Leseprobe Kapitel 12: Die wunderlichen Kinder (2)

 Inhalt des Kapitels: Lilias Schwester Anja Wolek wurde an einem verregneten Apriltag geboren. Sie sah rund und verquollen aus, weinte viel und war krank vom ersten Tage an.  Keiner wusste,  woran das Kind litt, aber es erbrach die Milch und sein Köpfchen glühte wie ein kleiner Ofen. Manchmal verschwand das Fieber auch, dann war einige Wochen Ruhe, ehe sich die  Haut des Kindes wieder ins Bläuliche verfärbte und der Zyklus aufs Neue einsetzte.

  So verging das erste Lebensjahr im Rhythmus von Fieber, Verfärbung und Erholungsphasen. Maria hütete das Kind wie ihren Augapfel, behandelte es mit allen bekannten Kräuterextrakten, betete  zur Madonna und legte erkleckliche Szlotybeträge in den Opferstock. Scheu schlich Lilia durch das Haus, als könnten ihre Geräusche der kleinen Schwester schaden.

  Ein weiteres Jahr verging, und Anja schien sich zu erholen. Sie verließ ihre Wiege, begann zu krabbeln und entdeckte ähnlich wie Lilia einige Jahre zuvor die Geheimnisse des Hofes.  Aber im Unterschied zu Lilia hatte sie wenig Freude daran, über die Felder und durch den Wald zu laufen. In ihrem dritten und vierten Lebensjahr  saß sie am liebsten in der Küche und beobachtete, wie ihre Mutter Maria oder Tante Halka das Essen zubereiteten.  Waren die Eltern oder die Tante auf dem Feld, musste Lilia auf die kleine Schwester achtgeben, was ihr wenig Freude bereitete. Denn Anja war ein merkwürdig zurückhaltendes Kind, dem es an Zutraulichkeit  mangelte. Zu viel Nähe war ihr nicht angenehm, und gerade bei Lilia wehrte sie sich, wenn die ältere Schwester sie zu umarmen versuchte. Auf der anderen Seite beschlagnahmte Anja selbstverständlich Lilias Spielzeug, zuerst die Puppen, dann die dazu passenden Kleidchen, schließlich den Holzreifen und die Bauklötze, die der Vater geschnitzt hatte.  Als sich Lilia bei den Eltern beschwerte, stieß sie auf Unverständnis. Wie war es nur möglich, dass Vater und Mutter so ungerecht sein konnten und so vollständig für Anja Partei ergriffen? Zum ersten Mal war sie auf ihre Eltern zornig, aber nur kurz, dann siegte wieder ihr schlechtes Gewissen.  Lilia wusste, dass die die kleine Schwester hätte lieben sollen, und das gleich aus mehreren Gründen. Erstens, weil  es ihre Schwester war, zweitens, weil sie  kränkelte und drittens weil man, wie es der junge Priester ausdrückte, alle Menschen lieben sollte.  Das mochte die Wahrheit sein, doch in der Nacht träumte Lilai, dass Anja plötzlich verschwunden sei.  Merkwürdigerweise schien das im Traum weder  Mutter noch Vater aufzuregen. Alle  verhielten sich wie immer und es war, als habe Anja niemals existiert.  Am nächsten Morgen  schämte sich Lilia für diesen Traum bis in den Grund ihrer Seele und beichtete ihn sogar dem alten Pfarrer. Der nahm es wie immer auf die leichte Schulter und verordnete die übliche Zahl von „Vater unser“ als Buße.

  Dann wurde Anja plötzlich wieder krank. Es war im letzten Jahr vor ihrer Einschulung, als die Symptome des ersten Lebensjahres von einem auf den anderen Tag zurückkehrten. Mit Schrecken erkannte Maria die bläulichen  Verfärbungen wieder, die sie an der gerade neugeborenen Anja so beunruhigt hatte, auch der Wechsel von Fieber und Schüttelforst kehrte zurück.  Mit glasigen Augen lag Anja schweißgebadet im Bett und keuchte, als fiel ihr das Atemholen schwer.  Sie hatte keinen Appetit und wenn sie etwas zu sich nahm, erbrach sie es meist wieder.

