Cartagena

    War es Planung oder ein glücklicher Zufall dass die Mein Schiff 6 die große Bucht von Cartagena kurz nach Sonnenaufgang erreichte? Der Himmel war von kalter Transparenz, die Luft war klar und  das Meer spiegelglatt, als die weißen Häuser von Boca Grande am Horizont auftauchten. Viel mehr Menschen als normal hatten sich bereits vor dem Frühstück auf dem Oberdeck versammelt, um die Einfahrt nicht zu verpassen.  Aus der Entfernung glich die Galerie der weißen Häuser zuerst einer überdimensionalen Palisade, die den Zugang in eine fremde Welt versperrte. Dann differenzierte ich das Bild, einzelne Gebäude ragten wie weiße Tempelsäulen in den wolkenlosen Himmel.

  Erst als das große Schiff langsam in die Bucht einfuhr, sahen wir, dass die weißen Wolkenkratzer nichts weiter waren als eine Ansammlung wenig beeindruckender Mittelklassehotels, die aus der Nähe betrachtet ihre Attraktivität schnell verloren. Langsam drehte sich das Schiff in der Bucht von Cartagena und legte im Kreuzfahrthafen an. Nun bot sich wieder ein anderes Bild. Die Hotelhalbinsel glich nun einem langen gekrümmten Finger, der lockend ins Meer hineinragte. An ihrer Schnittstelle zum Festland wurden die Gebäude flacher. An weißen Kuppeln der  Kirchen und den Silhouetten der Adelspaläste waren die Umrisse der Altstadt zu erkennen, während sich hinter dem Hafen das gesichtslose Steinmeer einer Millionenstadt erstreckte.

  Cartagena de las Indias, heute eine Stadt von über 1 Million Einwohnern, wurde im Jahre 1533 von Pedro de Heredia gegründet. Ihre hervorragende Lage zwischen dem Meer und dem südamerikanischen Kontinent bescherte ihr schnell eine herausgehobene Position unter allen Städten der Neuen Welt. Alle spanischen Waren,  die für Südamerika bestimmt waren, wurden in Sevilla ein- und in Cartagena ausgeladen, was der Stadt Reichtum und Not zugleich bescherte. Denn vor den Küsten Cartagenas lauerten englische, holländische und französische Piraten auf Beute. Die Einwohner von Cartagena haben sich gegen diese Überfälle so gut es ging gewehrt und ihre Altstadt in erstaunlicher Intaktheit bis in die Gegenwart gebracht. Wogegen sie machtlos waren, war die Bevölkerungsexplosion der Gegenwart. Denn inzwischen bildet die historische Altstadt nur noch einen winzigen Teil der expandierenden und weitgehend konturlosen Millionenstadt. 

  Unser Rundgang durch die Altstadt von Cartagena begann an der Plaza de Marina in unmittelbarer Hafennähe. Im benachbarten Schifffahrtsmuseum hätte ich gerne die Modelle der Schaufelradampfer besichtigt, die früher auf den Magdalena oder den Rio Apure befahren hatten. Die lange Warteschlage vor dem Museum aber schreckte uns ab. So bestiegen wir die Stadtmauer, über deren Brüstungen man bequem flanieren  konnte. Das Meer zur Linken, die Altstadt zur Rechten erreichten wir ein kleines Restaurant auf der Stadtmauer und probierten den kolumbianischen Kaffee. Kolumbien gehört neben Brasilien und Vietnam zu den größten Kaffeeproduzenten der Welt und nimmt für sich in Anspruch, den schmackhaftesten Arabica-Kaffee überhaupt anzubieten. Angebaut wurde der kolumbianische Kaffee in Höhenlagen zwischen ein- und zweitausend Metern zu einem großen Teil von Kleinbauern, die die Kaffeebohnen per Hand  pflückten. Lilia trank einen Tinto, einen milden, leicht gesüßten schwarzen Kaffee, ich nahm einen Cafe Cortado, eine Art Espresso mit heißer Milch. Beide besaßen ein rundes mildes Arabica-Aroma, aber entscheidende Unterschiede zu dem Kaffee, den ich in Äthiopien oder in Brasilien getrunken hatte, konnte ich nicht feststellen. Als Kaffee Junkie schmeckte mir der Kaffee eigentlich überall.

  Auffallend im Café, auf den Stadtmauern oder in den Gassen der Altstadt war der hohe Anteil einheimischer Touristen. Kolumbien besaß offenbar eine Mittelschicht, die sich nach der Beruhigung der politischen Lage daran machte, das eigene Land zu erkunden. Die Stimmung war gänzlich anders als in der Altstadt von Panama, wo praktisch nur europäische und nordamerikanische Touristen unterwegs gewesen waren. Die äußere Erscheinung der Kolumbianer war schwer auf einen Nenner zu bringen, wenn man einmal davon absah,  dass  fast alle gut aussahen. Die Frauen waren auffallend gepflegt, und die Farbenfreude, mit der sie sich kleideten, krönte diese Schönheit noch durch ein exotisches Sahnehäubchen. Die kolumbianischen Männer verbreiteten in  Haltung, Gang und Erscheinung eine Aura von Maskulinität. Man sah breite Cowboyhüte, raumgreifende Bewegungen stämmige Figuren und jene scharf geschnittenen Gesichtszüge, die sich sofort entspannten, wenn sie mit ihren Kindern scherzten. Natürlich sahen nicht alle Kolumbianer so aus, aber die Zukurzgekommenen, die Gebrechlichen und Schwachen, die Bettler und Eckensteher, die es natürlich auch in Cartagena gab,  waren in der Altstadt kaum zu sehen.  

