Nagarkar: Gottes kleiner Krieger

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Nagarkar: Gottes kleiner Krieger

Dieses weltweit beachtete und hoch gelobte Buch handelt vom religiösen Fundamentalismus, dargestellt am Beispiel eines jungen Inders, den seine fanatische Gottsuche nicht nur auf einer Reise durch die Glaubenspraxis von Islam, Christentum und Hinduismus sondern buchstäblich auch durch die Krisenregionen der ganzen Welt einem tödlichen Ende entgegen führt. Das hört sich vielversprechend an, und so las ich dieses Buch während einer ausgedehnten Indienreise allabendlich bei einem Mango Lassi.  Der erste Teil des Romans, immerhin 250 Seiten lang, ist ein Meisterwerk, und ich habe ihn regelrecht verschlungen. Erzählt wird die Geschichte Zia Khans, eines begabten jungen Moslems aus Bombay und seiner Familie. Vater, Bruder, Mutter, Tante, der Pan-Verkäufer, der betrügerische Onkel, die erste Liebe – jede Gestalt wird mit Liebe zum Detail in eine Geschichte einführt, die gleich zu Anfang ihren epischen Anspruch markiert: die Irrungen und Wirrungen auf der Suche nach Erlösung – und das vor dem Hintergrund der quirligen, multikulturellen und herrlich anschaulich geschilderten Metropole am Arabischen Meer (wunderbar etwa die Schilderung der „indischen Straße“ auf Seite 62). Schnell zeigt sich: Zia Khan ist ein religiös ungemein sensibles Kind, dessen Gottsuche etwas Quälendes beinhaltet, wobei dieses Quälende nicht nur ihn, sondern auch seine Umgebung trifft. Mehr noch: Je intensiver sich der junge Zia mit der Religion beschäftigt, desto gemeingefährlicher wird er: er verfolgt Salman Rushdie, um ihn zu ermorden, er versucht seinen Bruder zu erstechen und wird schließlich zum islamistischen Terroristen, der in Kaschmir Hunderte unschuldiger Menschen auf dem Gewissen hat. Je weiter die Geschichte voranschreitet, umso deutlicher wird die „Message“ des Romans: die Entschiedenheit der religiösen Überzeugung ist der Katalysator von Mord, Tod und Gewalt zwischen den Menschen. So weit, so unerfreulich, aber auch so belehrend und zugleich erstaunlich unterhaltsam.
Dann aber geschieht etwas Merkwürdiges, was ich in dieser Krassheit bei einem ernsthaften Werk noch nicht erlebt habe. Der Roman stürzt im zweiten Teil regelrecht ab – zunächst verhalten, dann immer katastrophaler, je mehr sich das Buchs einem Ende nähert. Während Zias Geschichte im ersten Teil des Romans (Zia) packend, stimmungsvoll und psychologisch glaubwürdig daherkommt, beginnt die Hauptfigur im zweiten und dritten Teil des Buches (Lucent, Tejas) psychologisch und poetologisch regelrecht zu flattern. Zia, inzwischen vom Islam zum Christentum konvertiert, regrediert zu einer Comicfigur, die mal dies, mal das tut, ohne dass der psychologische Zusammenhang auch nur im Ansatz ersichtlich wäre. Als Kinderretter, Abtreibungsgegner, Waffenhändler, Börsenspekulant, Afghanistanversteher, Terrorismuslehrer und Steuerrechtsexperte wird ihm eine vollkommen unwahrscheinliche internationale Karriere angedichtet, ehe er (wahrscheinlich) seinen Tod von der Hand eines afghanischen Warlords findet. Die Romanhandlung, die im ersten Teil mit erzählerischem Geschick so breit und üppig entfaltet wird, dass man den Fortgang der Geschichte kaum erwarten konnte, verliert sich in die obskursten Wendungen und Unwahrscheinlichkeiten, bis man schließlich das Interesse an der Handlungsführung verliert. Ähnlich verhält es sich mit dem Romanpersonal. Manche Figuren wie die neurotische Vivian oder Tante Antonia, im ersten Teil des Werkes als Handlungsträger aufwendig aufgebaut, verschwinden einfach auf Nimmerwiedersehen – andere Gestalten wie der ominöse Shaktia Muni oder der afghanische Warlord springen plötzlich und unvorhergesehen aus der pseudoliterarischen Kiste. Der Einbruch des Romans ist umso bedauerlicher, als die Sprache, in der das Buch erzählt wird, bis zum Ende prägnant und geschliffen bleibt. Auch die immer wieder eingeschobenen geistesgeschichtlichen Reflexionen (etwa: die Krise der westlichen Zivilisation S. 488 und anderswo ) sind ungemein lesenswert. Und auch das Thema wäre es wert gewesen, auf einem angemessenen Niveau behandlet zu werden (Wie das geht, hat Salman Rushdie in „Shalimar der Narr“ gezeigt.) Es ist eben in der Literatur doch nicht alles nur Sprache und Form – wenn der Inhalt vollständig aus dem Ruder läuft, wenn ein literarisches Werk nach einer beeindruckenden epischen Overtüre zu Räuberpistole schrumpft, nützt auch die edelste Prosa nichts mehr. Schade, schade, schade! Fünf Sterne für den ersten Teil, maximal einen für den Rest – mit gutem Willen also drei Sterne insgesamt von einem enttäuschten Leser. Mein Tipp: nach der Lektüre des ersten Teils in einem Second-hand-Buchladen in Goa gegen einen Mistry oder einen Rushdie tauschen.

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