    Dr. Herlitschek wurde gerufen, verordnete kalte und warme Umschläge und verabreichte dem Kind einige seiner Pillen. Als er bei seinem nächsten Besuch keine Besserung feststelle, empfahl er die Einweisung in das Krankenhaus in Lukow.  

  „Das hätten wir schon längst machen sollen“, schimpfte Maria und leerte die Geldschatulle.

  Leise weinend in eine Decke eingewickelt saß Anja neben der Mutter, als Jozef und Maria mit der Kutsche nach Lukow fuhren. Bolla zog den Wagen schneller als sonst, als fürchte auch sie um das Leben des Kindes.  

  Im Aufnahmebereich der Klinik warteten sie einige Stunden. Links von ihnen saß ein einbeiniger Bauer, dessen Stumpf sich entzündet hatte, Er krümmte sich vor Schmerzen, während ihn seine Familie umringte. Einer uralten Frau, die ihnen gegenüber saß, wuchs ein grotesk großer Tumor wie ein Haarteil aus dem Kopf. Sie litt an einem leichten Tremor und zitterte, ohne wahrzunehmen, was um sie herum geschah. 

  Der Name des Arztes, der Anja untersuchte war Dr. Trusk. Er war ein hagerer, nervöser Mann mit tiefen Ringen unter den Augen. Ihm assistierte eine Krankenschwester, die Anja entkleidete.  Der Arzt horchte Anja ab, blickte ihr in Mund und Augen und drückte ihr hier und da seinen Daumen in den Leib, worauf Anja laut aufschrie. „Das Kind leidet an einer Entzündung“, verkündete  er,  während er das Stethoskop weglegte.  „An welcher, kann ich  nicht feststellen. Achten sie darauf, dass es Ruhe hat, und geben sie ihm kalte und warme Umschläge.“

  „Aber das haben wir getan“, widersprach Jozef. „Und genutzt hat es nichts. Haben sie denn keine Medikamente, die seinen Zustand verbessern?“

  „Doch, aber sie sind nur für Schwerkranke vorgesehen.“

  „Aber das Kind ist schwerkrank, es wird sterben, wenn sie ihm nicht helfen“, schaltete sich Maria ein. Unvermittelt hatte sie die Hände des Arztes ergriffen und ihm unter der Hand ein  ganzes Bündel Szlotyscheine  zugesteckt. Die Schwester verzog keine Miene. 

 Dr. Trusk  blickte beiläufig auf die Scheine in seiner Hand  und steckte das Geld ein. Dann zögerte er einen Moment, als würde er überlegen. „Warten Sie einen Augenblick“, sagte schließlich. „Ich will sehen, ob ich doch noch eine Spritze bekomme.“

  Wenige Minuten später erhielt Anja eine Spritze. „Am besten, sie bleibt einige Tage hier“, meinte der Arzt. „Aber diese Behandlung ist nicht kostenfrei.“

   Maria und Jozef blickten sich kurz an. Dann holte Maria den Rest des Geldes aus ihrer Tasche und überreichte dem Arzt das ganze Bündel.

  Dr. Trusk schätzte den Wert des Geldbündels ab. „ Das reicht bis Ende der Woche“, sagte er. „Aber vielleicht geht es dem Kind dann schon etwas besser.“ 

  Aber diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Als Jozef und Maria Ende der Woche im Krankenhaus erschienen, teilte ihnen  Dr. Trusk  mit, dass sich Anjas Befinden verschlechtert habe. Das Fieber sei zwar zurückgegangen, aber die beunruhigende bläuliche Verfärbung der Haut habe sich intensiviert.  Dr. Trusk führte sie zur Kinderstation, die aus einem einzigen großen Raum bestand, in dem zwölf Kinder unterschiedlichen Alters  in ihren Betten lagen. Unter ihnen waren Neugeborene und Kleinkinder, Anja gehörte mit irhen fünf Jahren schon zu den Älteren. Der ganze Raum hallte wieder vom Heulen der kleinen Patienten, den besorgten Stimmen der Eltern und den Ermahnungen  der Krankenschwerster, die den Raum überwachte. 

