Dylan: Chronicles

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Dylan: Chronicles

Ohne zu übertreiben wird man Bob Dylan als eine epochale Gestalt der modernen Populärmusik bezeichnen können. Seine Songs wurden zu Hymnen einer ganzen Generation, und dass, obwohl er zeitlebens so sang, als habe er gerade die vierte Kehlkopfoperation hinter sich. Was liegt da näher, als dem Geist von „Tamborine Man“ oder „Blowin in the Wind“ in einer Autobiographie nachzuspüren, die der Meister selbst im hohen Alter von etwa sechzig Jahren verfasste? So habe ich es gemacht – an einem eiskalten Sonntagnachmittag legte ich die CD „Best of Dylan“ auf und begann, in „Chronicles“ zu lesen.

Wie es sich für eine moderne Autobiographie gehört, beginnt das Buch natürlich nicht mit der Geburt sondern mit der Ankunft Dylans in einem vereisten New York. Stimmungsvoll wird erzählt, wie die vergangenen und die künftigen Größen der amerikanischen Folkmusik sich in den Bars von Greenwich Village ein Stelldichein geben. „Songs über heruntergekommene Schmuggler, Mütter, die ihre eigenen Kinder ersäufen, Cadillacs, die auf hundert Kilometer fünfunddreißig Liter schlucken, Überschwemmungen, Feuersbrünste im Gewerkschaftssaal, Dunkelheit und Kadaver am Grunde von Flüssen“ – das war nach eigener Auskunft das thematische Repertoire, mit dem der junge Barde sich den etablierten Alphatieren der Szene vorstellte. Es schien ihnen gefallen zu haben, denn ohne dass erzählt würde, wie, finden wir Dylan plötzlich im Mittelpunkt einer landesweiten Hysterie, die den Künstler reichlich nervt. Dann wird es kunterbunt: Schaffenskrisen kommen und Gehen, Unfälle, Wendepunkte, harsche Zeitschnitte folgen, und dann setzt die Erzählung plötzlich wieder am Ende des Buches ein – so geht das über 300 Seiten, und wer will, kann in dieser Konzeption einen Spiegel der biographischen Tatsache sehen, dass der große Dylan immer nur um sich selber kreist. Für wirkliche Dylanfans ist das natürlich kein Problem, da sie eh schon alle hagiographisch relevanten Stationen kennen. Wer aber nur schnöde einen Lebenslauf kennen lernen will, muss ich einen Wikipedia-Ausdruck neben das Buch legen, um die einzelnen Lebensetappen auch wirklich verstehen zu können.

Mit diesem Wikipedia-Ausruck als Leitfaden kann man dann durchaus auch die Stimmungen genießen und einordnen, die das Buch immer wieder beschwört. „Jetzt ging ich erst einmal im Dämmerlicht spazieren“, schreibt Dylan über seine Ankunft in New Orleans. „Die Luft war dunstig und berauschend. An einer Straßenecke kauerte eine riesige hagere Katze auf einem Betonvorsprung. Ich trat näher und blieb stehen und die Katze rührte sich nicht. Schade, dass ich keine Milch dabei hatte.“ Stimmt, denkt der Leser. Das ist wirklich schade. Sehr oft steht Dylan auch mit den Händen in der Hosentasche am Fenster und blickt auf die Straße, döst auf dem Sofa herum, denkt sich dies und das oder trinkt ein Bier. Sehr anschaulich die Schilderungen der Szene mit ihren Bars, ihren Menschen und ihrer Musik: „Seine Musik war wie ein Tritt in die Fresse“, heißt es an einer Stelle – oder: „Er sang, als stände er am Steuer eines brennenden Schiffes“. Ích finde, das hat was. Weniger beeindruckend und fast ein wenig peinlich sind die Passagen, in denen Dylan als Denker und Geistmensch daherkommt. Wenn man ihm glauben kann, hat er immerhin gelesen, bis das Sofa krachte, unter anderem nach eigener Aussage „Die Lehre vom idealen Staat“ von Perikles ( das Buch ist von Plato), über die Wikinger die im 14. Jhdt. in Amerika landeten ( da waren sie schon 300 Jahre wieder weg), Einiges von Sokrates ( von dem wir keine einzige Zeile besitzen) und reichlich über Churchill, Roosevelt, Stalin und Hitler, die er alle in einen Topf wirft, denn „als Nachfahren von Alexander, Julius Cäsar, Dschingis Kahn, Karl dem Großen und Napoleon teilten sie die Welt unter sich auf wie einen Festtagsbraten.“ Diese Anmerkungen zeugen von einer bemerkenswerten Schlichtheit, die fast geeignet ist, das Bild des Giganten auf ein Bonsai-Maß zu reduzieren. Das wäre natürlich ungerecht, denn Dylan ist natürlich kein Philosoph, sondern ein Musiker. Deswegen legte ich gleich nach der Lektüre des Buches Dylans großes Album „Modern Times“ auf. Dylan hören ist eben doch weit besser als Dylan lesen.

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