillig gewesen war. Am Ende entschuldigte sich Letta dafür, die Briefe von Eugenius nicht beantwortet zu haben. Sie habe sie aber alle gelesen, und wenn er noch so für sie empfinde, wie es in den Briefen zu Ausdruck komme, dann freue sie sich auf ein Wiedersehen.

  Eugenius las den Brief wohl ein dutzendmal, vor allem das Ende, in dem Letta auf ihn zu sprechen kam. Besonders liebevoll klangen die Zeilen nicht, auf der anderen Seite hatte sie ein Wiedersehen in Aussicht gestellt. Am nächsten Morgen ging Eugenius zu Bartek, dem Vorabreiter, und kündigte seine Verpflichtung zum nächstmöglichen Termin. In Zakepie warte eine Braut auf ihn, endlich habe sie sich bei ihm gemeldet. Bartek war nicht erfreut über diese Nachricht, ließ sich aber überzeugen. „Geh in dein Dorf zurück und heirate“, sagte er am Ende. „Vielleicht aber sehen wir uns schneller wieder als du denkst.“

  Als Eugenius Nova Huta verließ, waren schon erste Umrisse der geplanten Stadt zu erkennen. Die Prachtallee war halb fertig, die Arbeiten an den großen Wohnblocks hatten begonnen. Geplant waren geräumige Wohnungen mit Balkonen, von denen aus ihre Bewohner auf Parkanlagen herabsehen würden. Wenn das wirklich der Kommunismus war, dann war er vielleicht doch nicht so schlecht, dachte Eugenius.

  Tymon, Gabriel und Oliver schüttelten Eugenius zum Abschied die Hand und wünschten ihm alles Gute. „Nicht schlecht, dass du jetzt die Baustelle verlässt“, meinte Gabriel. „In eine paar Jahren wird hier schon wieder alles vergammelt sein.”

  „In ein paar Jahren werde ich hier wohnen und dir von meinem Balkon auf deine Glatze spucken – falls du da nicht schon im Gulag bist,” widersprach Tymon.

  „Gu-Gu-Gulag? Was ist denn das?” fragte Olivier.

Stammtafel

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