  Anja lag abseits mit weit geöffneten Augen im Bett. Die Blauverfärbung war so stark wie noch nie. Maria spürte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte. 

  „Wir könne nichts weiter machen“, erklärt Dr. Trusk. „Die Spritzen schlagen nicht an. Eine weitere Behandlung mit unseren Mitteln ist sinnlos.“

  „Sinnlos?“ wiederholte Maria. „Sie wollen das Kind sterben lassen?“ 

  „Von Wollen kann keine Rede sein“, widersprach der Arzt. „Aber wir können nichts mehr tun. Unsere Behandlungsmöglichkeiten sind begrenzt. Wir sind hier nicht in Warszawa oder Lublin.“

  „Dann überweisen sie das Kind doch in eine bessere Klinik nach Warszawa oder Lublin“, forderte Jozef.

  „Das dürfen wir nicht, erwiderte Dr. Trusk. „Überweisen dürfen wir nur in ganz wenigen, ausgewählten Fällen.“

  „Etwa bei den Kindern von Parteikadern?“ fragte Jozef. Sein Gesicht hatte sich  gerötet.

  „Diese Bemerkung habe ich nicht gehört“, gab der Arzt zurück. 

  Jozef trat an ihn heran und war kurz davor, ihm ins Gesicht zu schlagen. „Überweisen Sie meine Tochter!“ forderte er.

  „Ich kann es nicht.“ 

  Maria schob Jozef zur Seite. „Herr Doktor, bitte helfen Sie uns“, bat sie und schob ein Bündel Szlotys in die Handinnenflächen des Arztes. 

  Wieder steckte Dr. Trusk das Geld ein, als wäre es das Normalste der Welt. Seine Miene war völlig neutral, als er einen Zettel aus der Tasche nahm und einige Worte auf das Papier schrieb. „Ich kann sie nicht offiziell überweisen, das ist uns verboten. Ich  kann ihnen aber den Namen einer Ärztin in Lublin geben, die in der dortigen Kinderklinik Dienst tut. Sie ist ein guter Mensch. Vielleicht wird sie ihnen helfen.“    

  So kehrte Anja ebenso krank nach Zakepie zurück, wie sie das Dorf verlassen hatte. Maria zündete eine Kerze für ihre Genesung in der Kirche an, der junge Priester Igor Selenski erschien an Anjas Bett und  betete für das Kind. Lilia pflückte Blumen und brachte sie in Anjas  Krankenzimmer. Seit Tagen konnte Lilia kaum noch schlafen, weil sie sicher war, dass ihr Traum von Anjas Verschwinden und Anjas erneute Erkrankung zusammenhingen.  Marta Buruwska schlug vor, gemeinsam nach Czenstochau zu pilgern, doch Maria wollte ihr Kind nicht verlassen.

  Jozef lief einen halben Tag lang mit versteinerter Miene durch das Haus, dann schirrte er Bolla an und fuhr zum Geldverleiher Adamtschek nach Adamaow. Juri Adamtschek war ein verwitweter Pole aus Vilnius, der sich nach der Vertreibung der Polen aus Litauen im Bezirk Lukow niedergelassen hatte. Offiziell betrieb er einen Trödelladen, inoffiziell war er der Geldverleiher des Bezirks, bei dem man sich gegen Sicherheiten und hohe Zinsen Kredite besorgen konnte. Niemand wusste, woher das Geld stammte, das er verlieh, und niemand fragte danach, weil es Adamtschek verstand, die zuständigen Stellen in Lukow zu schmieren.  

