Leseprobe Kapitel 1: Das Dorf

  Irgendwo in Polens Osten, hinter Warschau und vor Lublin, abseits der großen Städte und Durchgangsstraßen,  lag das Dorf Zakepie. Es war ein Dorf, wie es damals  Tausende gab, eingebettet in eine flache Landschaft, die einer grünen Scheibe glich, deren Ränder sich am Horizont verloren.   Topolabäume, Trauerweiden  und Linden  säumten schmale Wege, die an kleinen Höfen vorüberführten. Rund um diese Dörfer lagen die Felder, flach dahingesteckt unter einem grenzenlosen Himmel, doch bei weitem nicht so fruchtbar wie die Böden in der benachbarten Ukraine. Kartoffeln und Getreide wuchsen auf diesem sandigen Grund, und mit einiger Mühe und Geduld war es möglich, Obst und Gemüse zu ernten.  Jedes Frühjahr zogen schwarze  Wolken von Südosten her über das Land und brachten den Regen, den die Bauern brauchten, manchmal aber auch Stürme, die die Aussaat bedrohten. Wenn der Herr den Dörflern gnädig war, dann begannen die Bauern Anfang Juli mit der Ernte, mähten im Schweiße ihres Angesichts das Getreide, während ihre Frauen und Kinder hinter ihnen hergingen, um die Garben zum trockenen zu binden. Dreschmaschinen, die die Spreu vom Weizen trennten, gab es noch nicht, so dass das getrocknete Heu mühsam gedroschen werden mussten, um das Korn zu gewinnen, das dann in den Mühlen von Adamow gemahlen wurde. Alle paar Jahre vernichtete eine Dürre die Ernten, dann wurden die Mehlvorräte gestreckt, die Suppen verdünnt und die Gürtel enger geschnallt. Nur im Opferstock der Dorfkirche klingelte es dann  lebhafter, denn irgendwie musste die  verstimmte Muttergottes wieder besänftigt werden. Im Herbst zogen alte Mähren die Pflüge über das Land um die Erde für die neue Aussaat vorzubereiten. Krankheiten wie die Cholera und die Tuberkulose gingen zurück, der Jungfrau von Czenstochau sei Dank.  Im Winter knirschten die Dächer unter der Last des Schnees, aus den Kaminen stieg grauer Rauch in den Himmel. Manch ein Bauer, der im Halbdunkel der winterliche Tage einsam war, verfiel dem Wodka, andere beteten beim flackernden Schein ihrer Kerzen zur Madonna, um ihren Glauben zu stärken.  Dann wurde es Frühjahr, der Schnee schmolz, und bald erschienen die ersten Störche und bauten ihre Nester auf den Dächern und Scheunen.  Pferde, Kühe, Schweine und Hühner waren die Gefährten der Menschen, nur bei den Juden von Adamaow und Lukow fehlten die Schweine, dafür liefen ausgemergelte Ziegen über ihre Höfe. Einzig die deutschen Bauern, die am Rande der Dörfer von Zakepie, Admaow, Jozefuw, Bielany und Serokomla siedelten, hatten alles: Kühe, Rinder, Schweine und Ziegen – und auch noch Steinhäuser.  Konnte das wirklich mit rechten Dingen zugehen?

  Das war die Welt, in der am 8. Juni 1923 Maria Kaminska geboren wurde, das älteste Kind des Bauern Thomasz Kaminski und seiner Frau Jozefa Plewka. Es war eine erwartungsvolle Zeit, in der Maria das Licht der Welt erblickte, die ersten Jahre eines  wieder erstandenen polnischen Vaterlandes, das nach dem Ende des großen Krieges wie ein Phoenix auf den Schlachtfeldern der Völker wieder erstanden war. Die Kaiserreiche von Deutschland, Österreich und Russland waren zu schanden gegangen, doch Polen war wieder erstanden, grösser und mächtiger als jemals zuvor, mit Grenzen, die weit in die Tiefen Russlands hineinreichten und alle ruhmreichen Orte der polnischen Geschichte  wieder vereinigten. 

