Kapitel 3: DIE STADT DER ZUKUNFT (aus Kapitel 10 – im Buch S. 259-274)

 Anfang der Fünfziger Jahre: Marias Bruder Ryszard Kaliński überwirft sich mit seinem Schwager Józef Kołek und meldet sich freiwillig als Arbeiter nach Nowa Huta, der sozialistischen Modellstadt, die in der Nähe von Krakau. entstehen soll   

  Ryszard Kaliński war zu einem kräftigen jungen Mann herangewachsen, der mit Hobel und Hammer genauso geschickt umzugehen wusste wie mit der Sense oder dem Schlachtermesser. Seine manchmal verdrießliche Natur war einer ruhigen Beharrlichkeit gewichen, die sich aus einer gewissen Dickköpfigkeit speiste. Mit seinem stabilen,  untersetzten Körper, seinem gesunden Appetit und seinem tiefen, traumlosen Schlaf war er ein Abbild seines Vaters, nur dessen Witzigkeit ging ihm ab. Er besaß ein offenes, angenehmes Gesicht ohne besondere Auffälligkeiten, wenn man von dem skeptischen Blick absah, mit dem er gelegentlich seine Umgebung musterte. Außerdem war er mit einer schnellen Auffassungsgabe und einem guten Gedächtnis gesegnet und kam am liebsten sofort auf den Punkt, auch wenn er wusste, dass ein wenig Drumherumreden die Stimmung hob. 

   Dass der Kaliński- und der Kołekhof seit der Landverteilung gemeinsam bewirtschaftetet wurden, war ihm recht, weil er Marianna Kołek, die Witwe des erschossenen Seweryn Kołek, ebenso mochte wie ihre Töchter Janka und Hanna. Nur mit Marias Ehemann Józef Kołek wurde er nicht warm. Der Altersunterschied, der ihn von Józef trennte, schloss Gleichberechtigung aus, war aber auch nicht so groß, dass er Józef als eine Vaterfigur hätte anerkennen können. Vielleicht war seinen Vorbehalten auch ein wenig Eifersucht beigemischt, denn Maria war für ihn mehr als eine Schwester. Sie hatte ihn großgezogen, ihn versorgt, und unter ihrer Behütung war er herangewachsen.  .

  Welche Gefühle es waren, die die Maria und Józef verbanden, verstand Ryszard nicht. Da waren Naturgewalten am Werke, von denen er selbst noch nichts gespürt hatte. Dass es diese Naturgewalten gab, wusste er natürlich, auch wenn das Getue, das seine Kumpane um die Mädchen veranstalteten, ihm übertrieben vorkam. Was sollte an Karla Kolk, der ältesten Tochter von Damian Kolk, und an Daria Joz, der Tochter von Bertram Joz, Besonderes sein, abgesehen davon, wie merkwürdig ihr  Verhalten war. Sie waren auffallend freundlich zu ihm, ohne dass er wusste, warum. Manchmal gingen sie am Zaun des Kalińskihofes vorbei, und ihre Augenlider flatterten wie die Flügel kleiner Vögelchen, die sich nicht von der Erde erheben können. Dann drehte sich Ryszard meistens um, schüttelte den Kopf und ging davon.  Er verstand diese Mädchen einfach nicht.

  Bis Wioletta Polak in sein Leben trat. Wioletta Polak war eine junge Frau aus Warschau, die wegen der  Hochzeit Ihrer Schwester Grażyna mit Henryk Górski für einige Tage nach Nowolipie gekommen war. Auf der Hochzeitsfeier in der Tanzscheune waren sich Ryszard und Wioletta zum ersten Mal begegnet – er, der rustikale Jungbauer und sie, eine mittelgroße, gut gebaute Frau mit einem runden Gesicht, das ein wenig an eine fröhliche Katze erinnerte, wenn sie lachte. Ein halbes Dutzend Mal ließ sich Wioletta von Ryszard zum Tanz holen, jauchzte laut auf vor Vergnügen und duftete dabei so fremd, dass dem Jungbauern ganz anders wurde. Karla Kolk und Daria  Joz saßen abseits und machten lange Gesichter.

  Ryszard aber wunderte sich, wie viel Freude es ihm bereitete, mit der jungen Frau aus Warschau auf der Tanzfläche herumzuwirbeln. Auch die Schöne aus Warschau geriet von Tanz zu Tanz mehr in Stimmung und legte sich beim Nachspiel hinter der Tanzscheune keinerlei Zurückhaltung mehr auf. Während sich vor der Bühne  sein Bruder Józef mit Piotr Brosz  herumprügelte und sich gleich anschließend Maria und Józef zur allgemeinen Überraschung verlobten, wurde Ryszard Kaliński hinter den Büschen in das Vorzimmer der Lust eingeführt. 

  Am darauffolgenden Tag, einem Sonntag, an dem viele Dorfbewohner den Kirchgang schwänzten und ihren Rausch ausschliefen, trafen sich Ryszard und Wioletta heimlich ein zweites Mal, um zu Ende zu bringen, was sie in der Nacht zuvor begonnen  hatten. Wioletta genoss es wie ein gutes Essen, von dem sie sich aufgrund der Vorspeise vielleicht etwas mehr versprochen hatte. Ryszard aber erhob sich nach dem Gerangel hinter den Büschen und fühlte sich verändert. Konnte es denn sein, dass die Liebe so wunderbar und zugleich so einfach war?

  Nein, das konnte nicht sein, denn als Ryszard am nächsten Tag mit Blumen auf dem Górskihof erschien, war Wioletta Polak schon wieder nach Warschau abgereist. Grażyna Górska entschuldigte ihre Schwester mit dringenden Angelegenheiten, die in Warschau warteten und keinen Aufschub duldeten. Welche das waren, sagte sie nicht. 