   Jola Adamtschek, die Tochter des Geldverleihers öffnete die Türe und bat Jozef herein. Sie trug eine Schürze, ihre schwarzen Haare waren hinter dem Kopf zu einem Knoten zusammengebunden.  Juri Adamtschek, ein schwerer, glatzköpfiger Mann mit einer Knollennase, saß in einem Sessel in der abgedunkelten Stube. 

  Jozef stellte sich vor und bat ohne große Vorrede um einen Kredit, damit er die Behandlung seiner Tochter in der Kinderklinik in Lubin bezahlen konnte.

  „Was brauchst du Geld für eine Krankenhausbehandlung?“ wunderte sich Adamtschek. „Im Sozialismus ist die Behandlung kostenlos.“

  „Ja, mag sein“, erwiderte Jozef. „Aber nicht für Bauern. Bauern müssen jede Untersuchung und jedes Medikament bezahlen. Wir mussten dem Arzt in Lukow bereits eine hohe Summe geben. Nun haben wir kein Geld mehr und wissen nicht, wie wir die Behandlung in Lublin bezahlen sollen.“

  „Wieviel braucht Ihr?“

   Jozef nannte eine Summe, die seinem Jahreseinkommen entsprach.

   „Hast du Sicherheiten?“ fragte Adamtschek.

  „Meine Hof, mein Land und mein Vieh.“

    Adamtscheks Tochter Jola betrat den Raum und brachte zwei Gläser Herbata. Der Tee war dünn, Adamtschek nipppte an ihm und machte ein zweifelndes Gesicht.

   „Ich kenne deinen Hof nicht und auch nicht deinen Tierbestand. Ich muss mir deinen Hof ansehen, ehe ich dir Geld leihen kann“, erklärte Adamtschek. „Gib mir deine Adresse, ich komme morgen vorbei.“

   Am nächsten Vormittag sah Lilia, wie eine alte Droschke vor dem Hofeingang hielt. Auf dem Kutschbock saßen zwei Personen, ein Mann und ein Mädchen. Überrascht erkannte Lilia in dem Mädchen ihre ruhige, etwas absonderliche Mitschülerin Jola, die  sich von allen andern fernhielt.  Der Mann musste ihr Vater sein, der berüchtigte Geldverleiher. 

  Jozef und Maria erschienen vor dem Haus  und begrüßten Adamtschek, der  schwerfällig vom Karren stieg. Obwohl Lilia ihre Mitschülerin einlud ins Haus zu kommen, lehnte Jola ab und blieb auf dem Kutschbock sitzen.

 Der Geldverleiher verzichtete auf den angebotenen Herbata und ließ sich gleich über den Hof führen.  Nur ein leises Knurren, das Kritik oder Zustimmung gleichermaßen bedeuten konnte, war von ihm zu hören. Er betrachtete die Kühe, die Schweine und die Hühner und überblickte die Felder des Wolekhofes.

     „Du bist kein armer Bauer, Wolek“, sagte er schließlich. „Hast du denn gar eine Reserven? Kannst du kein Land verkaufen?“

  „Nein“, antwortete Jozef. „Meine Schwester Janka hat einen Teil des Landes für ihren neuen Hof erhalten, meinem Schwager Janek habe ich ebenfalls Land überschreiben müssen. Meinen Schwager  Eugenius, der in Gdansk lebt, werde ich auch noch auszahlen müssen. Vielleicht heiratet bald auch meine Schwester Halka, auch sie benötigt Land.“

  „Wie man hört, ist dein Schwager ein hoher Kader. Kannst du ihn nicht um Geld bitten?“

  „Das will ich nicht“, antwortete Jozef und wunderte sich, woher Adamtschek das wusste.    

   Adamtschek nickte und schaute sich noch einmal um. Schließlich willigte er ein, legte den Eltern einen vorbereiteten Vertrag vor, den sie unterschrieben und überreichte Jozef einen Umschlag, in dem sich der geforderte Szlotybetrag befand.

