Leseprobe 2: DAS MASSAKER (aus Kapitel 4 – im Buch S. 63-81)

Das Dorf Nowolipie und der gesamte Bezirk Ruków sind von der deutschen Armee besetzt. Lokale  Selbstschutzverbände aus volksdeutschen Siedlern unterstützen die Gestapo bei der Verfolgung von Widerständlern. Gemäßigte volksdeutsche Bauern wie Adolf Radler resignieren und planen mit ihrer Familie die Rückkehr nach Deutschland. Da wird sein Hof Opfer eines Raubüberfalls    

  Das war nicht mehr das Land, in dem Adolf Radler leben wollte. Bald  nach der Gründung des volksdeutschen Selbstschutzbundes hatte er begonnen, seinen Hof und seinen Grund zum Verkauf anzubieten, nicht offen, sondern unter der Hand, eine Parzelle hier, ein Waldstück dort, dann das Vieh und schließlich den ganzen Hof an einen umgesiedelten polnischen Bauern aus Toruń. Die Preise waren schlecht gewesen, wenngleich nicht ganz so schlecht wie er befürchtet hatte. Für einen Neuanfang in Deutschland würde es reichen.

  Seine Knechte entließ er nach und nach mit aufgerundeter Entlohnung und Abschiedsgeschenken. Ein Sack Kartoffeln, ein Pferd, ein Werkstück, einen Silbertaler –  für jeden hatte er etwas vorbereitet, und die Knechte dankten es ihm von Herzen. Nur der Knecht  Antatoli Mazurek war nicht zufrieden. Er hatte ein Stück Feld haben wollen, hatte sogar angeboten, einen Teil des Landes zu bezahlen, doch Radler  hatte abgelehnt. Noch vor dem abschließenden Wodkaumtrunk mit den letzten Knechten war Anatoli Mazurek wütend vom Hof gestürmt. 

  Nun waren alle fort, außer Jakub, dem ältesten Knecht. Jakub war ein ehemaliger polnischer Bauer, der schon seit Jahren bei Adolf Radler  im Lohn stand. Er würde in der Scheune schlafen und sich am nächsten Morgen mit dem Pferd, das ihm der Radlerbauer zum Abschied geschenkt hatte, auf den langen Weg in die Biszcaden machen, wo seine Schwester lebte.

  Nachdem alle Knechte und Mägde außer Jakub den Hof verlassen hatten, saß die Familie Radler  noch lange im großen Zimmer des Haupthauses beieinander. Die Eltern waren schweigsam, denn sie wussten nicht wirklich, was die Zukunft bringen würde. Dass er nicht wie sonst in diesen Tagen die Frühjahrsaussaat besorgte, kam Adolf Radler falsch vor. Aber es war wie es war, der  Abschied rückte heran. Schon Ende der Woche würden die Wagen kommen und den Hausstand zur Eisenbahn nach Ruków transportieren. Vorher würde er sich noch von seinen deutschen Landsleuten verabschieden müssen, aber auch das würde vorübergehen. Vielleicht würde er noch zu Seweryn Kołek  gehen und mit ihm einen Wodka trinken.

  Hildegard Radler  schwieg und dachte daran, wie sie vor Jahren als Braut des jungen Radler  in dieses Land gekommen war. Es war eine von der deutschen Verwandtschaft arrangiere Ehe gewesen, mit dem bescheidenen Ausmaß von Glück und Unglück, das man fernab der Heimat zu ertragen hatte. Nun würde sie Polen wieder verlassen, was Hildegard Radler  nicht sonderlich bedrückte, denn das, was ihr wichtig war, ihre Kinder,  würden ihr bleiben. Die erwachsenen Söhne Lutz und Martin  waren guter Dinge. Sie hätten ihr Leben ohnehin nicht in der polnischen Provinz verbringen wollen, und freuten sich auf die Möglichkeiten, die ihnen Deutschland bieten würde. Als erstes würde die Einberufung zur deutschen Reichswehr auf sie warten, doch nach dem Krieg würden ihnen alle Türen offen stehen.

  Der jüngste Sohn Heinrich grollte den Eltern ein wenig, weil sie die Hunde nicht mitnehmen wollten. Sie waren bereits dem Schraderbauern übergeben worden. Die kleine Hilda Radler  saß auf dem Schoß der Mutter und hatte den Kopf an ihre Schultern gelehnt. Sie verstand nicht recht, was vor sich ging und war unsicher, ob sie sich freuen oder fürchten sollte. Halb aus Ratlosigkeit, halb aus Müdigkeit lief ihre eine kleine Träne über die Wange.

  Zwei Stunden nach Mitternacht, als alle schon schliefen,  gab es ein Geräusch  am Hauseingang. Niemand wachte auf, als sechs Gestalten durch die Türe ins Hausinnere schlichen. Sie waren vermummt und wussten genau, wohin sie wollten. Zuerst liefen sie in den ersten Stock des Hauses, wo sie sich vor den Schlafkammern der Eltern und der Söhne aufteilten. Drei verkleidete Gestalten drangen leise in das Schlafzimmer der Eltern ein und erstachen Adolf Radler  im Schaf. Hildegard Radler  die dabei aufwachte, wurde die Kehle durchgeschnitten, noch ehe sie schreien konnte. Gleichzeitig fielen drei Eindringlinge über die beiden älteren Söhne im Nachbarzimmer her. Lutz Radler hatte die Geräusche  gehört und  war aufgestanden, da flog die Türe auf und mit einem wuchtigen Hieb spaltete einer der Räuber ihm den Kopf mit einem Beil. Martin lag noch im Bett, als ihn die Stiche in Hals und Brust trafen. Inzwischen war Hilda Radler  vom Lärm erwacht und zum Zimmer der Eltern gelaufen. Als sie ihre Mutter in ihrem Blut sah, begann sie zu schreien. Sofort wurde sie von einem der Angreifer auf das Bett gedrückt und mit einem Kissen erstickt. Die Beinchen zuckten noch ein paarmal, dann entwich das Leben aus ihr wie aus einem Gefäß, in dem es ohnehin nicht lange heimisch gewesen war. Heinrich, der jüngste Sohn, der sein Zimmer in der zweiten Etage hatte, kam die Treppe heruntergelaufen und sah die Spuren des Gemetzels in den offenen Türen. Den Bruder und den Vater mit den Messern im Leib, die  Mutter mit der durchgeschnittenen Kehle, das letzte Zucken der kleinen Schwester. Er schrie, dann traf auch ihn das Beil.

  Schnell fanden die Räuber die Kassette, in der sich das Geld für den verkauften Hof befand. Auch der Schmuck der Bäuerin wanderte in die Taschen der Räuber.  So viel an Pelzen, Mänteln und Stiefeln wie die Eindringlinge tragen konnten, wurde vom Hof geschleppt und auf einer Pferdekarre verladen. Gewehre und Munition fanden sie nicht, denn die hatte Radler schon an den volksdeutschen Selbstschutzbund zurückgegeben. Die Durchsuchung des Hauses vollzog sich gründlich und zielgerichtet, wenngleich nicht mehr so geräuschlos wie vorher, denn niemand hatte den Überfall überlebt.