  Ryszard tat sein Bestes, seine Enttäuschung zu verbergen, schon alleine deswegen, weil er das, was ihm widerfahren war, nicht einschätzen konnte. Konnte es sein, dass er einer Selbsttäuschung unterlag und das, was ihm mit Wioletta Polak widerfahren war, nichts weiter war, als das normale Gewürz des erwachsenen Lebens, von dem er in Zukunft öfter kosten würde? Vielleicht gehörten diese Turbulenzen einfach dazu, wenn man sich jungen Frauen näherte, mutmaßte Ryszard und warf die Blumen ins Gebüsch.   

  Eine Woche verging. Ryszard schlief schlecht und träumte wirr. Immer stärker wurde der Wunsch, auf der Stelle nach Warschau zu fahren, um Wioletta zu treffen. Was er ihr sagen wollte, wusste er nicht, aber der Wunsch war so stark, dass Ryszard, Maria und Józef fragte, ob er den Hof für einige Tage verlassen könne.

  „Ganz ausgeschlossen!“ war Józefs Antwort, die Ryszard erwartet hatte. Denn es war Erntezeit, und auf dem Hof wurde jede Arbeitskraft gebraucht. Mürrisch wandte sich Ryszard ab, nahm sich den Dreschflegel und machte sich an die Arbeit.  

  Wieder vergingen einige Tage. Dann hielt es Ryszard nicht mehr aus, ging zum Górskihof und erfragte bei Grażyna Górska Wiolettas Adresse. Zuerst wollte Grażyna die Adresse nicht herausgeben, dann überwand sie sich und notierte sie auf einem Zettel. Ihr Ehemann Henryk Górski schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.

  Am gleichen Abend besorgte sich Ryszard genügend Nafta für die Lampe und verfasste einen  Brief. Dass er Wioletta liebte, konnte er so unumwunden natürlich nicht schreiben. Und die Frage, warum sie ohne Abschied verschwunden war, hätte wie ein Vorwurf geklungen. So beschränkte er sich darauf, ihr aus dem Dorf die herzlichsten Grüße zu schicken, verbunden mit der Frage, wann sie denn wohl wieder einmal nach Nowolipie käme. Mit klopfendem Herzen brachte Ryszard den Brief persönlich zur Poststation nach Balanow.

  Nichts geschah.  

  Nach drei Wochen schrieb er einen zweiten Brief, in dem er Wioletta gestand, wie sehr er sie vermisse und die die Frage riskierte, ob sie denn nicht ähnlich empfinde?

  Diesmal kam eine kurze Antwort, eigentlich nur eine Notiz, in der Wioletta ihm mitteilte, dass sie im Herbst wieder nach Nowolipie käme. Dann werde man über alles reden können, was immer das auch bedeuten mochte. 

  Ryszard schrieb noch einen dritten Brief, erhielt aber keine Antwort. 

  Quälend langsam schlich die Zeit dahin. Dann endlich kam der Herbst.  Maria und Joszef wurden getraut und feierten ihren Ehebund in der Tanzscheune. Es war ein schönes Fest, wenngleich nicht so ausgelassen wie das erste, denn der gute Ortsvorsteher war inzwischen gestorben, und sein Sohn Piotr saß im Zuchthaus. Auch der Lehrer August Kosolski fehlte, aber dem weinte niemand eine Träne nach. 

  Ryszard hatte seine besten Sachen angezogen, um Wioletta mit einem Blumenstrauß zu diesem Fest  abzuholen. Er pochte an die Türe des Górskihofs und Henryk Górski öffnete die Türe. „Ach, der junge  Kaliński gibt uns die Ehre“,  lachte Henryk Górski, als er Ryszard begrüßte. „Und wie proper du dich herausgeputzt hast“, fügte er hinzu. „Aber leider umsonst, denn Wioletta kommt nicht.“

  Ryszard war wie vor den Kopf geschlagen. „Sie kommt nicht? Wieso nicht? Sie hat geschrieben, dass sie nach Nowolipie kommen wird.“

  „Ach die Weiber, du weißt doch, wie unzuverlässig die sind“, antwortete Henryk Górski. Mit diesen Worten zog  der Hausherr den Gast  die Stube. „Komm, gib deine Blumen meiner Frau“, riet er. „sie ist immerhin Wiolettas Schwester und trink´ einen Wodka mit mir.“

  Ryszard wusste nicht, was er sagen sollte und übergab Grażyna Górska den Blumenstrauß.

  „Wie galant“, schmunzelte Grażyna Górska. „Ich werde Wioletta von deinem Besuch berichten.“ Im Unterschied zu ihrem Mann hatte Grażyna Górska ein ansprechendes Aussehen bewahrt, wenngleich es eine angestrengte Schönheit war, der man die intensive Pflege anmerkte.

  Ryszard trank den Wodka, den ihm Henryk eingeschenkt hatte, und stellte das Glas wieder auf den Tisch. Henryk Górski war nie ein schöner Mann gewesen, doch Inzwischen hatte er fast alle Haare verloren und an Gewicht mächtig zugelegt. Sein Kopf glich einem Büffelschädel, nur seine Augen waren klein und flackernd, wenn sie ihr Gegenüber fixierten. 

  Ryszard fühlte sich unbehaglich. „Wann kommt denn Wioletta wieder nach Nowolipie?“ fragte er Grażyna Górska.    

