Tiziano Terzani: Fliegen ohne Flügel

IMG_1688„Vorsicht! 1993 läufst Du Gefahr zu sterben. In diesem Jahr darfst Du nicht fliegen. Nicht ein einziges Mal.“ Aus der Spiegelkorrespondent Tiziano Terzani im Jahre 1976 diesen Hinweis von einem chinesischen Wahrsager in Hongkong erhielt, war das nichts weiter als ein Anlass zum Schmunzeln. Doch je näher das Jahr 1993 heranrückte, desto mehr wurde die Prophezeiung im Bewusstsein des Autors zu einer lebensentscheidenden Warnung. Natürlich ist man gespannt, was die Gurus und Mönche, Priester, Hexen und Einsiedler dem Sohn der Stadt Florenz hinsichtlich dieser Warnung alles mitzuteilen haben. Um es gleich vorweg zu sagen: erstaunliche und banale, erheiternde und verdrießliche Diagnosen wechseln in so bunter Folge, dass nicht nur der Leser, sondern auch der Autor selbst bald nicht mehr wissen, was sie eigentlich glauben sollen. Die intensive Untersuchung, die ein chinesischer Experte in Malakka an den Fußsohlen Terzanis vornimmt, fördert ein wenig erfreuliches Ergebnis zutage: mit übermäßigem Reichtum wird der Autor für den Rest seines Lebens nicht mehr rechnen dürfen. Ein buddhistischer Bonze in Bangkok konnte trotz mancherlei Finten und einer geradezu investigativer Fragetechnik zur Erhellung der Terzani-Existenz nur ein Details beisteuern, das dem Autor ohnehin schon bekannt war: „Deine Frau hat einen stärkeren Charakter als Du.“ Auch die mongolischen Wahrsager von Ulan Bator wissen nicht weiter, wenn auch der Leser bei dieser Gelegenheit von einer bemerkenswerten Methode der landwirtschaftlichen Wasserversorgung erfährt. Ein mongolischer Dalcin hängt bei großer Trockenheit einfach sein Hemd so lange auf eine Leine, bis sich aus dem kleinen Schatten eine große Regenwolke bildet. So etwa sehen die asiatischen Mysterien aus, die Terzani immer aufs Neue präsentiert, und ganz vergeblich sucht der Leser hinter diesen und ähnlichen Geschichten nach jener leichten Prise Ironie, die auch den größten Nonsens mit ein wenig Humor erträglich machen könnte.
Würde das Buch nichts anderes zur Sprache bringen, könnte die Besprechung an dieser Stelle beendet sein. Doch die „Reise zu Asiens Mysterien“, wenngleich im Titel plakativ herausgestellt, ist nur ein einziger und wahrscheinlich der schwächste Teil des vorliegenden Buches. Viel ergiebiger sind die zahlreichen Reiseminiaturen, die in ihrer Gesamtheit nicht weniger ergeben als das Portrait eines ganzen Weltteiles – eben des südostasiatischen und ostasiatischen Raumes, der bei Terzani cum grano salis als das klassische „Asien“ firmiert. Am Grab Henri Mouhots in Luang Prabang und auf den Spuren Ferdinand Ossendowskis in Ulan Bator, vor den Gewehren der Roten Khmer, in den Straßenschluchten Bangkoks oder auf der „vollklimatisierten Insel Singapur“ – immer gelingt es dem Autor mit wenigen prägnanten Strichen Geschichte und Gegenwart des jeweiligen Platzes zu einem exemplarischen Baustein im großen asiatischen Gebäude zu verdichten. In Ho Mong, der Welthauptstadt des Drogenhandels, konferiert Terzani mit dem Drogenpräsidenten Khun Sa, und in den Abteilen der transsibirischen Eisenbahn wird er zum Augenzeugen eines zusammenbrechenden Russlands, dessen unterversorgte Menschen den mongolischen Wanderhändlern auch die minderwertigsten Waren aus den Händen reißen. Terzanis kurze Portraits der laotischen Lebenswelt, der Ruinen von Angkor oder auch nur eines Sonnenunterganges in Ulan Bator sind faszinierend für Asien-Anfänger und Asien-Kenner zugleich Und so mag es sein, dass manch einer, zwischen diesen beiden Polen hin- und hergerissen, möglicherweise das dritte Thema zunächst übersehen wird, ehe es sich jedoch im weiteren Verlauf des Buches immer deutlicher entfaltet. Wie ein gigantischer Strudel hat der die Modernisierung den asiatischen Kontinent erfasst, und auch wenn der Autor den Untergang der alten Traditionen beklagt, verharrt er nicht in der Pose der nostalgischen Verklärung sondern benennt die Träger dieses epochalen Wandels. Seine Antwort ist eindeutig: es sind die Chinesen, die Asiens Schicksal in die Hand nehmen werden. Aus ihrer unglaublichen Tüchtigkeit speisen sich die Kräfte, die derzeit die Metamorphose Asiens vorantreiben. Dabei sind die Chinesen Täter und Opfer zugleich: den Ursprüngen ihrer eigenen Kultur zunehmend entfremdet sind sie den Verlockungen der westlichen Konsumgesellschaft vollständig erlegen und hegen nach der Auffassung des Autors keinen heißeren Wunsch als „kleine Amerikaner“ zu werden – auch wenn das chinesische Selbstbewusstsein und die Widerstände gegenüber dem Westen zunehmen Im Abstand von einem Dutzend Jahren nach seinem ersten Erscheinen gelesen, ist es erstaunlich, wie genau, der Autor den asiatischen Aspekt des weltweiten Prozesses vorausgesehen hat, den wir heute als „Globalisierung“ bezeichnen. Auch für die immer nostalgischere Rolle Europas in der Welt findet der Autor die richtigen Worte. Erstaunlich, schreibt er am Ende des Buches, „wie gut dieser Kontinent sein Alter verkraftete. Er gab sich keine Mühe sich ein anderes Gesicht zuzulegen, vielmehr war er stolz auf sein Aussehen und bestrebt, es zu erhalten. Verglichen mit dem Selbstzerstörungsdrang Asiens war dies eine große Wohltat.“ So endet Tiziano Terzanis Reise zu den Geheimnissen einer fremden Welt in einem Lob der europäischen Ordnung. Wenn das kein Mysterium ist.

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