  Niemand außer Jakub, der in der Scheune geschlafen hatte und durch den Schrei der kleinen Hilda Radler wachgeworden war. Jakub hatte eine halbe Flasche Wodka zur Nacht getrunken und war so benebelt, dass er zunächst an eine Täuschung glaubte. Dann gellte der Todesschrei Heinrich Radlers über den Hof, und schlagartig wurde dem Knecht bewusst, was sich im Haus abspielte. Vorsichtig schlich sich  Jakub aus der Scheune und beobachtete das Herrenhaus.  Nach einer halben Stunde kamen sechs vermummte Männer aus dem Haus, beladen mit Mänteln, Jacken, Kassetten und Körben und verschwanden im benachbarten Wald. Was sie gesucht hatten, hatten sie gefunden.

  Jakub wartete noch eine Weile, dann näherte er sich dem Haupthaus. Die Türe stand offen, es roch nach Blut und Tod. Als er die Leichen im ersten Stock sah, bekreuzigte er sich und flüchtete aus dem Haus.

  So schnell er konnte, ritt Jakub auf dem alten Klepper, den ihm der Radler  geschenkt hatte, nach Nowolipie. Die tiefste Nacht war bereits vorüber. Die Sterne begannen zu verblassen und ein fahler weißer Himmel wölbte sich über das Land. Es war der 14. April 1940.

  Das Haus des Ortsvorstehers Fryderyk Kowalski befand sich gleich neben der Dorfkirche. Auf Jakubs heftiges Klopfen öffnete Kowalski die Türe seines Hauses. Seine sonst immer sorgsam gekämmten Haare lagen ihm struppig auf dem Kopf. Als Jakub ihm berichtete, was geschehen war, wurden Kowalski die Knie weich, und er musste sich setzen. Seine Frau Gerda erschien auf der Treppe, zusammen mit den beiden Söhnen Oleg und Edwin.

  „Der Radlerbauer und seine ganze Familie sind auf ihrem Hof ermordet worden“, sagte Kowalski mit tonloser Stimme zu seiner Frau.

  Gerda Kowalska riss die Augen auf.  „Von wem? Von Partisanen?“ .

  Fragend blickte Kowalski den Knecht an.

  „Nein, es waren Kriminelle, sie haben die Schränke durchwühlt, und ich sah, wie sie ihre Beute aus dem Haus herausschleppten“, erklärte Jakub.

  „Wir müssen es den Deutschen melden…“ meinte Kowalski wie zu sich selbst.

  „Sie werden sich furchtbar rächen.“

  „Sie werden die Morde auf jeden Fall entdecken, dann ist es besser, wir teilen es ihnen gleich mit. Außerdem sind wir unschuldig. Die Deutschen wissen, dass Kriminelle die Gegend unsicher machen“, erwiderte Kowalski und winkte seine Söhne heran. Oleg und Edwin Kowalski mochten achtzehn oder neunzehn Jahre alt sein und ähnelten ihrem polnischen Vater. Sie besaßen das gleiche kantige, ehrliche Gesicht, waren schlank, kräftig und behände.

  „Oleg, du reitest nach Ruków zur deutschen Kommandantur und berichtest, was vorgefallen ist. Sag auf jeden Fall, dass es ein Raubüberfall war und dass keine Partisanen beteiligt waren.“ Dann wandte er sich seinem zweiten Sohn zu: „Edwin, du reitest zu Friedrich Bek von der volksdeutschen Selbstschutzgruppe. Dieser Bek ist unberechenbar. Besser, er erfährt von uns, was geschehen ist, als  wenn er es selbst entdeckt. Ich mache mich sofort auf und gehe zum Radlerhof.“

  Als sich die Kowalskis vor dem Haus trennten, war die Sonne gerade aufgegangen. Rotgolden übergossen ihre Strahlen die Umrisse der Häuser, die wie gleichgültige Komparsen  in der Landschaft standen. Ein feiner Nebel lag über den Feldern, der morgendliche Gesang der Vögel hatte bereits begonnen.

  Was Fryderyk Kowalski eine halbe Stunde später im Haus der Radlers entdeckte, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Diese Mörder hatten ihr Geschäft verstanden. Adolf Radler  war mit einem einzigen Stich mitten ins Herz getötet worden. Seine Frau lag in einer Blutlache auf dem Boden. Im Nebenzimmer fand Fryderyk Kowalski  Martin Radler  in der erstarrten Haltung seines Todeskampfes in blutigen Laken. Seinem  älteren Bruder Lutz war der Kopf mit einem Beil gespalten worden, ebenso dem kleinen Heinrich Radler. Unwirklich war der Anblick der kleinen Hilda, die scheinbar unverletzt unter dem Kissen lag, mit dem sie erstickt worden war.

  Kowalski war noch unschlüssig, was er als erstes tun sollte, als er hörte,  wie ein Wagen vor dem Haus stoppte. Als er aus dem Fenster blickte, sah er, wie Friedrich Bek und zwei Begleiter aus dem Fahrzeug sprangen und mit Gewehren bewaffnet auf das Haus zuliefen. Edwin hatte seinen Auftrag also bereits ausgeführt, und der Bekbauer mit seinen Spießgesellen rückte an. Hinter Bek und seinen beiden Begleitern wurden in einiger Entfernung Reiter sichtbar, die auf den Hof zuhielten.

  Kowalski öffnete die Türe, doch Bek stieß ihn brüsk zur Seite und rannte in die  obere Etage. Wolsch und Knauber, die ihn begleiteten, hielten dem Ortsvorsteher das Gewehr vor das Gesicht und drängten ihn gegen die Holzwand.

  „Was soll das?“ protestierte Kowalski verwundert. „Ich bin doch nicht der Mörder. Mein Sohn war es doch, der euch benachrichtigt hat.“

  Ohne Vorwarnung schlug Knauber Kowalski den Gewehrknauf ins Gesicht. Kowalski brach zusammen und spürte, halb ohnmächtig, die Tritte, die ihm Wolsch in die Rippen versetzte.

  In diesem Augenblick kam Friedrich Bek mit hochrotem Kopf die Treppe wieder herunter. Er hielt das Gewehr im Anschlag und schrie: „Geht zur Seite.“

  Wolsch  und Knauber sprangen zur Seite, Bek schoss Kowalski mitten ins Gesicht. Ein Teil des Kopfes flog durch den Raum.

  Inzwischen waren die Reiter auf dem Radlerhof angekommen. Es handelte sich um Beks ukrainische Knechte, die sofort von ihren Pferden absprangen. Auf einem der Pferde saß der junge Edwin Kowalski. Er war gefesselt und hatte Blutergüsse am Kopf.

  „Die ganze Familie ist ermordet worden“, schrie Bek, als er aus dem Haus trat. „Alle, auch die Frau und die Kinder.“  Hinter ihm traten Wolsch und Knauber auf den Hof. „Abgeschlachtet mit Beilen und Messern, die ganze Familie“, wiederholte Bek.

  Einen Moment erstarrte die Gruppe. Die Männer blickten sich an, dann nahmen sie Edwin ins Visier.

  Langsam ging Bek auf Edwin zu, der noch immer auf dem Pferd saß.

  Edwin Kowalski schien nicht zu verstehen, was geschah und blickte sich um „Wo ist mein Vater?“ fragte er.

 „Du wirst ihn gleich sehen“, erwiderte Bek und schoss Edwin vom Pferd.