 „Das weiß ich nicht“, antwortete Grażyna, „aber wenn du willst, kannst du sie in Warschau besuchen.“

  Ryszard zögerte. „Nein, das wäre zu aufdringlich.“

  „Und vielleicht auch ein wenig peinlich“, warf Henryk Górski ein, „denn meine fidele Schwägerin ist in Warschau alles andere als ein Kind von Traurigkeit“. Er lachte meckernd  über seinen eigenen Scherz und füllte Ryszard das Wodkaglas erneut. „Aber lass uns das Thema wechseln“, schlug er vor. „Was macht der Hof?  Bist du jetzt bald dein eigener Herr? Ich meine, Józef Kołek kann doch nicht zwei Höfe bewirtschaften.“

  Ryszard zögerte. „ich weiß nicht… Bisher arbeiten beide Familien ganz gut zusammen.“

 „Aber unter Józefs Leitung“,  ergänzte Henryk und trank sein Wodkaglas in einem Zug leer. „Das ist ja wie in den alten Zeiten, als die jüngeren Brüder nicht besser als die Knechte waren.“

  Auf diese Bemerkung antwortete Ryszard nicht, sondern kippte noch ein Glas Wodka hinunter. Dann verabschiedete er sich etwas förmlich und bat Grażyna seine Grüße nach Warschau auszurichten. 

   Ryszard erzählte seiner Familie weder etwas von Wioletta Polak noch von seinem Besuch bei den Górskis. Aber Henryks Worte hallten in ihm nach, und je mehr er darüber nachdachte, desto ungerechter erscheinen ihm die Verhältnisse.  Nach der Heirat  und der Zusammenlegung der Höfe waren Maria und Józef in das Haupthaus des Kalińskihofes gezogen, während sich Marianna mit Hanna und Janka im Kołekhaus einrichteten. Auch Ryszard und Tomek zogen ins Kołekhaus, weil Maria und Józef mit Nachwuchs rechneten und Platz benötigten.

   Zuerst hatte Ryszard diese Aufteilung hingenommen, doch nun erschien sie ihm unzumutbar. Er war doch der älteste Sohn des Altbauern Feliks Kaliński und besaß ein Anrecht auf sein Erbe, vor allem jetzt, nachdem seine ältere Schwester Józef Kołek geheiratet hatte. Sein jüngerer Bruder Tomek mochte sich mit dem Dasein eines Knechtes zufrieden geben, er aber hatte andere Ziele.

   Es dauerte noch einige Wochen, ehe Ryszard das Thema am Sonntagstisch zur Sprache brachte. Marianna Kołek, Hanna und Janka hatten Bigos zubereitet. Sein Bruder Tomek scharwenzelte wieder um Hanna herum, ohne zu bemerken, welch lächerliche Figur er dabei abgab. Breit und mächtig saß Józef Kołek am Kopfende des Tisches und griff als Hausherr zuerst in die Töpfe. Józef war entscheidende sieben Jahre älter als Ryszard Kaliński und schien schon fast einer anderen Generation anzugehören. Aber es führte kein Weg daran vorbei, das Thema endlich zur Sprache zu bringen.

  Ohne große Vorrede fiel Ryszard deswegen gleich mit der Türe ins Haus. „Ich möchte wissen, wann ich mein Erbe erhalte“, sagte er mitten in eine Gesprächspause hinein und blickte über den Tisch.

   Józef aß in aller Ruhe weiter und schien über diese Frage nicht überrascht. Dann antwortete er: “Das eilt nicht. So wie wir im Augenblick arbeiten, kommen wir gut zurecht. Sobald du heiratest, werden wir die Höfe neu aufteilen.“

  Tomek senkte den Kopf über seinem Bigos. Maria schwieg und wunderte sich, wie Ryszard  von Jahr für Jahr mehr dem Vater glich, dieselbe Kraft, dieselben flinken Beine, nur hinsichtlich seiner Wesensart kam er mehr auf seine Mutter.

   „Wie? Und wenn ich nicht heirate, bleibe ich meine Leben lang ein Knecht auf dem Hof meines Vaters?“ antwortete Ryszard scharf. 

  Maria legte das Besteck beiseite. „Ryszard, was redest du? Du bist doch kein Knecht. Du bist Teil unserer Familie.“

  „Aber ein untergeordneter“, gab Ryszard zurück. „Alle wichtigen Fragen besprichst du mit Józef ohne mich zu fragen.“

  „Das liegt einfach daran, dass du weniger Erfahrung hast als Maria und ich“, warf Józef ein. „Wir beide führen die Höfe schon seit Jahren, aber wenn du willst, können wir dich demnächst bei der Planung der  Arbeiten stärker einbeziehen.“

  Ryszard spürte, wie ihn Józefs Ruhe ärgerte. „Sehr gönnerhaft“,  gab er zurück, „aber ich möchte mein eigener Herr sein.“

  „Hier auf dem Land ist niemand sein eigener Herr“, gab Józef zurück. „Soll ich dir sagen, wer die Herren des Landes sind? Der Regen und der Wind, die Sonne und das Wasser. Nach ihnen haben wir uns zu richten. Und das gelingt uns am besten, wenn wir alle zusammenarbeiten.“

  Ryszard schwieg einen Moment. „Soll das heißen, dass ich mein Erbe nicht erhalte?“ fragte  er.  

  „Ich sagte doch: Nicht jetzt. Wenn du eine Familie gründen willst, reden wir darüber“, erwiderte Józef und begann wieder zu essen.

  Ryszard blickte auf Tomek. „Bruder, nun sag doch auch einmal etwas.“ Aber noch ehe Tomek antwortete, wusste Ryszard, dass er von ihm keine Unterstützung erhalten würde. Wie weich seine Augen waren, wie nachgiebig sein Gehabe

  „Ich finde richtig, was Józef sagt“, erwiderte Tomek. „Wenn wir Familien gründen, erhalten wir das Erbe und unsere eigenen Höfe.“ 

   „Und noch etwas“, schaltete sich Józef wieder ein. „Wenn du von deinem Erbe sprichst, Ryszard, dann bedenke, dass nur einer von drei Erben bist. Wenn wir den Kalińskihof dritteln, wie willst du dann von einem so kleinen Hof leben?“

  „Wie, dritteln?“ fragte Ryszard empört. „Bist du verrückt geworden? Maria ist doch deine Frau, sie lebt bei dir und braucht kein eigenes Land. Das Erbe meines Vaters wird geteilt, besser noch, es bleibt als Ganzes für Tomek und mich erhalten, und mein Bruder und ich wirtschaften in Zukunft gemeinsam, aber nach  unserem Gutdünken.“ Ryszard erhob sich und blickte Józef von oben an. „Ich bleibe dabei. „Ich verlange die Hälfte der Höfe, der Ställe, des Viehs und des Saatgutes.“ 

   Marianna Kołek stand auf und verließ das Zimmer.