  „Ich leihe dir das Geld auf zwei Jahre, Wolekbauer“, sagte Adamschek. „Der Zins beträgt zwölf Prozent.  Ein Prozent erhalte ich jeden Monatsersten vom Gesamtbetrag. Am Ende des Jahres zahlst du mir den Betrag zurück. Tust du das nicht, kann ich dein Vieh und dein Land pfänden lassen.“

    Ohne zu zögern nahm Jozef das Geld „Habt Dank, Adamtschek“, sagte er. „Wir werden die Zinsen pünktlich entrichten und mit der Rückzahlung nicht in Verzug geraten.“

  Schon am nächsten Morgen rüsteten sich Maria und Jozef für die Reise nach Lublin. Lilia weinte, als die Eltern das in dicke Decken eingewickelte Kind aus dem Haus trugen.  Anja sah aus wie eingeschrumpelt, ein kleines runzeliges Wesen, aus dem langsam das Leben entwich.

  Janek kutschierte Maria, Jozef und Anja nach Serokomla, wo sie in den Bus nach Lublin umstiegen.  Bauern aus der Umgebung, die einen Teil der Strecke mit dem gleichen Bus fuhren, wünschten den Woleks Gottes Segen für ihre Reise. Maria saß blass neben ihrem Mann und schwieg.  Anja schlief auf dem Schoß ihrer Mutter mit schweißbedecktem Gesicht.

  Auf dem Busbahnhof von Lublin gerieten sie in eine Personenkontrolle. Fünf Soldaten versperrten den Ausgang und kontrollierten die Papiere. 

 „Was wollt ihr in Lublin?“ fragte der Befehlshaber, der Jozef die Papiere zurückgab. 

  Stumm wies Jozef auf das Körbchen mit der winzigen Anja. „Wir müssen dringend in die Kinderklinik, sonst stirbt unsere Tochter.  Jede Stunde ist wichtig.“

  Der Offizier sah das Kind an, dann gab er einen kurzen Befehl nach hinten. Ein junger Soldat eilte herbei,  salutierte und führte Maria und Jozef zu einem Wagen, der sofort losfuhr. „Der Jungfrau sei Dank“, murmelte Maria, als der Wagen die Stadt durchquerte. Jozef blickte aus dem Fenster und versuchte sich an seinen Aufenthalt in Lublin zu erinnern. Die Trümmer des Krieges waren verschwunden, die meisten Häuser waren wieder aufgebaut worden, doch es waren kaum Menschen auf den Straßen zu sehen. Die Stadt war zu groß für die Zahl ihrer Bewohner, dachte Jozef. Die hunderttausend Juden, die den Deutschen zum Opfer gefallen waren, fehlten. Sie waren nicht mehr da und hatten leere Plätze hinterlassen.

  Die Kinderklinik von Lublin war ein modernes dreistöckiges Gebäude mit einem großzügigen Eingangsbereich. „Am besten geht ihr sofort zur Notaufnahme“, riet ihnen der Soldat. „Sonst lassen sie euch gar nicht erst herein.“

  In der Notaufnahme warteten sie  zwei Stunden, dann wurden sie vorgelassen.  Als sie erklärten, dass sie aus Zakepie aus dem Bezirk Lukow kämen, schüttelte der diensthabende Arzt den Kopf. „Dann sind sie hier falsch. Wenden sie sich an das Krankenhaus in Lukow.“  Er war ein junger, hochaufgeschossener Mann, trug einen weißen Kittel und zeigte ein uninteressiertes Gesicht.  Im Hintergrund warteten zwei Krankenschwestern auf eine Entscheidung.

  „Aber da kommen wir her. Man hat uns an dieses Krankenhaus verwiesen“, sagte Jozef.