   Wie viele Menschen dem Amoklauf des  volksdeutschen Selbstschutzes in den nächsten beiden Stunden zum Opfer fielen, konnte im nachherein nicht mehr festgestellt werden. Zu den ersten, die starben, gehörte die Familie des Bauern Kasimir Kulenta. Kasimir Kulenta, dessen Hof noch vor zehn Jahren erheblich größer und wohlhabender als der Bekhof gewesen war, befand sich bereits bei der Kartoffelernte auf dem Feld, als Beks Wagen mit hoher Geschwindigkeit in seinen Hof einfuhr und abrupt stoppte. Aus der Distanz sah Kulenta, wie Bek und seine Männer die Türen einschlugen, ins Haus eindrangen und seine Tochter herauszerrten. Seine Frau, die ihre Tochter schützen wollte, wurde angeschossen. Ein Schuss, und Kulenta sah, wie seine Frau einen Meter nach hinten geschleudert wurde und zappelnd liegen blieb. Noch ein Schuss, diesmal auf die Tochter, die sich schreiend auf die noch zuckende Mutter geworfen hatte. Kulenta brüllte und begann  mit der Hacke auf die Deutschen zuzurennen. Bek ließ ihn herankommen und schoss ihm zuerst in die Beine. Als Kulenta sich auf dem Boden wälzte, trat er über ihn und schoss ihm in die Brust.

  Die Schüsse hatten das benachbarte Dorf Rodonowa geweckt. Einige Männer liefen auf die Straße und sahen, dass der Hof des Kulenta in Flammen stand.  Zuerst wusste niemand, was vor sich ging, dann lief der Knecht Olak Sziporski über die Straße  und schrie: „Die Deutschen setzen unsere Höfe in Brand“. Er begann immer schneller die Straße herunter zu laufen. „Flieht, flieht“, rief er und rannte in Richtung Wald. Doch die Deutschen hatten bereits das Dorf erreicht. Mit voller Wucht rammte ein Reiter den fliehenden Mann, der sofort zu Boden stürzte. Noch ehe er sich erheben konnte, wurde der Knecht mit mehreren Gewehrschüssen aus nächster Nähe getötet.

  Inzwischen hatte Bek mit seinem Fahrzeug Rodonowa erreicht.  Er sprang aus dem Wagen und brüllte: „Verhaftet alle Männer und bringt sie zum Radlerhof. Wer sich wehrt – erschießen!“

  Elf Selbstschutzangehörige schwärmten sofort aus und hämmerten mit Fäusten und Gewehrkolben an die Türen der Häuser. Gewehrschüsse, Geschrei, Fensterscheibengeklirr, Splittern, Fluchen und Hilferufe hallten durch das Dorf.  Alle Männer, die  öffneten, wurden sofort abgeführt, ihre Frauen und Kinder in die Häuser zurückgestoßen.  An die Türen, die nicht geöffnet wurden, legten die Deutschen Feuer, das von den Bewohnern gelöscht wurde, sobald die Häscher hinter der nächsten Ecke verschwunden waren.

  Langsam erreichte die Sonne ihren Zenit. Es gab keinen Schutz mehr, kein Recht, kein Erbarmen und nicht einmal einen Schatten.

  Inzwischen hatte sich Oleg Kowalski im Gestapo-Quartier von  Ruków gemeldet. Nachdem er den Wachen von den Vorfällen in Rodonowa berichtet hatte, wurde er sofort zu Hauptmann Baller geführt. Vor Baller und einem halben Dutzend SS Männern schilderte Oleg noch einmal, was sich zugetragen hatte. Als er vor Aufregung zu stottern begann, erhielt er die erste Ohrfeige von einem Adjutanten des Hauptmanns.

  Hauptmann Baller war wie vom Donner gerührt. Kein Zweifel, der  polnische Feind erhob sein Haupt aus dem Hinterhalt. Er hatte immer schon gewusst, dass die Kooperation der Polen reine Täuschung war. Dieser Überfall sollte das Werk von Kriminellen sein? Lächerlich. Niemals würden die Kriminellen es wagen, deutsche Bauern zu überfallen. Aber was wäre, wenn diese Nachricht eine Falle war? Wenn die Gestapo  in einen Hinterhalt gelockt werden sollte? Baller befahl dem Jungen zwei Finger zu brechen, um Näheres herauszubekommen. Oleg schrie vor Schmerzen, konnte aber nur wiederholen, was er von dem Knecht gehört hatte.

  Noch immer unschlüssig rief Baller seinen Vorgesetzten SS-Oberführer von Alvensleben über Funk in Lublin an. Auch Odilo Globocnik der SS-Brigadeführer und Oberbefehlshaber der SS in ganz Ostpolen wurde per Telegramm benachrichtigt, ebenso die Wehrmacht, die sich jedoch für nicht zuständig erklärte.

  SS Oberführer von  Alvensleben war gerade von seinem Rittergut aus dem Warthegau zurückgekehrt, meldete sich über Funk zurück und hörte sich an, was ihm Baller vortrug. Als Baller geendet hatte, klang von Alvenslebens Antwort blechern durch die Leitung:  „Partisanen! Ganz eindeutig“, stellte er fest. „Schnell und hart reagieren!“ ordnete er an, was immer das bedeuten mochte. SS Verbände aus Ruków und Lublin sollten sich umgehend nach Rodonowa begeben. Eile sei geboten. Er selbst werde am frühen Nachmittag vor Ort sein.

  Hauptmann Baller bestätigte den Erhalt der Befehle und benötigte für ihre Umsetzung eine weitere halbe Stunde. Dann rief er seine Einsatztruppe zusammen und verließ das Gebäude.

  „Was soll mit dem Jungen  geschehen?“ rief ihm ein SS-Mann hinterher. Baller drehte sich um und sah Oleg Kowalski, wie er zwischen zwei SS Wachen stand und sich die gebrochenen Finger hielt.   

  „Liquidieren!“

  Die Nachricht vom Mord an der Familie Radler  und vom Amoklauf der Deutschen hatte sich in Windeseile verbreitet. In den Dörfern standen die Menschen diskutierend auf den Straßen, die sich sofort leerten, wenn deutsche Konvois auftauchten. Baller, der an der Spitze einer motorisierten SS-Einheit von Ruków nach Rodonowa fuhr, bemerkte die Unruhe und ordnete an, dass in jedem Dorf eine SS-Wache die Hauptkreuzungen sichern sollte. Die Dorfbewohner wurden aufgefordert, sich in die Häuser zurückzuziehen und Ruhe zu bewahren.

  Als Baller mit  seiner Truppe den Radlerhof erreichte, erkannte er die Gebäude sofort wieder. Hier war er im letzten Herbst zu Gast gewesen, als der volksdeutsche Selbstschutz gegründet worden war. Nun herrschte auf dem Hof ein unbeschreiblicher Aufruhr. Etwa zwei Dutzend polnische Männer standen  heftig gestikulierend und eng zusammengedrängt neben der Scheune. Sie wurden von einem halben Dutzend Volksdeutscher mit entsicherten Gewehren in Schach gehalten.  Zwei Personen lagen tot neben dem Brunnen auf der bloßen Erde. Dem älteren von beiden fehlte der halbe Kopf, die Brust des Jüngeren war von Kugeln zerfetzt. Über dem Geschrei der polnischen Bauern und der Volksdeutschen erhob sich wie ein bizarrer Oberton das Heulen von Frauen und Kindern, die vor dem Zaun standen und die Freilassung ihrer Männer verlangten.

  Auf einen Wink von Baller sprangen die SS-Leute aus ihren Fahrzeugen, sicherten den Eingang und umstellten Polen und Volksdeutsche.  Die Volksdeutschen senkten die Waffen, auch die Polen schienen sich zu beruhigen.

  Baller erkannte Friedrich Bek an der Scheune und rief ihn zu sich.