  Nach Cafe Tinto und Cortado besuchten wir die Kirche San Pedro Claver. Sie trug ihren Namen nach dem Jesuiten Pedro Claver, der ab 1616 in Cartagena als Priester wirkte und sich in besonderer Weise für die Sklaven einsetze. Immer, wenn Sklavenschiffe aus Afrika im Hafen von Cartagena landeten, ging der Pater zu den Kais und brachte den Unglücklichen Wasser und Nahrung. Die Erkrankten pflegte er in seinem  Hospital, und einmal im Jahr veranstaltete er mit den  Sklaven Cartagenas eine öffentliche Prozession zur barmherzigen Jungfrau. Er nahm Sklaven regelmäßig die Beichte ab  und wanderte sogar zu den Cimarrons der Umgebung, um sie zu missionieren. Im Alter erkrankte Pedro Claver an der Parkinsonschen Krankheit, heiliggesprochen wurde er 1881. Heute ist Pedro Claver der internationale Patron der Menschenrechte und steht würdig an der Seite anderer beispielhafter Menschenfreunde wie Las Casas oder Montesino. In ihrem Innern war die Kirche fast leer, als wir sie betraten. Besonders schmuckvoll war sie nicht, und auch der Glassarg unterhalb des Altars, in dem  sich die sterbliche Überreste Clavers befanden, war für den Publikumsverkehr gesperrt. 

    Cartagena war tatsächlich ein Schmuckstück, ein Freilichtmuseum der Kolonialzeit, aber auf eine Weise zurechtgemacht, die die Stadt eigentlich gar nicht nötig gehabt hätte. Ihre  Fassaden  waren vorwiegend in Gelb, Braun oder Ocker gehalten. Die Straßen waren sauber, die Pflaster von kleinen Steinen durchsetzt, insofern man sie vor lauter Touristen überhaupt sehen konnte. Überall hingen Blumen über die tadellos restaurierten Balkone der Adelspaläste.  Sonderlich viele repräsentative Plätze gab es nicht. Einer der größten war der Platz vor der Dominikanerkirche, auf dem sich die Menschenmassen aus allen Gassen trafen, ineinander verkeilten, um dann weiter zu streben. Das Auffälligste an diesem Platz war eine monumentale Bronzeskulptur des kolumbianischen Bildhauers Ferdinand Botero: ein liegendes, nacktes, unglaublich fettes Weib, das genau vor den Eingang der Kirche platziert worden war. Wusste der Geier, was die Verantwortlichen mit dieser Positionierung hatten ausdrücken wollen.

   Einige Ecken weiter stießen wir auf den Palast der Inquisition, einen ehemaligen Barockpalast, dessen schmucke Fassade nicht verriet, welcher Schrecken hinter seinen Mauern gewütet hatten. Mochte der Einsatz der Kirche für die Sklaven auch ehrenwert gewesen sein –  wenn die Schafe vom rechen Glauben abfielen, kannten die Hirten keine Gnade mehr. Im ersten Stock des Inquisitionspalastes wurden in der „Camera de los Tormentos“ die Folterwerkzeuge ausgestellt, mit denen die Inquisitoren den Satan aus den Körpern der Gequälten jagen wollten. Ein eigener Raum war dem Verhör und der Folter der „Hexen“ vorbehalten, ein Stockwerk höher war das Stadtmuseum von Cartagena untergebracht. Das alles wirkte merkwürdig  abstrakt, doch hätten die Mauern die Schreie der Gefolterten gespeichert, hätte man das Inquisitionsmuseum wahrscheinlich nur mit Ohrstopfen besuchen können. Kein Wunder, dass der Inquisitionspalast das erste Gebäude gewesen war, dass unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung in Cartagena geplündert wurde. .   

  Etwas außerhalb der Altstadt erhob sich die Festung San Felipe, eine der  größten Fortifikationen ganz Südamerikas. Schon unter der Herrschaft Philipps II war mit dem Bau der gewaltigen Anlage begonnen worden. Zigtausende Sklaven hatten jahrzehntelang an der Errichtung der Schutzwälle, unterirdischer Gänge, Wälle und Türme gearbeitet. Mit ihrer Höhe von 20 Metern und einer Dicke von bis zu sieben Metern waren die Mauern von San Felipe  in der Mitte des 17. Jhdt. für die Waffen ihrer Zeit  unüberwindbar. Fast ebenso unüberwindbar wie die Wälle waren die Männer, die sie verteidigten. Ein kurioses Denkmal unterhalb der großen Festung erinnerte an den spanischen Offizier Don Blas de Lezos, der ein Wunder an Tapferkeit und Pflichterfüllung gewesen sein muss.  Im Dienste der spanischen Krone waren ihm bereits ein Bein und ein Arm weggeschossen worden. Bei der großen Belagerung von Cartagena, bei der der englische Admiral Vernon im Jahre 1741 über 20.000 Soldaten und 2000 Kanonen in Stellung brachte, wurde ihm auch noch ein Auge weggeschossen. Cartagena aber fiel nicht –  nach Arnold Toynbee einer der Gründe dafür, dass heute in Südamerika Spanisch und nicht Englisch gesprochen wurde. 