  „Nein“, antwortete Józef. „Ich habe dir gesagt, wie wir es machen und dabei bleibt es. Und nun setz dich wieder.“

  „Weißt du was, Józef“ giftete Ryszard. „Du bist genau das, was die Kommunisten seit je her bekämpfen: ein raffgieriger Bauer, der nur an sich selbst denkt. Aber die Zeiten der Knechtschaft sind vorüber.“

  Józef warf den Löffel in die Suppe, dass es klirrte. „Rede in diesem Haus nicht von den Kommunisten, diese Mördern und Blutsaugern“, gurgelte er drohend.  „Denk an deinen Onkel, der nach Sibirien verschleppt wurde, denk an die gefälschten Wahlen und den Priester, der spurlos verschwunden ist.“

  „Was interessiert mich mein Onkel oder der Priester, ich will mein Erbe, und zwar sofort“,  verlangte Ryszard.

   „Ich sage nein“

   „Kurdamasz“, brüllte Ryszard und trat gegen den Stuhl, dass er durch den Raum purzelte.

   Józef stand auf. Er war einen Kopf größer als sein Schwager. Der aber war erheblich muskulöser. „Was unterstehst du dich in meinem Haus…“

  „Es ist das Haus meines Vaters“, brüllte Ryszard und ballte die Fäuste

   Ehe die beiden handgreiflich werden konnten, gingen Maria und Tomek dazwischen. Maria versuchte Ryszard zu umarmen. „Ryszard, mein Lieber“, keuchte sie. „ich erkenne dich gar nicht wieder. Wer hat dir diesen Floh ins Ohr gesetzt? Komm zur Besinnung. Denk daran, dass wir eine Familie sind.“

  Ryszard riss sich los und stieß die Schwester von sich. „Auf eine solche Familie kann ich verzichten“, antwortete er. „Wenn ich mein Erbe nicht sofort erhalte, verlasse ich den Hof.“

 

   Schon zwei Tage nach der Auseinandersetzung fuhr Ryszard nach Ruków und verpflichtete sich als  Bauarbeiter für Nowa Huta. Von Wioletta Polak hatte er nichts mehr gehört, mit Józef war die Stimmung gründlich verdorben.  Was sollte er noch in Nowolipie?

  Nowa Huta war zu dieser Zeit in aller Munde. Es war der Name einer neuen Stadt, die in der Nähe von Krakau entstehen sollte. Eine Metropole der Zukunft für den neuen sozialistischen Menschen, in der die Verheißungen der Partei Wirklichkeit werden sollten. Je eher diese Zukunft anbrach desto besser, schien die Regierung zu denken, so dass sie im ganzen Land nach Arbeitskräften suchte und  jeden verpflichtete, der sich bewarb. 

  Als Ryszard sich von seiner Schwester verabschiedete, brach Maria in Tränen aus. Auch Józefs Mutter Marianna Kołek  war bedrückt. Sie umarmte Ryszard und steckte ihm ein Bündel Zlotyscheine zu. Józef stand stumm im Hintergrund und sagte nichts.

   Tomek Kaminksi brachte seinen Bruder mit dem Pferdefuhrwerk zum Bahnhof. „Im nächsten Jahr will ich vielleicht auch nach Nowa Huta“, sagte er und gab dem alten Gaul die Zügel.

  Ryszard schwieg. Er grollte Tomek, weil er ihn in dem Streit mit Józef nicht unterstützt hatte, aber er war wie er war und konnte nicht anders. Er war rettungslos in Hanna Kołek verliebt und würde den Hof niemals verlassen. 

  Im Zug nach Krakau traf Ryszard zahlreiche junge Männer, die sich ebenfalls arbeitsverpflichtet hatten. Manche mochte die Not dazu getrieben haben, andere die Abenteuerlust, aber alle erwarteten Wunderdinge von der der neuen Stadt. Vielleicht würde die neue Stadt auch für sie eine neue Zukunft bereithalten.

     Als Ryszard Nowa Huta erreichte, erwartete ihn eine riesige Baustelle. Er überblickte ein weites Gelände voller Baracken und  Schlammpisten, neben denen Maschinen, Rohre und Baumaterialien lagerten. Gruben wurden ausgehoben, Straßen befestigt und Gütertransporte entladen. In Nowa Huta wurde an nichts gespart, weder am Material, noch am Essen. Große Schweinefleischportionen, reichlich Kartoffeln und Gemüse und all das mit Nachschlag, versetzten Ryszard in Erstaunen. Junge, kräftige Bauernsöhne saßen an langen Tischen und futterten, als drohe ihnen der Hungertod. Manche von ihnen arbeiteten das ganze Jahr in Nowa Huta, andere, die eigene Höfe und Familien besaßen, blieben nur saisonweise. Die ersten Wochen schlief Ryszard auf einer Pritsche in einem Zelt, dann erhielt er ein Bett einem Vierbettzimmern in einer Schlafbaracke.

  Ryszard Zimmergenossen kamen aus allen Teilen Polens. Gabriel aus Warschau hatte das Bett gleich am Fenster in Beschlag genommen. Er war ein stämmiger junger Mann mit abstehenden Ohren und einer Warze neben seinem rechten Auge. Sein Händedruck war brachial und seine Stimme rau vom Wodka. Er war das jüngste von sechs Kindern einer galizischen Familie, die nach dem Krieg von den Russen aus Lwów  vertrieben worden war. 