  „Was geht hier vor?“, herrschte er ihn an.

  Bek ließ sich von Ballers harschem Ton nicht beeindrucken und antwortete: „Wir bewachen den Tatort. Und wir haben begonnen, die Männer aus der Umgebung zu verhören. Sie behaupten, nichts zu wissen. Zwei von ihnen haben uns angegriffen und mussten liquidiert werden.“

  „Wie viele Volksdeutsche stehen unter ihrem Kommando?“ wollte Baller wissen.

  „Drei. Sechs meiner Männer sind zuverlässige ukrainische Knechte. Die Volksdeutschen der Region sind benachrichtigt und auf dem Weg.“

  Baller ging zum Brunnen und inspizierte die beiden Leichen. „Das ist ja der Kowalski aus Nowolipie “, wunderte sich Baller und blickte Bek an. „Sie haben einen Ortsvorsteher erschossen? Mann, seine Frau ist eine Deutsche!“

 „Er hat die Untersuchungen behindert“ behauptete Bek.

„Und wer ist der Junge?“

„Sein Sohn. Er hat den Vater unterstützt.“ Bek wurde unbehaglich zumute. Er hatte einen Halbdeutschen erschossen. Aber gab es das überhaupt? Einen Halbdeutschen? Wer sich mit Polen einließ, verlor doch sein Deutschtum.

  Ballers Miene wurde eisig und verheiß nichts Gutes. Er blickte über den Hof, auf dem es jetzt ruhig geworden war. Nur das Heulen der Frauen vor dem Tor war noch zu hören. Die polnischen Bauen hatten sich auf den Boden gesetzt und steckten die Köpfe zusammen, ihre deutsch-ukrainischen Bewacher blieben stehen und rauchten.

  „Wo befinden sich die Radlers?“

  „Wir haben die Toten aus dem ersten Stock heruntergeholt und im Haus aufgebahrt.“

  Radler  und seine Familie lagen mit Betttüchern verhüllt auf den Tischen des Hauptzimmers  Blut sickerte aus den Laken und tropfte auf den Holzboden. Die Luft war stickig, Fliegen kreisten über den Decken. Stumm ging Baller von einer zu anderen Leiche, hob die Decken kurz an und verzog keine Miene.

  „Partisanen?“ frage Baller.

  „Wahrscheinlich. Es wurden keine Waffen im Haus gefunden. Wahrscheinlich wurden alle Gewehre mitgenommen.“

  „Die Polen behaupten, es sei nur ein Überfall gewesen“, wandte Baller ein.

  „Lächerliche Schutzbehauptung. Die polnischen Kriminellen halten sich an ihresgleichen schadlos. Sie werden sich hüten, Deutsche zu überfallen.“

  Baller sah sich um und zögerte. Bek und seine Männer hatten mehr als eigenmächtig gehandelt. Ihre Lynchjustiz könnte die ganze Gegend in Aufruhr versetzen. Auf der andern Seite lag ein abscheulicher  Mord vor, der gesühnt werden musste,

  In diesem Augenblick wurde es unruhig im Hof. Hauptmann Baller ging zum Fenster und sah,  wie drei Polen auf einem  Pferdefuhrwerk auf den Hof fuhren. Er erkannte die polnischen Ortsvorsteher von Kolonka, Balanow und Komla. Sofort wurden sie von SS Leuten umringt.

  Baller trat aus dem Haus und winkte die Ortsvorsteher zu sich. Alle drei waren erheblich älter als er, jeder von ihnen ein angesehener polnischer Bauer von tadellosem Ruf.  Roman Gelka aus Balanow war der Sprecher aller Ortsvorsteher, ein vernünftiger, kooperativer Mann. Ihn begleiteten Jaron Brotsch aus  Komla und Kolja Szepik aus  Kolonka

  „Wir haben die schreckliche Nachricht gehört“, begann Roman Gelka ohne große Vorrede in gebrochenem Deutsch. „Ein furchtbares Verbrechen. Aber wir verstehen nicht, was in Rodonowa geschehen ist. Die Volksdeutschen haben den Hof des Kulenta angezündet und seine Familie erschossen.“

  Hauptmann Baller blickte Roman Gelka ausdruckslos an. „Jeder Widerstand wird gebrochen“, gab er zurück.

  „Aber es hat doch überhaupt keinen Widerstand gegeben“, widersprach Roman Gelka. Er atmete schwer und es war ihm anzumerken, dass er sich kaum noch beherrschen konnte.   „Wir verstehen überhaupt nicht, was hier geschieht. Der Mord an den Radlers wurde doch sofort den deutschen Behörden gemeldet“.

  In diesem Augenblick stieß Jaron Brosz aus Komla einen Schrei aus und wies  auf den Brunnen. „Die Toten sind die Kowalskis“ rief er. „Sie haben Fryderyk Kowalski und seinen Sohn Edwin erschossen.“

  Sofort liefen die drei Ortsvorsteher zum Brunnen. Es stimmte. Vor ihnen lag der entstellte Kowalski und sein zerschossener Sohn Edwin.

  Roman Gelka erstarrte und hielt einige Sekunden die Hände vor das Gesicht. Dann senkte er die Hände und sah sich langsam um. „Mörder“, sagte er zu langsam zu Baller und Bek, die hinzugetreten waren. „Mörder“, wiederholte er und wies mit der Hand auf die Toten. „Ihr seid keine Obrigkeit, sondern gewissenlose Mörder. Der Herr möge euch strafen bis ins tausendste Glied.“

  Bek entsicherte seine Waffe und richtete sie auf die Ortsvorsteher. „Halt dein Maul, du Pole, sonst liegst du gleich auch neben dem Brunnen.“

  Hauptmann Baller griff ein: „Verhaften die drei und zu den anderen.“

  SS Leute griffen die Ortsvorsteher rüde an den Armen und stießen sie in die Gruppe der polnischen Männer. Als die Männer erfuhren, wer erschossen worden war, ballten sie die Fäuste  und schrien „Mörder, Mörder“. Einer der Bauern hob einen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn gegen einen ukrainischen Wächter, der zigarettenrauchend in der Nähe stand. Andere taten es ihm gleich, und innerhalb von Sekunden prasselte ein Steinhagel auf die Selbstschutzgruppe nieder. Sofort sprangen Wolsch und Knauber vor und schossen. Als einer der  Werfer mit einem Schrei zusammenbrach, stürmten die Polen mit bloßen Fäusten gegen die Volksdeutschen, die sofort das Feuer eröffneten. Innerhalb von Sekunden  brach der Angriff im Kugelhagel der Selbstschutzmänner zusammen. Nicht alle Polen wurden sofort tödlich getroffen, viele lagen nach den Gewehrsalven schwerverletzt in ihrem Blut. Auf einen Wink von Bek hin erledigten drei Ukrainer die Verletzten mit ihren Handfeuerwaffen.

  Vor dem Tor schreien die Frauen und Kinder wie wahnsinnig. Die Wachposten schossen knapp über ihre Köpfe hinweg, doch die Frauen wollten sich nicht zurückziehen. Erst als die Kampfhunde auf die Frauen und Kinder losgelassen wurden,  flohen sie in den Wald.

  Baller stand sekundenlang unter Schock. Die Angelegenheit war ihm komplett entglitten. Die SS Männer standen Gewehr bei Fuß unbeweglich im Kreis und blickten ihn an.