   Am Ende rasteten wir am Plaza Bolivar, einem umschatteten palmenbestandenen kleinen Park,  in dessen Mitte sich eine überlebensgroße Reiterstatue des Generals. erhob. Die Skulptur zeigte einen schlanken Mann, der auf seinem Pferd saß und den Hut gezogen hatte. „Seht, das ist mein Werk“, schien er zu sagen. „Wenn es gescheitert ist, lag es nicht an mir.“ Möglich, dass in dieser Anmutung sogar ein Stück Wahrheit steckte, denn Simon Bolivar, der „Libertador“, der Spanisch-Amerika zusammen mit dem Argentinier San Martin in die Freiheit geführt hatte, war am Ende tatsächlich gescheitert. Seine großkolumbianische Föderation wurde zur Chimäre, als Venezuela und Ecuador austraten. Am Ende seines Lebens war Simon Bolivar  von all seinen Ämtern zurückgetreten, um sich auf eine letzte Reise auf dem Rio Magdalena zu begeben. Dieser letzten Reise  hatte Garcia Marquez mit seinem Roman „Der General in seinem Labyrinth“  ein würdiges Denkmal gesetzt.

  Das war lange her, und die Kontroversen um die Person Bolivar  waren längst seiner geschichtlichen Kanonisierung gewichen. Ganz Spanisch-Amerika war voller Bolivar Statuen, selbst auf Niederländisch-Curacao hatte ich ein Bolivar Denkmal gesehen. Inzwischen war er so etwas wie der Karl der Große Südamerikas geworden, auf den sich alle spanischsprachigen Nationen beziehen.

  Vom Meer her zog ein kühler Wind durch die Gassen. Tauben flatterten um das Denkmal, und völlig unbeeindruckt von dem Gewusel ließ sich ein großer grüner Leguan von Einheimischen füttern. Über ein Stunde saßen wir auf einer Bank und ließen die Atmosphäre auf uns wirken. Die Frauen, die an uns vorbeigingen, waren als Mädchen von atemberaubender Verlockung, als erwachsene Frauen von respekteinflößender Stattlichkeit.

  Am Ende drängte die Zeit. Doch wir wollten noch nicht Abschied nehmen, und liefen noch einmal durch die Altstadt. Worin bestand der Geist dieser Stadt? In der kämpferischen Trotzigkeit der Festung San Felipe? In der Barmherzigkeit des heiligen Pedro Claver oder der Gnadenlosigkeit, die in den Folterkammern des Inquisitionspalastes dokumentiert wurde? Oder vielleicht in der welken cartagenischen Melancholie, wie sie Garcia Marquez in „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ beschrieb: “Die vormals mächtigen Familie tauchten ein in das Schweigen ihrer ungeschützten Stadtburgen. In den verwinkelten Kopfsteinpflastergassen, die sich bei den Kriegsüberfällen und den Landungen der Freibeuter als so vorteilhaft erwiesen hatten, wuchs das Unkraut über die Balkone herunter und sprengte selbst bei den gepflegtesten Häusern Risse in die festgemauerten Wände, und um zwei Uhr nachmittags waren die scheppernden Klavierübungen im Dämmern der Siesta das einzige Lebenzeichen. Drinnen in den kühlen, weihrauchgesättigten Schlafzimmern schützten sich die Frauen vor der Sonne wie vor einer  schädlichen Ansteckung, und sogar bei den Frühmetten deckten sie das Gesicht mit einer Mantilla ab. Ihre Liebesgeschichten waren langsam und verwittert, oft gestört von düsteren Voraussagen, und das Leben erschien ihnen endlos.“

  So beeindruckend wie die Einfahrt in die Bucht von Cartagena, so vollzog sich auch die abendliche  Ausfahrt. Der ganze Himmel war blutrot gefärbt, als die klar konturierte Sonne langsam über der Skyline von Boca Grande niedersank. Hunderte hatten sich auf dem Oberdeck versammelt, um eine der beeindruckendsten Anblicke der ganzen Reise zu genießen. Langsam legte die Mein Schiff 6 ab, das gewaltige Tuten schallte kilometerweit über die Bucht. Die Hymne von der „Große Freiheit“ erklang, und vorbei an der langsam im Dunkel versinkenden Hochhauskulisse von Boca Grande steuerte die Mein Schiff 6 die offene See an. Die Illusion der Schönheit, die sich am Morgen bei der Annäherung verloren hatte, kehrte zurück, als das Schiff die große Bucht verließ und die weiße Skyline weit hinter uns wie ein geheimnisvolles Camelot langsam im Dunst versank.