  Gleich an der Wand befand sich das Bett von Tymon, einem drahtigen jungen Mann aus Białystok an der weißrussischen Grenze. Tymons Gesicht war pockennarbig und grob, und wenn er lachte, entblößte er zwei Reihen großer gelber Zähne. Er besaß lange, muskulöse Arme, die nicht zum Rest seines schlanken Körpers passen wollten. Gut gelaunt war er nur, wenn er am Feierabend sein Bier erhielt. Die ersten fünf oder sechs Biere machten ihn fröhlich und leutselig, ab dem siebten oder achten Bier wurde er unberechenbar.        

  Ryszard Bettnachbar war Olivier aus der Gegend von Radom. Er war ein hübscher junger Mann mit dichten pechschwarzen Haaren, der entsetzlich stotterte. Olivier hatte sein Dorf in Südpolen  wegen einer Liebesaffäre verlassen, über die er partout nicht sprechen wollte. Die meiste Zeit nahm er nur als ruhiger Beobachter am Gespräch teil, nur Nachts machte er mächtig Krach, denn er knirschte abwechselnd mit den Zähnen und schnarchte. 

  Ryszard, Gabriel, Tymon und Olivier waren für die Verteilung der Baustoffe zuständig. Manchmal hatten sie den ganzen Tag nichts zu tun, weil kein Material angeliefert wurde, dann mussten ein Dutzend Lieferungen auf einmal abgeladen und bearbeitet werden. Abends fielen sie entweder müde ins Bett, tranken Bier in der Kantine oder dösten während einer der obligatorischen Politschulungen, die die Partei in Nowa Huta durchführte. Bei diesen Vorträgen hörten die Arbeiter von den Heldentaten kommunistischer Partisanen, von der Weisheit Staatspräsident Bieruts und dem unbedingten Vorbildcharakter der großen Sowjetunion. Nach den Referaten meldeten sich die Streber zu Wort und ergingen sich in Lobpreisungen der Partei oder Wiederholungen dessen, was sie gerade erst gehört hatten. Die Mehrheit der jungen Männer aber schwieg – entweder, weil sie nichts verstanden hatte, oder weil sie ahnte, dass die offizielle Parteilinie schon Morgen eine andere sein konnte. Das, was die Männer wirklich dachten, äußerten sie ohnehin erst nach den Vorträgen auf den Zimmern.  Gabriel aus Warschau spottete über einen Referenten, der ihnen die Vorzüge des Kolchossystems erklärt hatte. „Dieser Mensch kann unmöglich jemals eine Kolchose von innen gesehen haben, sonst hätte er nicht einen solchen Blödsinn erzählt. Meine Brüder arbeiten in einer Kolchose in den wiedergewonnenen Gebieten und haben den ganzen Tag kaum etwas zu tun. Zu essen bekommen sie trotzdem, weil die Partei die Kolchosen unterstützt. Jedermann klaut und unterschlägt, das Material verkommt, und das Gemüse verschimmelt auf den Feldern, weil die Kolchosmitglieder besoffen sind. ”

  ”Das spricht doch nicht gegen die Kolchosen, sondern das liegt an der mangelnden Disziplin”, widersprach Tymon. „Die Idee der Kolchose ist gut, nur die Leute sind einfach zu faul, sie in die Praxis umzusetzen. Außerdem besitzen die meisten Kolchosen noch keine Maschinen. Wenn die erst einmal da sind, werden sich die Kolchosen in ganz Polen durchsetzen.”

    „Wenn du die Ko-Ko-Kolchosen so gut findest, warum bist du denn nicht in ei-ei-ei-eine eingegetre-tre-ten?” stotterte Olivier.

  „Wäre ich ja vielleicht auch, aber in Białystok gibt es keine Kolchosen. Ich weiß auch nicht, wieso.”

  „Da wäre ein fauler Sack wie du auch besser aufgehoben”, lachte Gabriel.

  „Halts Maul, du Revanchist” gab Tymon zurück. „Du bist doch zu blöd, zehn Ziegel auf einen Haufen zu stapeln.”

  Die Zimmertüre öffnete sich und der Vorarbeiter Bartek kam mit einem halben Dutzend Bierflaschen in die Stube. Bartek Karlicz war der Vertrauensmann der Partei in der Baracke, ein wackerer, aufrechter Mann in mittleren Jahren, der mit allen gut auskam, mit den kommunistischen Brigadeleitern ebenso wie mit den einfachen Arbeitern und den Kantinenfrauen.  „Hier, eine Runde Bier für alle, die morgen zum Vortrag über das Rechtsaweichlertum gehen. Erwartungsvoll blickte sich Bartek um. „Na, wer möchte eine Flasche?”

  „Schon wieder ein Vortrag?” meckerte Tymon. „Wenn alle Referenten, die uns die Ohren vollquatschen,  auf dem Bau eingesetzt würden, waren wir längst fertig.”

  „Darf ich mein Bettzeug mitbringen?“ fragte Gabriel. Alle lachten und griffen zu den Bierflaschen.

  „So witzig finde ich das nicht”, mahnte Bartek. „Die Gefahr des kleinkapitalistischen Rechtsabweichlertums ist nicht zu unterschätzen.”

  „Was heisst ei-ei-eigentlich R-R-Rechtsabweichlertum?” wollte Olivier wissen.

  „Rechtsabweichlertum ist, wenn du als Bauer Tag und Nacht arbeitest und mehr Geld für deine Leistung haben willst, als ein Kolchosmitglied, das auf der faulen Haut liegt.” gab Gabriel zurück.

  „Und was ist dann Linksabweichlertum?” wollte Ryszard wissen.