„Schluss jetzt“, ordnete Baller an. Seine Stimme klang diskant,. „Alle Leichen in die Scheune“, befahl er. „Dann anzünden!“

  Als sich SS-Oberführer Ludolf von Alvensleben am Nachmittag Rodonowa mit seiner motorisierten SS-Einheit näherte, brannte die Scheune auf dem Radlerhof bereits lichterloh. Schon von weitem war die schwarze Rauchsäule zu sehen. In der gesamten Umgebung roch es nach verbanntem Holz, unterfüttert mit einem leicht süßlichen Gestank, von noch niemand wusste, dass man ihn in den nächsten Jahren in Polen noch öfter würde riechen müssen.

  SS-Oberführer Ludolf von Alvensleben besaß ein unauffälliges Allerweltsgesicht mit leicht teigigen Wangen und weit auseinanderstehenden Augen. Seinen Aufstieg innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung verdankte er seiner unbedingten Einsatzfreude zuerst im Straßenkampf gegen die Kommunisten in der späten Weimarer Republik, später bei der Verfolgung jüdischer Bürger im nationalsozialistischen Deutschland.  Nachdem er im  ersten halben Jahr des Krieges als Leiter des volksdeutschen Selbstschutzes in Westpolen tausende Juden hatte erschießen lassen, war er aufgrund seiner besonderen Verdienste zum SS-Oberführer und Leiter der gesamten SS-Operationen südlich von Warschau befördert worden. Seinen Hauptsitz hatte er in Lublin aufgeschlagen, wo die Vernichtung der großen jüdischen Gemeinde und der Bau eines Konzentrationslagers anstanden. Das Massaker von Rodonowa kam ihm nicht ungelegen, weil ein entschlossenes Vorgehen seinen ramponierten Ruf beim Reichsführer SS wieder etwas aufputzen würde. Ramponiert war von Alvenslebens Ruf, weil er es in Westpreußen mit hemmungslosen Selbstbereicherung derart übertrieben hatte, dass sogar die SS hellhörig geworden war.

  Im offenen Fahrzeug fuhr Ludolf von Alvensleben an der Spitze seiner motorisierten Einheit auf den Radlerhof. Die SS-Leute salutierten, als er langsam aus dem Wagen stieg. Langsam wandte er den Kopf von links nach rechts. Langsam setzte er sich in Richtung Haus in Bewegung, denn er hatte sich angewöhnt, seine Auftritte bewusst langsam und wortkarg zu gestalten.

  Baller wurde im Dauerlauf bei von Alvensleben vorstellig und erstatte sofort Bericht. In wenigen Sätzen spulte er den Sachverhalt im Telegrammstil herunter. Bestialischer Mord an redlichem deutschem Volksbauern durch polnische Partisanen  – Im Anschluss Unruhe und Aufruhr bei ortsansässigen Polen, die von ihren Ortsvorstehern  aufgehetzt wurden  – Hartes Vorgehen unumgänglich  – Bislang  29 Liquidierungen, sechs davon in Rodonowa, 22 hier im Hof infolge eines Angriffs – Liquidierte Polen sinnvollerweise in brennender Scheune entsorgt –  Aktion bis jetzt erfolgreich – Aktivitäten des volksdeutschen Selbstschutzes angemessen und beispielhaft – Militärische Haltung seiner eigenen Soldaten tadellos.

  Von Alvensleben nickte unmerklich und schaute durch Hauptmann Baller hindurch. Dann ging er ohne ein Wort an ihm vorbei und betrat das Haus,  um die ermordete Radlerfamilie in Augenschein zu nehmen.

  Als er wieder heraustrat, tupfte er sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Nach einem kurzen Wink bildete sich ein Kreis von zwanzig Männern um den SS-Gruppenführer, zu dem auch Baller, Bek, Wolsch und Knauber gehörten. Nachdem auch die SS-Einheiten aus Ruków eingetroffen waren, warteten über zweihundert Bewaffnete auf der großen Weise vor dem Hof auf ihre Einsatzbefehle.

  Von Alvensleben reckte sich und hob das Kinn. „Ein deutscher Held ist gefallen“, begann er. „Und mit ihm seine ganze Familie.“ Er machte eine Pause und  blickte sich um. „Polen haben ihn ermordet. Und Polen werden dafür büßen.“ Wieder eine Pause, alle hingen an seinen Lippen, als das Urteil gesprochen wurde. „Hundert Polen für einen Deutschen! Das ist unsere Antwort.“

  Kopfnicken bei den Zuhörern. Baller spürte, wie ihm die Kehle trocken wurde.

  „Ich wünsche, dass sechshundert polnische Männer noch heute Abend auf diesem Hof liquidiert werden“, schloss von Alvensleben.

  Dann, zu Hauptmann Baller gewandt; „Baller, Sie übernehmen das!“

  Ohne ein weiteres Wort oder Gruß verließ der SS-Oberführer den Kreis, ging zu seinem Wagen zurück und kehrte mit seiner Eskorte nach Lublin zurück.

  Der Nachmittag war angebrochen. Die Schatten wurden länger, das Licht der langsam herabsinkenden Sonne entlockte Grashalmen, Holzfassaden und Gewehrkolben ein glitzerndes Funkeln. Baller rief alle Unterführer zu sich, gab einige taktische Anweisungen, dann schwärmten die SS Einheiten in die umliegenden Dörfer aus.

  Inzwischen hatte auch Adam Reinertz erfahren, was sich ereignet hatte. Knechte hatten ihm von den Morden auf dem Kulentahof berichtet, und als er die große Rauchsäule über den Radlerhof erblickte, ahnte er, was nun geschah. Die Stunde der volksdeutschen Mörder war angebrochen, und Bek würde die Situation dazu ausnutzen, alles beiseite zu  räumen, was ihm im Wege stand. Vielleicht sogar ihn, der ihn in allen Fragen des bewaffneten Selbstschutzes im Wege stand.  Es war also angeraten, vorsichtig zu taktieren, vor allem da inzwischen auch die SS eingegriffen hatte.

  Wie vorsichtig er sein musste, wurde ihm klar, als er nach Nowolipie  kam und die SS-Kohorten sah, die systematisch die Häuser durchsuchten und die Männer gefangen nahmen. Als Reinertz das Haus der Kowalskis erreichte, fand er die erschossene Gerda Kowalska auf der Schwelle. Gewehrschüsse aus nächster Nähe hatten sie getötet. Reinertz hatte Gerda Kowalski gekannt. Man war nicht gerade befreundet gewesen, war aber immer respektvoll miteinander umgegangen. Als Reinertz´ eigene Frau noch gelebt hatte, war der Ortsvorsteher mit seiner Familie sogar einmal auf dem Reinertzhof zu Gast gewesen.  Nun war sie tot. Erschossen von ihren eigenen Leuten, die sie für eine Polin gehalten hatten.

  Reinertz ging zur Straße zurück, schwang sich auf sein Pferd und tat so, als würde er an der Menschenjagd teilnehmen. Während sich Knauber und Wolsch in den Gassen rund um die Dorfkirche zu schaffen machten, galoppierte Reinertz zum Hof von Seweryn Kołek. Das Tor zum Kołekhof offen auf, das Haus aber war verschlossen. Hinter den Fenstern erkannte Reinertz Seweryn Kołek  und seine Söhne.

  „Lass mich rein, Kołek “, rief er durch die Türe.

  Als die Türe geöffnet wurde, sah Reinertz, dass sich Seweryn Kołek  und seine Söhne mit Beilen und Hacken bewaffnet waren. Seweryn Kołek  wirkte blass, aber gefasst. Im Hintergrund stand Marianna Kołek. Hanna und Janka hatten sich an die Schürze der Mutter gekrallt.

