Meyer: Rost

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Meyer: Rost

„Isaacs Mutter war fünf Jahre tot, aber er dachte ständig an sie. Er lebte allein mit dem Alten, er war zwanzig, für sein Alter klein, man hielt ihn leicht für einen Jungen. Später Vormittag, flott ging er durch den Wald in Richtung Stadt- Gestalt mit Rucksack, klein und dünn, schwer darauf bedacht, unterm Radar zu fliegen.“ So beginnt Philipp Meyers Roman „Rost“, die Geschichte eines gleich mehrfachen Niedergangs: des Niedergangs einer ganzen Industrieregion im Umkreis von Pittsburgh in den Vereinigten Staaten – und die Geschichte des Niedergangs persönlicher Lebensentwürfe und Träume. Alles scheint schon vorbei zu sein – in den Orten Buell und Bronsville mit ihrem Industriemüll, der Arbeitslosigkeit und der ansteigenden Kriminalität ohnehin –aber auch in den Lebensläufen der Hauptpersonen Isaac, Billy Poe, Grace Poe, Chief Harris oder Virgil. Es ist, als ob sich über dem Leben der Menschen, ganz gleich in welchem sozialen Umfeld sie sich bewegen, eine Decke immer tiefer senke, bis sie unweigerlich zerquetscht werden, und es erscheint fast so, als wüssten sie von diesem Verhängnis, ohne vor ihm zu fliehen.
Im Mittelpunkt des Romans stehen Issac English und Billy Poe, zwei Freunde, die eigentlich vorhaben, die Sackgassen ihrer Herkunft zu verlassen, aber nicht recht mit diesen Plänen zurande kommen. Die Mutter des hochbegabten Isaac hat sich ihrem tristen Leben durch Selbstmord entzogen, der Vater ist verhärmt und leidend, nur die Schwester Lee hat es scheinbar geschafft, durch Yale-Stipendium dem Elend ihre Herkunft zu entkommen. Sie hat in eine soziale Schicht eingeheiratet, die auf die normalen Menschen in ihrer Armut und Bedrängtheit verständnislos herabblicken, als hätten sie Geisteskranke vor sich. Billys Poes Mutter Tracey hat alle ihre Lebenschancen verpasst hat und lebt abgearbeitet und rheumakrank in einem armseligen Trailer. Billy Poes Vater „Virgil machte Gelegenheitsjob, saß in einer Bar und las, damit die Frauen glaubten, einen großen Denker du Rebellen vor sich zu haben, wo er doch bloß ein fauler Wichser war.“(S. 147) . Der Roman beginnt damit, dass Isaac und Poe bei einer Übernachtung in einer Industrieruine auf drei Landstreicher treffen, mit denen es zum Streit kommt, in dessen Verlauf einer der Landstreicher von Isaac in Notwehr getötet wird. Während Billy Poe, der den tödlichen Stein nicht geworfen hat verhaftet wird, beginnt Isaac tatsächlich seinen abenteuerlichen Marsch, der in echt amerikanischer Tradition natürlich ein Marsch nach Westen sein soll Auf seinem langen Weg nach Kalifornien passiert Isaac immer neue Manifestationen des Untergangs: verrottende Fabriken, aufgerautes Land, Müllhalden halb eingestürzte Schlote, funktionslose Riesenröhren, die wie gigantische Metallschlingen die Orte überragen,– alles umgeben von einer Natur, die unbeeindruckt vom Wüten der Manchen sich von Jahreszeit zu Jahreszeit erneuert und auch noch da sein wird, wenn die Bewohner dieses Landes längst im Orkus der Geschichte verschwunden sein werden. Längst hat der wirtschaftliche Niedergang auch auf das Verhalten der Menschen übergegriffen: Gewalt, Drogenmissbrauch nehmen zu, die Asozialität breitet sich aus. Isaac muss feststellen, dass es regerecht gefährlich ist, zu Fuß durch Amerika zu wandern und nachts auf andere Menschen zu treffen – der Hobbes’sche Naturzustand ist zurückgekehrt. Willkommen im amerikanischen Hinterhof der Globalisierung, von dem man befürchten muss, dass er bald immer größere Areale der westlichen Welt umfassen wird. Comack MCCarthys „The Road“ lässt grüßen. Allen Europäern, denen es noch immer völlig unverständlich erscheint, wie US-Bürger den Anti-Globalisierer Trump zum Präsidenten wählen konnten, seien diese Kapitel empfohlen, denn es waren die abgehängten, deindustrialisierten und halb verelendeten Zonen die den überraschenden Sieg Trumps über Hillary Clinton ermöglichten.
Parallel zum Weg Isaacs nach Westen (der zuerst ein Weg nach Detroit ist), beginnt der verhaftete Billy Poe seinen Leidensweg ins Gefängnis, einer menschlichen Apokalypse, die in endgültig zu zerstören droht. Wer hier Ähnlichkeiten zu den Gefängnisszenen in „A Man in Full“ von Tom Wolffe entdeckt, dürfte richtig liegen. Während Billys Mutter Tracey in ihrer Verzweiflung versucht, mit dem Polizeichef Harris wieder anzubändeln und ihn zur Ermordung eines Belastungszeugen anzustiften, wird der herumwandernde Isaac überfallen und ausgeraubt.  Wie die Geschichte ausgeht, ob Issac in Kalifornien ankommt, oder nach Buell zurückkehrt, um Billy Poe zu retten, ob Billy im Gefängnis überlebt soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Wichtiger als das Finale der Handlung ist ohnehin die Stimmung des Buches, das seine Düsternis bis zum Ende durchhält, was nicht zuletzt seiner Sprache zu verdanken ist. Meyers Sprache ist rauh, rein aufs Ablaufstechnische bezogen, doch präzise und voller emotionaler Konnotationen, einfach eine Sprache, die zu der Bühne passt, auf der sie gesprochen wird. Am Ende dieses packenden und uneingeschränkt empfehlenswerten Buches verbleibt ein trister Befund: Der amerikanische Traum ist ausgeträumt, und diejenigen, die erwacht sind, müssen sich in einer vollkommen veränderten Wirklichkeit zurechtfinden.“Mee too“ und ähnicher Quark gehören jedenfalls nciht dazu.

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