  „Gut, und wo ist die Überweisung?“

   „Wir haben keine Überweisung erhalten“, schaltete sich Maria ein, „aber wir sollten und bei einer Frau Dr. Trocha melden. Das hat uns der leitende Arzt in Lukow empfohlen.  Bitte benachrichtigen Sie Frau Dr. Trocha und sagen sie ihr, Patienten von Dr. Trusk seien hier.“

  Der diensthabende Arzt zögerte. In seinem desinteressierten Gesicht zeigten sich Züge von Unwillen.  Ehe er etwas sagen konnte, trat eine der beiden Schwestern vor. „Ich hole Frau Dr. Trocha“, sagte sie. „Sie befindet sich in der Nachbarstation. Sie kann entscheiden.“ Ehe der diensthabende Arzt etwas sagen konnte, hatte die Schwester den Raum verlassen.

   „Nur falls wir das Kind aufnehmen, zeigen sie mir ihren Krankenversicherungsnachweis“,  verlangte der Arzt

  „Wir sind nicht krankenversichert. Wir sind Bauern.“

  „Dann müssen sie die Behandlung bezahlen.“

  „Das wissen wir, und wir haben genug Geld“, antwortete Maria.

  Eine Frau in mittleren Jahren betrat, von der Krankenschwester begleitet, den Raum. Sie hatte scharfe Gesichtszüge, graue, gelockte Haare und wandte sich sofort Anja zu.  Maria klopfte das Herz bis zum Hals, sich die  Ärztin dem zitternden  Kind zuwandte und sein blau verfärbtes Gesicht musterte.  

  „Wahrscheinlich Anämie“, diagnostizierte sie, um sich dann der Schwester zuzuwenden.  „Bitte Blutentnahme vorbereiten, wiegen, waschen und einweisen.“

  „Sie haben keine Überweisung“, wandte der behandelnde Arzt ein.

  „Aber wir könne die Behandlung bezahlen“, sagte Maria.

    Zwei Monate lang lag Anja in der Kinderklinik in Lublin, und nur ganz langsam besserte sich ihr Befinden. Die Runzeln, die sich in ihrem Gesicht festgesetzt hatten,  verschwanden ebenso wie die  bläuliche Verfärbung ihrer Haut. Nach zwei Wochen  war Anja wieder in der Lage, Nahrung bei sich zu behalten, und sie nahm wieder zu. Sie schlief nun länger und ruhiger, ihre Augen wurden klarer, und manchmal redete sie mit den Schwestern, die sich um sie kümmerten, wie ein ganz normales Kind.

   So oft es Maria und Jozef möglich war, fuhren sie nach Lublin, meistens nur einer von beiden, damit der andere die Arbeiten auf dem Hof erledigen konnte. Einmal kam Lilia mit Maria ins Krankenhaus und erkannte die Schwester nicht wieder. „Das ist nicht Anja“, sagte sie. „Sie sieht ganz anders aus.“

 „Doch, das ist deine Schwester. Sie wird langsam gesund.“

  Lilia sah noch einmal hin und begann zu weinen. 

  „Warum weinst du?“ fragte Maria. „Anja geht es doch gut.“

  Lila schüttelt den Kopf und schwieg. Sie dachte an Elzbietta, die weniger Glück gehabt hatte als Anja Warum war der Herrgott in ihrem Fall so ungerecht gewesen? Er hätte doch auch Anja nehmen könne, dachte sie und erschrak  bei diesem Gedanken. Würde sie ihn beichten müssen?  

  Als Jozef die Höhe der Krankenhausrechnung sah, wurde ihm fast schwindelig. Dr. Trocha hatte die Summe so niedrig wie möglich angesetzt, trotzdem musste Jozef fast den  gesamten Kredit für die Begleichung des Rechnungsbetrages  aufwenden. Für den unbedeutenden Rest erwarb Jozef in Lukow ein Radio und ein gebrauchtes Fahrrad mit extra dicken Gummireifen für Lilia. Das Mädchen hatte so lange hiner ihrer kranken Schwester zurückstehe müssen, dafür verdiente sie eine Entschädigung. Maria protestierte gegen diese Ausgaben, aber Jozef setzte sich durch.

Stammtafel

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