  „Ihr müsst sofort fliehen“, stieß Reinertz hervor. „Die Deutschen werden gleich her sein und alle mitnehmen, auch eure Söhne.“

  „Ich begreife das nicht. Wir  haben nichts getan. Niemand in diesem Dorf hat etwas getan“, sagte Seweryn Kołek  und blickte auf Reinertz.

  „Das ist jetzt egal. Sie werden alle, die sie ergreifen können, umbringen.“

  „Ich kann meine Familie nicht allein lassen. Eher sollen sie mich in diesem Haus erschießen“, widersprach der Bauer. Józef und Edwin nickten, sie hatten sich zu großen, kräftigen Kerlen entwickelt und bemühten sich, ihre Furcht hinter Entschlossenheit zu verbergen.

  In diesem Augenblick ertönte  Getrappel vor dem Haus. Drei SS-Männer traten gegen die Türe.

  „Marianna, nimm die Kinder und versteckt euch im Keller“, sagte Seweryn Kołek.

  „Niemals, ich bliebe bei dir.“ Marianna Kołek  trat einen Schritt auf ihren Mann zu.

  „Bitte gehen Sie in den  Keller und nehmen Sie Ihre Kinder mit. Sie können jetzt nichts tun, als sich und ihre Kinder retten“. beschwor Reinertz die Bäuerin. „Ich bleibe bei Ihrem Mann.“

  Die Türe splitterte, und im letzten Moment verschwand Marianna mit ihren Söhnen und Töchtern im Keller. Hinter dem Kartoffelraum befand sich ein Verschlag, der auf den ersten Blick nicht zu entdecken war.  In diesen Verschlag drängten sich alle herein.

  Als die Deutschen in das Haus stürmten, trafen sie auf Reinertz, der das Gewehr auf Kołek  gerichtet hatte. „Gut, dass Ihr kommt, ich habe den Polen gerade noch erwischt, ehe er abhauen konnte“, sagte Reinertz, griff den Kołek  am Kragen und stieß ihn aus dem Haus. Dort stand bereits ein Fuhrwerk mit einem Dutzend gefesselter polnischer Männer. Die meisten von ihnen waren vom Feld weg verhaftet worden, einige zeigten Spuren von Misshandlung.  Als die SS- Männer Anstalten machten, das Haus zu durchsuchen, rief ihnen Reinertz zu, dass die Familie bereits in den Wald geflohen sei.

  Eine Dorfstraße weiter war Feliks Kaliński mit seiner Frau und den Kindern in den Stall geflüchtet. Maria, Ryszard und der kleine Tomek krochen unter das Heu und erhielten die Weisung, keinen Ton von sich zu geben.

  Feliks Kaliński umarmte seine Frau und schaute in das ausgemergelte Gesicht. So nahe war er ihr schon seit Jahren nicht mehr gewesen. „Hinter dem Haus der alten Górska befindet sich ein  trockener Abwasserkanal, der mit Gras überwachsen ist. Da verstecke ich mich. Was ist mir dir?“

  Józefa Kalińska blickte ihren Mann an. „Ich bleibe hier. Einer alten Frau werden sie nichts tun. Nun geh.“

  Feliks Kaliński zögerte. „Vielleicht sehen wir uns bald wieder“, sagte er.

  „Wir werden uns wiedersehen. Wenn nicht hier, dann in einem anderen Leben.“

  Kurz darauf brachen die Volksdeutschen in den Kalińskihof ein, an ihrer Spitze Willi Knauber, gefolgt von fünf ukrainischen Knechten. Sie hatten getrunken und waren in aufgelöster Stimmung. „Alte, wo ist dein Mann?“ fragte Knauber auf  Polnisch und hielt Józefa das Gewehr an den Kopf.

  „Er ist geflohen.“

  „Wohin?“

  „Ich weiß es nicht.“

Knauber schlug Józefa mit der Faust ins Gesicht. Sie fiel zu Boden und schlug schwer mit dem Kopf gegen die Ecke einer Schrankwand. Wie tot blieb sie liegen. Knauber trat ihr mit voller Kraft in die Seite, doch sie  rührte sich nicht.

  „Mein Gott, wie schnell diese Polen sterben“, höhnte Knauber. „Gehen wir raus und suchen den Bauern.

  Sie wollten gerade die Ställe kontrollieren, als am Zaun die alte Górska erschien.

„Hau ab, Alte, sonst knalle ich dich ab“, zischte Knauber.

  Die alte Górska aber blieb stehen und wies immer wieder mir der Hand in Richtung auf den alten Abwasserkanal.

  So fanden Knaubers Männer Feliks Kaliński, der sich gerade erst im Erdloch verkrochen hatte. Mit Ohrfeigen und Tritten zogen sie ihn heraus und verfrachten ihn auf einen Pferdewagen.

   Während Knauber und seine Spießgesellen Nowolipie  durchkämmten, fuhren Wolsch und vier ukrainische Knechte in einem offenen Geländefahrzeug  weiter in Richtung Kolonka. Einige Dorfbewohner, die gewarnt worden waren, flüchteten mit der ganzen Familie in den Wald. Die meisten aber wurden überrascht, als die volksdeutschen Freischärler mit entsicherten Gewehren in die Höfe eindrangen. So erging es Karol Wennek, einem Nachbarn von Alfred Brosz, der vom Feld weg verhaftet und abtransportiert wurde, ebenso wie Vido Adamczik, der den Deutschen in einer Kutsche entgegenkam und erschossen wurde, als er nicht absteigen wollte. Rafael Bolk gelang es, die Deutschen so lange aufzuhalten, bis sein Spohn Anton in den Wald flüchten konnte.

  Alfred Brosz hatte die Schüsse auf der Straße gehört, doch ehe er seine Söhne  warnen konnte, waren Wolsch und seine Männer bereits vor seinem Tor aufgetaucht. Alfred Brosz sah, wie seine Söhne Piotr und der Pawel in Richtung Wald davonliefen und flüchtete zuerst hinter die Scheune und dann in die Latrine. Ohne lange zu überlegen, zwängte sich Alfred Brosz durch die Abtrittsöffnung und stürzte sich in den Fäkalienbrei, unterhalb der Latrine. Zuerst glaubte er vor Gestank und Ekel ohnmächtig zu werden, doch er blieb bei Bewusstsein und zwängte sich an den äußersten Rand der Mulde, die von oben nicht mehr einsehbar war.  Er hörte die dumpfen Schritte des Suchkommandos, dann wurde die Latrinentüre aufgerissen und wieder zugeschlagen, Kommandos in deutscher Sprache ertönten, dann hörte Alfred Brosz die Schreie und Proteste seines Sohnes Gustaw. Warum befand er sich noch im Haus? Alfreds erster Impuls war, sein Versteck zu verlassen, um Gustaw beizustehen, aber was würde es nützen? Die Deutschen würden nicht nur Gustaw, sondern auch ihn mitnehmen. Irgendetwas Grauenhaftes war geschehen, das sie jede Zurückhaltung vergessen ließ. Ein  Motor wurde gestartet, Alfred Brosz hörte, wie sich der Wagen entfernte und sich die Stimmen verloren.