  Marias Vater Thomasz Kaminksi hatte im ersten Weltkrieg als polnischer Soldat in der russischen Armee gekämpft. Er hatte die ersten Kriegsjahre miterlebt, den russischen Einmarsch in Ostpreußen und die schmähliche Niederlage an den Masurischen Seen. Im letzten Kriegsjahr war er aus der russischen Armee desertiert, um sich den Truppen General Pilsudskis anzuschliessen, die in Schlesien gegen die Deutschen kämpften. Dann war der Krieg zu Ende. Thomasz Kaminski war heimgekehrt, siegreich und ehrenvoll entlassen, um in Zakepie den Hof seiner verstorbenen Eltern zu bewirtschaften. Thomasz Kaminski war nicht groß, aber ungemein kräftig, er besaß einen klaren Verstand und kurze, flinke Beine, mit denen er den Weg zwischen Zakepie und Adamow in einer halben Stunde zurücklegen konnte. Mit seinen kugelrunden Augen, seinen tapsigen Bewegungen und seiner starken Körperbehaarung glich er einem zotteligen Bären, besaß Schlagfertigkeit und Mutterwitz und wusste mit den Mädchen des Dorfes so gut umzugehen, dass ihm manch eine schöne Augen machte.  Zur allgemeinen Überraschung erwählte er jedoch Jozefa Plewka zur Gattin, eine junge Frau ohne besondere Reize. Sie war hager wie ein Drahtesel, besaß große eckige Knochen, blasse Haut und ein fliehendes Kinn. Kochen konnte sie nur das Nötigste, Brot backen war ihr ein Gräuel, und die Einmachgläser verschloss sie so nachlässig, dass das Obst mitunter über den Winter verdarb. Aber sie brachte eine fette Mitgift mit in die Ehe, genau gesagt, jene Landparzellen, nach der die Familie Kaminski zur Abrundung ihres eigenen  Besitzes schon lange gierte. Immerhin war Jozefa Plewka  gutmütig und fromm, so fromm, dass sie fast täglich den Rosenkranz betete, ganz gleich, ob Wallfahrtszeit war oder nicht.  Keine Messe ließ sie aus, und wenn der Bischof von Lublin in der Gegend war, reiste sie in die Kreisstadt, um seiner Messe beizuwohnen. Während der Woche versorgte sie entweder ihr kleines Erdbeerenfeld oder saß am großen Holztisch vor einem Herbata und  blickte durch das Küchenfester, ob nicht ihr Bruder Marek zu Besuch käme. Marek Plewka war ein Jahr älter als seine Schwester Jozefa, aber noch immer unverheiratet. Was bei Jozefa kantig wirkte, erschien bei Marek männlich, wo Jozefa betete, lachte und tanzte ihr Bruder, wann immer sich dazu Gelegenheit ergab. Mit dem Vater Wieslaw hatte sich  Marek Plewka überworfen, weil er in den Judenspelunken von Lukow verkehrte. Schließlich war Marek enterbt worden, so dass ihm nichts weiter übrig geblieben war, als sich bei einem jüdischen Zwischenhändler in Lukow als Ladengehilfe zu verdingen.     

