Indien Leseprobe

Leseprobe:

Statt einer Einleitung: Heiligabend in Delhi –

oder: Der erste Tag in Indien

Liebeskummer kommt immer zur falschen Zeit, aber wenn er dich in der Weihnachtszeit ergreift, bist du hinüber. So erging es mir, Gott sei´s geklagt, in jenem Dezember. Eine Woge der Behaglichkeit ergoss sich über die westliche Zivilisation, und ich war allein. So erwarb ich kurzerhand ein Ticket in die exotischste Region, die ich mir damals überhaupt vorstellen konnte, packte meinen Rucksack und flog nach Delhi. Indien sollte mich heilen, dachte ich damals zum ersten Mal, ohne zu wissen, wie oft ich diese Medizin noch würde nehmen müssen.

Dass sich schon am Flughafen von Delhi zerlumpte Elendsgestalten um die Shuttle-Busse versammelten und den Passanten ihre Prothesen oder Armstümpfe wie Monstranzen entgegenhielten, hätte mir eine Warnung sein müssen. Mit dieser Stadt war etwas anders als mit allen anderen Städten, die ich bislang gesehen hatte – das merkte ich schon während der Busfahrt in die Stadt, als ich unfreiwillig zum Augenzeugen dafür wurde, wie eine indische Megalopolis erwacht.

Zuerst sah ich nur Feuerstellen an den Straßenrändern und zusammengekrümmte Gestalten im Halbschatten, die auf der nackten Erde schliefen.  Dann kroch das erste fahle Morgenlicht durch die Straßenschluchten. Abertausende von Obdachlosen auf den Bürgersteinen und in den Hauseingängen erwachten, begannen sich zu rekeln, zu rauchen, zu schwatzen und schließlich wie auf ein geheimes Kommando tausendfach gegen die Häuserwände zu pinkeln. Mit dem zunehmenden Tageslicht schien sich die Bevölkerung der Stadt dann unvermittelt zu potenzieren: Männer, Frauen, Kinder, Kühe und Affen quollen in frappierender Plötzlichkeit wie aus unterirdischen Höhlen auf die öffentlichen Plätze, Rikschafahrer rasten durch die Menge, Lastwagen hupten, Busbremsen quietschten; der indische Tag war erwacht, und ein würziges Aroma von Smog und Unrat legte sich wie eine Glocke über die Stadt.

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„Ringos Guesthouse“, die Unterkunft, in der ich einchecken wollte, hatte noch geschlossen, und so ging ich ein wenig durch die Straßen, um zu sehen, was sich weiter ereignen würde. Der Muezzin und der Tempelbrahmane schlurften heran und öffneten Moschee und Tempel. Die Milch für den  Tschai wurde auf Eselkarren herangekarrt, und ohne irgendwelche Hintergedanken probierte ich eine Tasse dieses süßen und heißen Getränkes, nach dem ich später geradezu süchtig werden sollte.

Endlich öffnete das Guesthouse, ein verschlafener junger Inder, der einen dicken Schal um den Kopf gebunden trug, als litte er unter Zahnschmerzen, zeigte mir den Weg in den ersten Stock. Generatoren rappelten, weil der Strom ausgefallen war, und alle Duschen waren eingefroren. Es hatte mich in eine Mischung aus Kaserne und Obdachlosenasyl verschlagen, und der Anblick meines Zimmers gab mir den Rest. Ein Hocker, ein Rost, eine dünne Matratze, aber weder eine Decke noch ein Fenster – das war alles.

Als ich den Innenhof von Ringos Guesthouse betrat, saßen schon die ersten Mitglieder der internationalen Backpackergemeinde halb bekifft um einen kümmerlichen Tisch im Hof und diskutierten über die optimalen Bezugsquellen für Hasch und Marihuana. Kellner und Köche servierten kalte Nudelgerichte, eine junge Engländerin, der Indien ganz offensichtlich über das Maß ihrer Kräfte hinaus zugesetzt hatte, saß bewegungslos auf einem Stuhl, während ein badischer Elektriker, der in Stuttgart alles geschmissen hatte, offensichtlich auf Turkey war. Zappelnd wie ein Zitteraal wackelte er auf seinem Stuhl herum und quittierte jeden an ihn gerichteten Satz mit den Worten „Not for me, man, not for me“.

Das war der Augenblick, in dem ich mir an meinem ersten Indientag die Frage stellte: War das wirklich eine so gute Idee gewesen, vor meinem Kummer an Heiligabend nach Delhi zu fliehen?  Mir stand doch der Sinn nach malerischen Wüstenstädten, wunderbaren Stränden und weltabgelegenen Klöstern, kurz: nach jener Schönheit und Verzauberung, die meine Seele heilen sollte. Was sollte ich in diesem Moloch, der schon nach wenigen Stunden an meinen Nerven zehrte? Warum bin ich nicht gleich nach Goa gefahren, wo es doch alles so herrlich entspannt abgehen soll? Warum saß ich jetzt nicht am Ufer des Indischen Ozeans bei Shrimps und Bier und ließ es mir gut gehen?

Ich erkannte, dass ich mich überschätzt hatte und beschloss, weder in diesem Guesthouse noch in dieser Stadt zu übernachten, sondern,  wenn möglich, noch am gleichen Abend in den wärmeren Süden aufzubrechen. Da ich aber nun schon mal in Delhi war, wollte ich mir aber doch mit Hilfe einer Rikscha mal schnell die Stadt ansehen.

Inzwischen weiß ich natürlich, dass es drei Arten von Rikschafahrern in Indien gibt. Die erste und zahlreichste Gruppe ist von der abgezockten Truppe – ein Rikschafahrer dieser Sorte versteht kein Wort, fährt einen aber als Strafe dafür, dass man ihn geweckt hat, bis zur übernächsten Ecke um dann einen unverschämt hohen Rupienbetrag zu fordern. Die Rikschafahrer aus der zweiten Gruppe verstehen zwar auch nichts, besitzen aber Anstand und Berufsehre und fahren einen immerhin so lange um den Block, bis der vereinbarte Fahrpreis ungefähr abgefahren ist. Der dritten Gruppe – Rikschafahrern, die das Ziel verstehen, den Weg kennen und nachher nicht das Doppelte fordern – bin ich nur sehr selten begegnet, und wenn, dann waren es echte Leistungsträger, die nicht nur eine Fuhre, sondern auch noch eine Vollrasur im Angebot hatten. Mein Rikschafahrer gehörte zur zweiten Gruppe, er hatte nur genickt, kein Wort verstanden und war voll guten Willens mit mir einfach über eine Brücke gefahren, und weil das so viele taten, saßen wir plötzlich fest.  Es wurde gedrängt, geschoben und geschimpft, doch es ging nur noch halbmeterweise weiter, bis ich meinen Rikschafahrer entnervt bezahlte, zu Fuß wieder zurückging und dabei die gleichen Leute noch einmal von der anderen Seite begrüßen durfte.

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