      Nach und nach trafen die Deutschen mit ihren Gefangenen auf dem Radlerhof ein. Keinem SS- Kommando war es gelungen, in der kurzen Zeit genügend polnische Männer gefangen zu nehmen. Einige SS-Einheiten hatten dafür Jugendliche, kaum älter als vierzehn Jahre, mitgebracht. Aus den Gefangenentransportern und Fuhrwerken wurden die polnischen Männer auf die Wiese vor dem Tor gestoßen, wo sie sich, aufgeteilt in fünf Gruppen, auf die Erde setzen mussten. Am Waldrand hatten sich hundert Frauen versammelt, die den SS Transportern hinterhergelaufen waren, um zu sehen, was mit ihren Männern geschah. Viele Frauen hatten ihre Kinder dabei, die mit verheulten Gesichtern neben ihren Müttern standen. Langsam setzte die Dämmerung ein.

  Hauptmann Baller ließ durchzählen.

  „251 Polacken“, meldete der Adjutant nach kurzer Zeit. „Zwei Polen, die bei einem Fluchtversuch erschossen wurden, sind bereits abgezogen.“

  Inzwischen war auch Schrader in seinem Volkswagen aus Komla eingetroffen. Auch der Müllerbauer aus Bedrewski war da. Reinertz begrüßte beide. Zu dritt gingen sie zu Hauptmann Baller

  „Was soll jetzt geschehen?“ fragte Reinertz den Hauptmann. Neben Baller stand Friedrich Bek, das Gewehr geschultert

  „Ich habe meine Befehle“, gab der Hauptmann zurück.

  „Die Herren haben die Hose voll“, spottete Bek und bedachte Reinertz, Schaller und Müller mit einem abschätzigen Blick.

  Schaller vollführte mit der Hand eine Bewegung in Richtung auf die polnischen Gefangenen.  „Was heißt das?“ fragte er. „Sie wollen doch wohl nicht alle erschießen lassen?“

  „Doch“, widersprach Baller. „So lautet der Befehl des SS-Oberführers. Hundert Polen für einen Deutschen. Eigentlich müssten wir sechshundert erschießen. Dass es weniger als die Hälfte sein werden, möchte ich als Gnadenakt gewertet wissen.“

  „Diese Gnade reicht den Herren aber nicht“, bemerkte Bek. „Die Herren wünschen auch Vergebung für die polnischen Mörder.“

  „Bek, du durchgeknallte Sau, jetzt halt einmal eine Moment die Schnauze“, fuhr Reinertz hoch. Dann, schlagartig ruhiger an den Hauptmann gewendet fuhr er fort. „Sie wissen, dass die Männer unschuldig sind. Die meisten unter ihnen kenne ich. Es sind redliche Männer. Viel redlicher als der volksdeutsche Abschaum, der sich hier herumtreibt.

  Bek trat vor und stieß Reinertz hart vor die Brust. „Noch ein Wort, und ich knalle dich auch ab, du Volksverräter.“

  „Aufhören! Sofort!“ befahl Hauptmann Baller. „Reinertz und Bek, mäßigen Sie sich. Die Situation ist zu ernst, als dass wir uns untereinander Streit leisten könnten. Ich habe keine Wahl. Ich muss dem Befehl des Gruppenführers folgen.“

  Müller schaltete sich ein. „Wenn das geschieht, ist das unser Ende, Herr Hauptmann. Vielleicht nicht jetzt, vielleicht nicht morgen, aber irgendwann werden sich die Polen rächen. Ein solches Massaker, wie Sie es vorhaben, wird niemals vergessen werden. Niemals wieder werden wir hier in Frieden leben können. Es sei denn, Sie erschießen die gesamte polnische Bevölkerung. Aber das schafft noch nicht einmal die SS.“

  Hauptmann Ballers Adjutant tragt heran. „Alle Einheiten bereit“, meldete er.

    Baller nickte.

  „Herr Hauptmann…, begann Reinertz.

  „Noch ein Wort, Reinertz, und ich lasse Sie verhaften und ins Gefängnis werfen“, unterbrach ihn Baller. „Und nun verschwinden Sie!“ Zwei SS-Männer führten Reinertz, Schrader und Müller zum Tor und verbaten ihnen, den Hof wieder zu betreten.

  Kurz darauf ertönte eine Megaphondurchsage auf Polnisch, in der alle Gefangenen aufgefordert wurden, sich auf den Bauch legen und die Hände hinter den Kopf zu verschränken. „Augen auf die Erde“, lautete der Befehl. „Wer sich rührt oder aufsteht, wird erschossen.“

  Noch während sich die Polen auf den Bauch legten, rückte eine kompakte Front von fünfzig SS Männern gegen die Frauen und Kinder am Waldrand vor. Sie schossen, während sie vorrückten, mit scharfer Munition knapp über die Köpfe hinweg und zwangen die Frauen zur Flucht. Vier Frauen, die die Kette der SS Männer durchbrechen wollten, wurden erschossen, unter ihnen Ewelina Bomposc, die ehemalige Radlermagd.

  Damit waren die Vorbereitungen aber noch nicht abgeschlossen. Hauptmann Baller wusste, dass sofort nach dem Beginn der Erschießungen eine Massenpanik ausbrechen würde. Deswegen postierte er je eine halbe Hundertschaft SS-Männer an den Waldrändern auf beiden Seiten des Hofes und ließ bewusst einen Fluchtweg offen. Dieser Fluchtweg führte über eine leicht ansteigende Wiese bis an den Rand eines Tannenwaldes, in dessen Unterholz er drei Maschinengewehreinheiten positionierte.

  Inzwischen war es dunkel geworden. Ein  SS-Mann fuhr einen Transporter auf den Hof und parkte ihn frontal vor dem Haus. Dann schaltete der Fahrer das Fernlicht an, so dass die Hauswand grell beleuchtet war. Die Erschießungskommandos nahmen ihre Stellungen ein. Baller wählte einen Platz gleich hinter den Scheinwerfern und befahl, die Delinquenten in Zehnergruppen zuzuführen.

  In der ersten Zehnergruppe befanden sich Seweryn Kołek, Feliks Kaliński, dazu Jerzy Raz und Stefan Bolek, die sich so lange so erbittert um die Grenzen ihrer Felder gestritten hatten und nun gemeinsam sterben würden. Auch Marian Zumbsc und die Brüder Bomposc wurden hochgezerrt, dazu der junge Alfons Lubow, der gerade erst im letzten Jahr Liliana Lubow geheiratet hatte. Witek Grzesiak, der nur zufällig in diesem Frühjahr als Landarbeiter auf dem Jozhof beschäftigt gewesen war, ließ sich widerstandslos abführen. Als Letzter wurde der junge Gustaw Brosz in die Gruppe gestoßen. Ihn hatte die SS anstelle seines Vaters mitgenommen, dem es gelungen war, sich zu verstecken. Während die zehn Deliquenten von SS Männern durch das Tor geführt wurden, erinnerte sich Feliks Kaliński an die schöne Magd Anjela, an die Zeiten der Fülle, als auf den Feldern das Getreide wuchs und als seine Kinder klein gewesen waren. Wie kurz war diese gute Zeit gewesen. Und wie unendlich lang die Jahre der Not, die ihnen gefolgt waren. Seine Leben endete wie eine nicht abgeschlossene Geschichte, dachte er. Dass ihn die alte Górska verraten hatte, verstand er nicht. Dieser Verrat war wie das letzte Rätsel seines Lebens. Unverständlich und sinnlos.

