Mistry: So eine lange Reise

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Rohinton Mistry: So eine lange Reise

Manche Bücher gleichen Wohnzimmern, in denen nicht viel geschieht, in denen man sich aber durchaus heimisch fühlt – vor allem, wenn es sich um ein exotisches Wohnzimmer mit liebenswerten Bewohnern handelt. Keine Frage, dass die Familie Noble, eine indische Durchschnittsfamilie aus einem Hochhausblock in Bombay, in diese Kategorie gehört – allen voran der wackere Gustad Noble, der hinkt, seitdem er sich für seinen Sohn Sohrab vor ein fahrendes Auto geworfen hat, um ihn zu retten, und seine nicht minder wackere Frau Dilnavaz, die als Hüterin des Hauses und der Kinder Sohrab, Darius und Roshad das Herz der Familie ist. Die Nobles sind eine indische Durchschnittsfamilie, die im Sommer vor lauter Mücken nur mit Mühe durch die Nacht kommt, die die Ankunft des Monsuns wie eine Erlösung begrüßt, die sich mit den Nachbarn streitet und versöhnt und ihre ganze Energie in die Zukunft der Kinder steckt. Viel geschieht in dem Roman eigentlich nicht – die nur ganz vage entfaltete Rahmenhandlung des indisch-pakistanischen Krieges von 1971 und die Tragödie des befreundeten Majors Johnny Bilmoria dienen nur dazu, Indien-Kolorit zu entfalten, und das gelingt dem Autor auf unnachahmliche Weise. Der Milchpanscher, der große Bonsetter, der die gebrochenen Knochen nach Gefühl wieder einrenkt, der kindische Themul, Mr. Rabadi und sein Kampfpinscher, die schrullige Miss Kutpitia und viele andere mehr ergeben in ihrer Gesamtheit ein farbenfrohes Panorama des indischen Alltags, wobei es der Autor meisterhaft versteht , mit wenigen Strichen, eine Figur oder eine Situation einprägsam und humorvoll in sein Bombay-Panoptikum einzufügen – sei es der Bankangestellte Dinshawij, dessen Gemütszustand seine Umgebung an der Intensität seines Mundgeruches erkennen kann,  oder am beispiel der Zubereitung einer Fußnägelsuppe, mit der die wackere Dilnavaz Noble ihre kranke Tochter kurieren will. -Makaber sind die Beschreibung der Käfigprostituierten von Bombay oder die Begräbnisriten der Parsen, die ihre Verstorebnen in den Türmen des Schweigens den Geiern zum Fraß vorwerfen, wobei es durchaus passieren kann, dass Leichenteile, von den Vögeln fallengelassen, auf benachbarten Balkonen landen. Je weiter der Leser bei der Lektüre des vorliegenden Buches voranschreitet, je mehr wird er zum Mitbewohner einer teilweise vollkommen fremden, aber auch merkwürdig vertrauten Welt, in der eigentlich nur ein Bereich wirklich schlecht weg kommt, ein Bereich, der als Plage des indischen Lebens schlechthin erscheint: die korrupte Politik und Staatlichkeit, wobei es ganz gleichgültig ist, ob es sich um die verkommene Stadtverwaltung von Bombay oder die indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi handelt.

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