  Thomasz Kaminski nahm seine Familie wie sie war, seine Frau seinen Schwager, den grimmigen alten Wieslaw Plewka, der langsam wunderlich im Kopf wurde, und seine kleine Tochter und arbeitete von morgens bis abends auf den Feldern. Die Erdbeeren, die Eier, die Milch  und das Korn, die Zwiebeln und die Würste, die er nicht selbst verbrauchte, verkaufte er über seinen Schwager Marek an den jüdischen Zwischenhändler. Sein nicht genutztes Land überliess er seinen Nachbarn für eine ordentliche Pacht, und das Geld, das auf diese Weise zusammenkam, brachte er nach Lukow auf die Bank. Da die Familie sparsam lebte und Jozefa Plewka nur die einfachsten Speisen zubereitete, reichte es bald für den Kauf neuer Felder, für die Anschaffung eiserner Pflüge samt Zugvieh und neuer Pferdewagen. Schließlich wurde er so wohlhabend, dass er das Holzhaus seiner Eltern durch ein Steingebäude ersetzte und mit einem ordentlichen Schieferdach versah. Bald wurde sein Betrieb so groß,  dass er Landarbeiter aus der Umgebung anstellte und sich nach einer Magd zur Entlastung seiner Gattin umsah. Die junge Frau, die er anstellte, hieß Anjela und war eine Waise aus Czarna. Sie war ein  junges, dralles Ding mit Augen wie Schmetterlingsflügel, die dem Kaminskibauern auf der Stelle gefiel. Kein Wunder, dass sie ein eigenes Gesindezimmer in der Parterre erhielt, zu dem der Herr des Hauses einen Zweitschlüssel besaß. Da er diesen Schlüssel regelmäßig nutzte, ohne dass seine fromme Gattin etwas merkte, schien sich Thomasz Kaminskis Leben ins Vollkommene zu runden. Arbeit, Familie, die richtige Menge Schnaps auf einer Dorfhochzeit und gelegentliche Besuche bei der drallen Anjela bereicherten sein Leben mit jener Art von Fülle, auf die er als hart arbeitender Bauersmann einen Anspruch zu haben glaubte. Und da ihm Watzlaw Kattanski, der Dorfpfarrer, für die eine oder andere Extraspende regelmässig Absolution erteilte, war auch vor dem Allerhöchsten alles in Ordnung. 

  Die kleine Maria wuchs heran, war anstellig und fügsam und immer  bestrebt, die notleidende Mutter  von der häuslichen Arbeit zu entlasten. Sie war noch keine vier Jahre alt, da lernte sie schon die Eier einzusammeln, ohne die gackernden Hühner zu beachten. Bald versorgte sie auch die Schweine, die sie wie  fette Trolle aus den Tiefen des Stalles angrunzten, und am Ende wagte sie sich sogar an die Kühe heran. Die drei Kühe, die Thomasz Kaminski besaß, hießen Hilda, Giesa und Rotunda, hatten wunderschöne Augen und einen warmen Bauch, an die sich Maria, wenn ihr kalt wurde, gerne wärmte. Als hätten sie Mitleid mit dem winzigen Wesen, das sich ihnen mit dem Melkeimer näherte, hielten sie still, wenn sich Maria an ihnen zu schaffen machte.

  Die Mutter wurde unterdessen immer bleicher, weinte viel und gab dem Vater sogar das eine oder andere Widerwort. Mal klagte sie über die Faulheit der Magd, mal pries sie die Madonna, dass sie ihr eine so tüchtige Tochter geschenkt hatte, nicht ohne sich insgeheim darüber zu wundern, wie sie ein solches Kind hatte zur Welt bringen können. Ganz anders  war es, wenn Onkel Marek zu Besuch kam. Marek Plewka war inzwischen Handelsvertreter für Textilien in Lukow geworden. Im Auftrag seines jüdischen Arbeitgebers reiste zu zu den Fachmessen in Warszawa und Lodz, verdiente gutes Geld und besuchte seine Schwester in modischen Hosen, über die die Nachbarn kicherten. Wenn Marek Plewka im Haus war, lachte Jozefa Plewka aus vollem Hals, und auch Maria freute sich, denn der Onkel brachte immer ein Geschenk mit, eine kleine Brosche, eine Anstecknadel oder wenigstens eine Blume aus Plastik, die Maria eine Zeitlang an ihrer Schürze trug. 

Stammbaum der Familien Kaminski, Wolek, Brosz und Gontasch

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