  Die zehn Gefangenen hatten den Wagen erreicht und erblickten den Lichtkegel, an deren Rand das Erschießungskommando wartete. Marian Zumbsc begann zu weinen. Er hatte vor wenigen Minuten Ewelina Bomposc sterben sehen, die Frau, nach der er sich so lange gesehnt hatte und die erst vor kurzem zu ihm gekommen war. Wie ungerecht, dass ihnen nur so wenig Zeit geblieben war.  Ein SS-Mann trat Marian Zumbsc in die Seite, und er stolperte weiter. Seweryn Kołek  bewegte sich wie in Trance. Es war ihm, als sähe er sich selbst von außen, wie er sich mit den anderen in den Lichtkegel begab.  Nur umrisshaft waren die Schützen zu erkennen. Das war also das Ende, dachte Seweryn Kołek  mit einem Anflug von Erstaunen. So hatte er sich seinen Tod nicht vorgestellt.

  „Feuer!“ kommandierte Hauptmann Baller. Zwei Kugel trafen Seweryn Kołek , eine in den Unterleib, die  andere ins Herz. Er war sofort tot. Feliks Kaliński wurde der Kopf weggeschossen, alle andern starben während der zweiten Salve.

  Wie vorhergesehen brach nach der ersten Gewehrsalve eine Massenpanik aus. Ungeachtet der auf sie gerichteten Maschinengewehre sprangen weit über zweihundert Männer wie auf Kommando auf und rannten um ihr Leben. Wer links oder rechts vom Radlerhof das Weite suchte,  wurde durch die dort postierten SS-Männer mit automatischen Waffen niedergemäht. Wie ein aufheulendes, angeschossenes Kollektivwesen wandte sich die Masse wahnsinnig vor Angst der Wiese zu, und flüchtete, den Kugelhagel der SS im Rücken, in den sicheren Tod.

  Der Morgen kam und mit ihm der Regen. Er fiel in langen Fäden auf Scheunen und Höfe, Straßen und Felder und legte sich wie ein grauer Mantel über das Land. Er wusch die Todeswiese von Rodonowa, die übersät war mit Erschossenen und vermischte sich mit dem Blut der Leichen. Nicht alle waren tot, einige Opfer hatten schwer angeschossen die Nacht überlebt und riefen um Hilfe. Hauptmann Baller schickte ein Liquidationskommando über die Wiese, um die letzten Überlebenden zu erschießen.

  Dann meldete er Vollzug nach Lublin und beorderte zwei weitere Versorgungskompagnien aus  Ruków nach Rodonowa. Zwei Tage lang wurde das Gebiet weiträumig abgesperrt, während jüdische Zwangsarbeiter, die aus Ruków herangeschafft worden waren, eine Grube aushoben. Obwohl so schnell wie möglich gearbeitet wurden, zog bald ein unerträglicher Leichengeruch über die Felder. Myriaden von Fliegen kreisten über den Toten, zwei SS-Männer mussten sich übergeben. Erst als man am zweiten Tag die Leichen in die Grube warf und die obersten Schichten mit Kalk abdeckte, ließ der Gestank nach. Am Ende der Arbeiten wurden die jüdischen Zwangsarbeiter erschossen und ebenfalls in die Grube geworfen. Hauptmann Baller ließ die Erde durch seine Männer wieder zuschütten und das gesamte Gelände abriegeln.

     In den Dörfern rund um das Blutfeld von Rodonowa war das Leben erstarrt. Bis spät in die Nacht  hatte man das Maschinengewehrgeknatter gehört, und alle Versuche der Frauen, wieder an den Ort des Geschehens zu gelangen, waren von SS-Posten verhindert worden. Dann hatten die Waffen geschwiegen, und eine Mischung aus Angst und Ungewissheit machte sich breit. Ein weiterer Tag des Wartens verging, doch niemand kehrte aus Rodonowa zurück.

  Nur langsam durchdrang die Erkenntnis, dass die Väter und älteren Söhne niemals wiederkommen würden, die Schockstarre  und verwandelte sich in Verzweiflung. Die Frauen gingen durch die Häuser und blickten auf die Stühle, auf denen noch gestern die Väter  gesessen hatten, auf die Betten, in denen sie geschlafen und auf die Teller, von denen sie gegessen hatten.  Gestern waren sie noch da gewesen, heute waren sie tot. Viele weinten, anderen fehlten die Tränen. Einige Frauen betranken sich, andere schlitzen sich mit Messern in die Arme auf. Wieder andere  schrien nach ihren Männern. Vielleicht war ja der eine oder andere entkommen, hatte sich im Wald verstecken können und wartete nur darauf, zurückzukehren.

  Doch auch die Männer, denen es gelungen war, sich im Wald zu verstecken, zeigten sich nicht. Niemand zeigte sich auf den Straßen.

  Maria saß in der Stube und hatte die Arme um ihre kleinen Brüder gelegt und schwieg. Es war ihr, als wären ihr die Gedanken abhandengekommen, so überwältigend war der Leere, die sie erfüllte. Die Mutter Józefa war aus ihrer Bewusstlosigkeit noch nicht wieder erwacht. Todbleich und fiebrig lag sie in durchgeschwitzten Laken in ihrem Bett. Kein Laut war im Haus zu hören. Der alte Knecht Krzysztoff war verschwunden, wahrscheinlich war auch er erschossen worden.

  Zwei Gassen weiter setzte sich Marianna Kołek  auf die Bank vor dem Haus. Sie sah die Nebelschwaden über die Felder ziehen, und für einen Moment erfüllte sie die wahnsinnigen Hoffnung, der Morgennebel möge sich lichten und Seweryn Kołek  käme heim.  Józef und Edmund schlichen im Haus herum und schämten sich, dass sie sich mit der Mutter und ihren Schwestern im Stall versteckt hatten. „Wir hätten an Vaters Seite kämpfen und sterben sollen“, zischte Edmund und ballte in hilfloser Wut die Fäuste. Józef wandte sich ab und versuchte, die Tränen zurückzuhalten.

  Am Ende der Woche fuhren Lautsprecherwagen durch den Bezirk. Aus großen Megaphonen  wurde auf Polnisch verkündet, dass die Strafaktion beendet sei. Die Täter hätten ihre gerechte Strafe erhalten. Alle Personen, die sich noch versteckt hielten, wären unschuldig und könnten zurückkommen. „Es wird ihnen nichts  geschehen“, plärrte die Stimme aus dem das Megaphon.

  Doch die SS-Wagen fuhren durch Gespensterdörfer. Die Männer zeigen sich nicht. Die Frauen und Kinder saßen zitternd hinter verschlossenen Türen und zugezogenen Gardinen.

  Der volksdeutsche Bauer Reinertz hörte das Megaphon nicht. Er hatte sich nach dem Massaker sinnlos betrunken und anderthalb Tage lang geschlafen. Dann packte er die notwendigsten Sachen, belud seine Kutsche und fuhr, ohne von jemandem Abschied zu nehmen, nach Westen.  Seine beiden polnischen Knechte waren spurlos verschwunden. Von Bek und dem volksdeutschen Selbstschutz war nirgendwo etwas zu sehen.

  So vergingen die Tage und es wollte nicht aufhören zu regnen. Es regnete am Morgen aus einem grauen Himmel, es regnete am Mittag, so dass die Sonne nicht zu sehen war, und es regnete am Abend, wenn die Dunkelheit aus den Wäldern kroch. Es regnete als sich die junge Elżbieta Bronczek vor Kummer über den Tod ihres Vaters die Pulsadern aufschnitt und Edmund Kołek  an ihrem Grab weinte.