Der Untergang der Osterinseln

  Der Schöpfergott Make Make unterschied sich wenig von seinen Kollegen aus anderen Weltteilen. Eines Tages war er da, sah sein Spiegelbild im Wasser und sehnte sich nach Gesellschaft. Aus einem Stein schuf er Mann und Frau und schenkte ihnen Rapa Nui. Make Makes zentraler Kult war die sogenannte „Vogelmenschenzeremonie“, die einmal jährlich am Kraterrand des Rano Kau stattfand. Dabei wetteiferten die besten und stärksten Schwimmer der einzelnen Stämme in einer Art Wettrennen bzw. Wettschwimmen darin, von den kleinen Nachbarinseln vor der Küste das erste Vogelei unbeschädigt an Land zu bringen. Dazu mussten sie vom Kraterrand des Rano Kau vierhundert Meter tief absteigen, einige Kilometer zu einer der drei vorgelagerten Inseln schwimmen, ein Vogelei finden und wohlbehalten  an Land und wieder hoch zum Kraterrand bringen. Der Hollywoodregisseur Kevin Costner hatte diesen Vogelmannwettbewerb in seinem „Rapa Nui“- Film als ein blutiges Actionspektakel inszeniert, bei dem sich die Konkurrenten von der Wand stießen oder gegenseitig ertränkten. Wie immer es auch gewesen sein mochte, der Häuptling, der den Sieger dieses polynesischen Triathlons in den Wettbewerb geschickt hatte, wurde für ein Jahr zum „Vogelmenschen“ und Inseloberhaupt erklärt. Er musste sich Kasteiungen unterwerfen, in kalten Höhlen fasten und sich ganz auf die Kommunikation mit Make Make konzentrieren. Ich notierte: Nicht immer ist religiöse Exzellenz ein Vergnügen. Man denke nur an den Vogelmenschen, Jesus oder die Kundalini von Kathmandu.

  Im Orongo Center wurde die These vertreten, dass der Make Make Kult und der Ritus des Vogelmenschen die Folge einer religiösen Revolution gewesen waren, die die alte Religion der Moais abgelöst hatte. Auch Heyerdahl hatte gemutmaßt, dass es zwischen den Anhängern Make Makes und den Erbauern der Moais einen Konflikt gegeben hatte, einen Antagonismus, den er mit der ihm eigenen Fantasie als Kampf der  „Kurzohren“ und der „Langohren“ beschrieb, wofür es aber keine Belege gab.  

  Was aber feststand, war, dass die Insel spätestens im 16. Jahrhundert in eine tiefgreifende ökologische und soziale Krise geraten war. Die Inselbevölkerung hatte die kritische Grenze von zehntausend Menschen (fast das Doppelte wie heute) überschritten, was langfristig mehr war, als die Insel ernähren konnte. Ein verhängnisvoller Raubbau an den natürlichen Ressourcen begann, der zum Untergang der Moai Kultur führte. Jarred Diamond hatte in seinem Buch „Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“ den Untergang der Osterinselkultur als Paradebeispiel einer  ökologischen Katastrophe und Menetekel für die moderne Welt beschrieben. Ursprünglich, so Diamond, war die Insel dicht mit Palmen bewaldet gewesen, doch die Bevölkerungsexplosion und der damit verbundene übermäßige Holzschlag hatte die Bestände schrumpfen lassen. Der  Boden begann zu erodieren, und die ohnehin bescheidenen landwirtschaftlichen Erträge sanken. Auch Brennholz, Seile und Baumaterial  wurden knapp. Bald waren die Vogelkolonien bis auf eine einzige Kolonie vor der Nordküste vernichtet. Schließlich kam mangels Holz der Kanubau und damit die Küstenfischerei zum Erliegen. Wissenschaftliche Untersuchungen an den Kotresten der Rapanuianer belegten für das 14. und 15. Jahrhundert einen kontinuierlichen Rückgang des Anteils von Fischnahrung zugunsten des Anteils der Ratten an der Proteinversorgung – bis  auf den für Polynesien einmaligen Wert von  93%! Allerdings hatten die Ratten, ehe sie  von den Menschen gefressen wurden,  es noch geschafft, die  Sprösslinge  der letzten Bäume anzunagen, so dass sie nicht mehr keimen konnten. Am Ende, so Diamond,  basierte die gesamte Nahrungsversorgung auf einer absurd ausgeweiteten Hühnerhaltung. bis auch diese Bestände aufgrund mangelnder Ernährung und Krankheiten zugrunde gingen. 

  Jahrzehnt für Jahrzehnt müssen die Zustände schlimmer geworden sein, bis es zu Stammeskriegen, Massakern und Kannibalismus kam. Doch der Bau der Moais ging unverdrossen weiter,  als könnten nur noch die Ahnen die Insulaner retten.  Um 1680 muss es schließlich zu einer Revolution auf der Insel gekommen sein, einem Kampf aller gegen alle, der mit der Ausrottung der Moai-Erbauer und dem Umstürzen aller Moai-Statuen endete. Als der holländische Weltreisende Jakub Roggeveen am Ostersonntag 1722 auf Rapa Nui landete (daher der Name „Osterinsel“), stieß er nur noch auf die Überreste einer ökologischen Katastrophe: ausgemergelte Inselbewohner, verfallene Hütten, umgestürzte Monumente und Menschenknochen. Das war schlimm. Aber das, was die Inselbewohner nach der Ankunft der Europäer erwartete, sollte noch viel schlimmer werden.