  „Linksabweichlertum ist, wenn du gar nicht mehr arbeiten, aber trotzdem Lohn haben willst”, antwortete Gabriel, der schon die halbe Flasche leer hatte.

  Tymon hob in theatralischer Pose die Hand. „Genosse Bartek, ich verlange, dass der Genosse Gabriel wegen seiner konterrevolutionären Reden morgen zu einer Sonderschicht ohne Lohn  verdonnert wird.” 

  Bartek schmunzelte. „Gemach, gemach, Genossen, ihr schüttet das Kind mit dem Bade aus. Dass es noch Probleme und Schwierigkeiten gibt, ist ja unbestritten, aber bedenkt doch, welche Vorteile euch der Kommunismus bereits gebracht hat.”

  „Welche denn?” wollte Gabriel wissen.

  „Zum Beispiel im Schulwesen”, antwortete der Vorarbeiter. „So viele Bauernsöhne wie noch nie  besuchen mittlerweile die neu eingerichteten Schulen. Meine Kinder werden nach meiner Zeit in Nowa Huta auf Kosten der Partei studieren können. So viele Kinder einfacher Leute werden zur Zeit Lehrer, Ingenieure oder Ärzte.”

  „Und wenn sie einmal in Amt und Würden sind, denken sie auch nur an sich. Wo liegt denn dann der Unterschied zu den Kapitalisten der alten Zeiten?“ fragte Gabriel.

  „Idioten gibt es überall” schaltete sich Tymon ein. „Selbst in unserer Baubrigade. Schau dich doch nur selbst an“, fuhr Tymon an Gabriel gewandt fort. „Das Schönste an dir sind doch deine abstehenden Ohren.“

  Wieder kreischten alle vor Lachen. Bartek öffnete neue Flaschen. Die Männer waren nicht verkehrt, der Kommunismus würde sie schon eines Tages überzeugen. Ryszard trank mit und dachte an Wioletta Polak. Er hatte ihr schon zwei Briefe an die Adresse der Górskis in Nowolipie geschrieben, doch er hatte keine Antwort erhalten. 

  Die Wochen vergingen, aber die Bauarbeiten kamen nur langsam voran. Manchmal wurde der Stahl für die Gerüste vor dem Ziegeln geliefert, dann stürzten halbfertige Gebäude ein, und Architekten und Bauleiter stritten, wer dafür die Verantwortung trug. Eine ganze Woche lang lagen alle Arbeiten brach, weil ein Projektleiter von der Geheimpolizei als Agent des internationalen Großkapitals enttarnt worden war. Zugleich machte sich der Schlendrian breit, die ersten Trinker fielen aus der Rolle und wurden heimgeschickt. Bald waren Schlägereien an der Tagesordnung, bis die Baupolizei durchgriff und die auffälligsten Randalierer verhaftete.

  Sechs Wochen nach Ryszard Ankunft gab es einen arbeitsfreien Tag.  Alle Arbeiter mussten sich auf einem weiten, ebenen Gelände versammeln, an dessen Frontseite eine Tribüne errichtet worden war. Nachdem eine halbe Hundertschaft Soldaten Aufstellung bezogen hatte, fuhr ein Konvoi aus fünf schwarzen Limousinen vor. Dem zweiten Wagen entstieg Staatspräsident Bolesław Bierut, um  die Tribüne  zu besteigen.  Józef, der in einer der hinteren Reihen stand, klatschte wie alle anderen, als der Bauleiter den hohen Gast begrüßte. Der Staatspräsident winkte der Menge huldvoll zu und begann mit einer Rede, die niemand verstehen konnte, weil die  Lautsprecheranlage nicht funktionierte. Nur die Gesten des kleinen Mannes vorne auf der Tribüne waren zu erkennen. Abwechselnd wies er mit dem Zeigefinger nach oben oder schüttelte die Faust. Dann war der Staatspräsident fertig. Auf ein Zeichen der Vorarbeiter klatschten die Zuhörer. Wieder winkte der Staatspräsident der Menge zu, dann entschwand er in seinem schwarzen Lada. Anschließend gab es Freibier und ein dreifaches Hoch auf die Partei. 

   An den Wochenenden blieben die meisten Arbeiter in den Unterkünften, um Geld zu sparen. Vor lauter Langeweile begannen die Männer Prügeleien oder soffen billigen Fusel, meist das zweite vor dem ersten. Ein junger Mann aus Legnica wurde als Dieb enttarnt und verhaftet. 

  Gabriel fragte den Vorarbeiter, wo man eine Messe besuchen könne.  Bartek Karlicz schüttelte den Kopf. „Meine Güte, Gabriel, bist du denn von gestern? Kirchen und Pfaffen haben in Nowa Huta nichts zu suchen. Nowa Huta wird eine neue Stadt für den neuen Menschen sein. Da würde die Religion in ihrer Rückständigkeit nur stören.”

  Ryszard hörte es und schwieg. Dass er nun schon seit Monaten in Nowa Huta lebte, ohne dass er ein einziges Mal in der Kirche gewesen war, kam ihm falsch vor. Zwei Arbeiter aus dem Nachbarzimmer beklagten sich bei Bartek Karlicz, dass in Nowa Huta an alles gedacht würde, nur nicht an eine Kirche. „Und das mit gutem Grund“, erwiderte Bartek barsch. „Nowa Huta wird eine moderne Stadt sein, eine Stadt ohne Gott, eine Stadt der Zukunft.“

  Immer wieder kamen Priester aus Krakau und versuchten, Zutritt zu den Baustellen zu erhalten. Einer von ihnen, der sich Bruder Erasmus nannte, stand im Priesterornat und mit schadhaftem Schuhwerk an der Bushaltestelle und spendete jedem, der vorüberkam, seinen Segen. „Der Segen des Herrn  sei mit dir, mein Sohn“, rief er, als der Bartek mit Angehörigen des Sicherheitsdienstes herbeieilte, um den Priester zu verjagen. 

   Der Herbst brachte heftige Stürme, doch in den Baracken wurde gut geheizt. Die Bauarbeiten dauerten an, vornehmlich im Innern der bereits fertiggestellten Gebäude und an den Zufahrtswegen. Weil immer wieder der Strom ausfiel, wurde ein neues Kraftwerk in der unmittelbaren Umgebung von Nowa Huta errichtet, aber auch dessen Betrieb verlief nicht störungsfrei.

  Im Dezember fielen die Temperaturen unter null Grad, und die Arbeiten gerieten ins Stocken. Schließlich wurde der Baubetrieb zu Weihnachten und zum Jahreswechsel zwei Wochen lang ganz eingestellt.  Das wunderte Ryszard, denn was hatten die Kommunisten mit der Geburt Jesu zu tun? Aber selbst Tymon fuhr zu seiner Familie nach Białystok – „nur meiner Mutter zuliebe“, wie er versicherte.

  Ryszard blieb über den Jahreswechsel in Nowa Huta, weil er der Familie grollte. Auch von Wioletta Polak hatte er nichts mehr gehört. Vielleicht hatte sie seine Post überhaupt nicht erhalten. Oder ihre Antworten wurden zurückgehalten. Bartek, daraufhin befragt, ging zur Poststelle, um sich nach nicht ausgelieferter Post zu erkundigen. „Nichts“, sagte er, als er zurückkam. „Alle Briefe wurden ordnungsgemäß verteilt.“ 

  Kurz darauf erhielt Ryszard ein großes Paket voller Konserven, dazu einen Pullover, den Maria für ihn gestrickt hatte und einen knurrigen Brief von Józef, in dem ihn er schrieb, dass Ryszard jederzeit wieder auf dem Hof willkommen sei. Auch über das Erbe könne man noch einmal reden. Das klang ganz und gar nicht nach seinem Schwager. Hier hatte seine Schwester ihre Hand im Spiel gehabt.   

   Im Januar kehrten die meisten Beschäftigten wieder nach Nowa Huta zurück. Inzwischen lag das ganze Gelände unter tiefem Schnee begraben, selbst die Barackentüren waren wegen des Schnees kaum zu öffnen. Bartek ging mit Kannen voller Herbata durch die Bracken und hörte sich an, was die Männer nach ihrer Rückkehr zu erzählen hatten. Einem war während seiner Zeit in Nowa Huta die Frau von der Fahne gesprungen, einem anderen war die Mutter gestorben, das Kind eines dritten war krank. Für jeden hatte der Vorabreiter ein freundliches Wort, eine Geschichte oder einen Rat, als wäre er ein Priester.

  Auch Ryszard sprach mit ihm und erzählte Bartek von dem Familienstreit und seiner unerwiderten Liebe zu Wioletta Polak. Bartek wiegte den Kopf hin und her und sagte, dass Liebe braucht Zeit brauche, sogar im Sozialismus. So sei das eben, die Frauen im Sozialismus seien außerdem selbstbewusster als früher, was sie als Partnerinnen wertvoller, aber auch schwieriger mache. Er selber habe um seine Frau nicht weniger als vier Jahre werben müssen.

  Ein andermal sprachen sie über den  Sozialismus, und Bartek erzählte Ryszard die Geschichte der Großen Oktoberrevolution. Gebannt lauschte Ryszard Barteks Beschreibung der vorrevolutionären Situation, der Not der Massen unter der zaristischen Autokratie, von Lenin und Stalin und dem blutigen Bürgerkrieg gegen die reaktionären weißen Generäle. Selbst die Polen waren damals über das Vaterland der Werktätigen hergefallen, erzählte Bartek. Davon hatte Ryszard noch niemals etwas gehört, und auch wenn er nicht alles glauben mochte, was Bartek erzählte, hörte er dem Vorarbeiter gerne zu, weil seine Geschichten gut ausgingen und weil der Zielpunkt seiner Erzählungen eine bessere Zukunft war. 

   Im Februar wurde es noch kälter. Die Heizung fiel tagelang aus, und die ersten Männer mussten mit Erfrierungen ins Krankenhaus nach Krakau eingeliefert werden. Andere wurden wegen  Alkoholvergiftungen behandelt. Die Zahl der Schlägereien in den Baracken nahm überhand, die  Zimmer verwahrlosten, und Läuseplagen traten auf, obwohl jede Menge Insektengift versprüht wurde. 

  Erst ab Ende Februar, als es plötzlich wieder wärmer wurde, konnte mit der Arbeit erneut begonnen werden. Der Betrieb war gerade erst wieder in Gang gekommen, als Anfang März die Barackeninsassen durch scheppernde Trauermusik im Morgengrauen geweckt wurden. Alle Arbeiter wurden über Lautsprecher und Megaphone aufgefordert, sich  innerhalb der nächsten Stunde auf dem großen Versammlungsplatz einzufinden. Teilnahme sei Pflicht. Nichterscheinen werde streng geahndet.

  Noch bevor sich alle Bauarbeiter auf dem großen Versammlungsplatz eingefunden hatten, sickerte die Nachricht durch: STALIN WAR TOT. 

  „Endlich ist der Mistkerl hin“, entfuhr es Gabriel.

  „Wenn du dein vorlautes Schandmaul nicht hältst, wird es dir noch einmal schlecht ergehen“, zischte Tymon, während er eilig aufstand, um sich anzuziehen.  

  Ryszard stand während der Trauerkundgebung viel zu weit hinten, um zu erkennen, wer vorne sprach. „Der Vater der  Völker ist von uns gegangen“ verkündete der Mann auf der Holztribüne mit einer merkwürdig verzerrten Lautsprecherstimme. „Gestern Morgen ist Marschall Stalin in Moskau verstorben. Die gesamte kommunistische Welt trauert, ist aber wachsam. Ein Ausschuss führender Genossen des Zentralkomitees hat in der UdSSR die Regierungsgeschäfte übernommen. Alle Streitkräfte stehen bereit, falls der imperialistische Klassenfeind Übergriffe plant.“ Totenstille herrschte auf dem Versammlungsplatz. Weder Geräusche der Trauer noch Jubel waren zu hören. Der Redner  sprach weiter und pries den Verstorbenen als  Lenins bedeutendsten Schüler, als weisen Führer des Weltkommunismus, als Vater der russischen Industrialisierung und als Sieger über Nazi-Deutschland. 

  Drei Tage lang hingen die Fahnen auf Halbmast, drei Tage lang wurde nicht gearbeitet. Dafür fanden pausenlos Zusammenkünfte statt, auf denen die Arbeiter über Stalins weltgeschichtliche Bedeutung informiert wurden. Nach jeder Sitzung meldeten sich Aktivisten zu Wort und legten glühende Bekenntnisse zum Sozialismus ab. „Der Tod Stalins ist uns Aufgabe und Verpflichtung“ stand in großen Lettern auf der ersten Seite der Parteizeitung zu lesen, die tausendfach  in den Unterkünften verteilt wurde. Und daneben: „Der internationale Klassenkampf duldet keine Pause. Arbeiter verpflichten sich zu Sonderschichten zu Ehren Stalins.“ So war es auch in Nowa Huta. Eine spontan zusammengerufene Sitzung der Barackenältesten von Nowa Huta entschied, dass alle Bauarbeiter zwei Wochen lang umsonst zu Ehren Stalins arbeiten würden. 

 Im Rahmen dieser Sonderschichten kam es in einem anderen Teil des Baugeländes von Nowa Huta  zu einem aufsehenerregenden Rekordversuch. Einem polnischer Arbeiter, vom Tode Stalin tief erschüttert und fest entschlossen, sich noch rückhaltloser dem Sozialismus zu verschreiben, gelang die Verarbeitung von 30.000 Ziegeln in einer einzigen Schicht. Sein Name war Mateusz Birkut, und die Bauleitung von Nowa Huta sorgte dafür, dass die Nachricht von dieser sozialistischen Heldentat im ganzen Land verbreitet wurde. 

  „Das ist ein Drecksack“ meinte Gabriel hinter vorgehaltener Hand. „Und dieser Rekord ist Schwindel. Seine ganze Maurerbrigade hat dem Kerl die Ziegel hinterhergetragen, damit er möglichst viele davon in seiner Schicht verarbeiten konnte. Du wirst sehen, dass die Bauleiter diesen Schwindel dazu ausnutzen werden, die Arbeitsnormen auf den Baustellen zu erhöhen.“

  Am Ende des Monats erhielt Ryszard endlich Post von Wioletta Polak. Er hatte schon nicht mehr damit gerechnet und zögerte lange, den Brief zu öffnen. Schließlich fasste er sich ein Herz und las, dass Wioletta Polak von Warschau nach Nowolipie umgezogen war. Sie würde von jetzt an auf dem Górskihof bei ihrer Schwester wohnen und alles Weitere würde sich finden. Wieder diese vage Wendung, die alles Mögliche bedeuten konnte. Auch warum Wioletta Warschau verlassen hatte, war dem Brief nicht zu entnehmen. Am Ende entschuldigte sich Wioletta dafür, die Briefe von Ryszard nicht beantwortet zu haben. Sie habe sie aber alle gelesen, und wenn er noch so für sie empfinde, wie es in den Briefen zu Ausdruck komme, dann freue sie sich auf ein Wiedersehen.

  Ryszard las den Brief wohl ein dutzendmal, vor allem das Ende, in dem Wioletta auf ihn zu sprechen kam. Besonders liebevoll klangen die Zeilen nicht, auf der anderen Seite hatte sie ein Wiedersehen in Aussicht gestellt. Eine Zeitlang wusste Ryszard nicht, wie er sich verhalten sollte, doch je mehr Zeit verstrich, je klarer wurde ihm, was er wollte. Nach der nächsten Barackenbesprechung ging Ryszard zu Bartek dem Vorabreiter und kündigte seine Verpflichtung zum nächstmöglichen Termin. In Nowolipie warte eine Braut auf ihn, endlich habe sie sich bei ihm gemeldet. Bartek war nicht erfreut über diese Nachricht, ließ sich aber überzeugen. „Geh in dein Dorf zurück und heirate“, sagte er am Ende. „Vielleicht aber sehen wir uns schneller wieder als du denkst.“

  Als Ryszard Nowa Huta verließ, waren schon erste Umrisse der geplanten Stadt zu erkennen. Die Prachtallee war halb fertig, die Arbeiten an den großen Wohnblocks hatten begonnen. Geplant waren geräumige Wohnungen mit Balkonen, von denen aus ihre Bewohner auf Parkanlagen herabsehen würden. Wenn das wirklich der Kommunismus war, dann war er vielleicht doch nicht so schlecht, dachte Ryszard.

  Tymon, Gabriel und Oliver schüttelten Ryszard zum Abschied die Hand und wünschten ihm alles Gute. Sie tauschten ihre Adressen aus und versprachen, sich gegenseitig zu besuchen. Wahrscheinlich würden sie sich nie mehr wiedersehen.

  „Nicht schlecht, dass du jetzt die Baustelle verlässt“, meinte Gabriel. „In eine paar Jahren wird hier schon wieder alles vergammelt sein.”

  „In ein paar Jahren werde ich hier wohnen und dir von meinem Balkon aus auf deine Glatze spucken – falls du da nicht schon im Gulag bist”, widersprach Tymon.

  „Gu-Gu-Gulag? Was ist denn das?” fragte Olivier.