Wer den Changbeishan nicht gesehen hat

Nordasien 1999 (44)

Eine Reise durch die Mandschurei nach Yanbian im Nordosten Chinas

    In der chinesischen Stadt Hunchun sind die Straßen in vier Sprachen ausgeschildert. In chinesischen, koreanischen, russischen und lateinischen Schriftzeichen kann man lesen, dass man sich in der Xin-An-Lu in der Nähe des Hunchun-Hotels und des städtischen Vergnügungsparks befindet. Trotzdem ist Hunchun keine Metropole, sondern ein Marktflecken am Ende der Welt. Sie liegt näher an Taiga und Eismeer als an Peking, eine unscheinbare Enklave im chinesisch-russisch-nordkoreanischen Dreiländereck, in deren Restaurants Pekingente, russische Borschtsch-Suppe und koreanische Schwarzwürste gleichermaßen serviert werden. Ihr öffentlicher Vergnügungspark ist so trist, dass er schon wieder sehenswert ist: Blecherne Pinguine, verrostete Saurierskulpturen und ein baufälliges Riesenrad stehen so einsam im Gelände herum, als sei das Ende aller Tage angebrochen. Will man die zellophanbespannten und zugigen Rikschas von Hunchun, (vielleicht die nördlichsten, die auf der ganzen Welt in Betrieb sind) nicht als eigene touristische Attraktion werten, gibt es kaum etwas zu sehen. Gäbe es nicht die Möglichkeit, von hier aus nach Russland und Nordkorea aufzubrechen.

     Nachdem sich die chinesische Regierung bereit erklärt hatte, nicht nur die Straße von Hunchun bis zur Grenze, sondern auch noch die Trasse bis zur russischen Stadt Slavianka am Pazifik zu finanzieren, wurde die Grenze im September 1998 geöffnet. Nun rollt täglich ein öffentlicher Bus mit sämtlichen Touristen und Händlern, die es an diesem Tag nach Slavianka und Wladiwostok drängt, wie ein überladener Container nach Russland. Der Andrang jener Russen, die den kalten Nordosten Chinas sehen wollen, hält sich dagegen in Grenzen. Ambitionierter sind die Perspektiven für Nordkorea: In Rajin-Songbong am Pazifik entsteht ein Seebad mit leidlichen Hotels und einer Kollektion von Spielkasinos für eine zockfreudige und zahlungskräftige chinesische Kundschaft, die ihre Spielsucht sonst nur noch im südlichen Macao ausleben könnte. Hunderttausende Chinesen aus Liaoning, Jilin und Heilongyang, so die optimistischen Planungen, sollen sich dereinst an nordkoreanischen Stränden und Spieltischen vom Arbeitsalltag erholen.

    Das letzte Mal, als Hunderttausende von Chinesen im Oktober 1950 die Grenzen nach Nordkorea überschritten,   stand die Welt am Rande des Atomkrieges. Ohne Vorwarnung hatte die chinesische Volksbefreiungsarmee in einer kritischen Phase des Koreakrieges so genannte „Freiwilligenverbände“ über die Grenze geschickt. Dort gelang es ihnen, die drohende Niederlage des nordkoreanischen Aggressors in jenes Unentschieden zu wenden, das den Norden und den Süden Koreas nun schon seit 45 Jahren entlang des 38. Breitengrades trennt. Um der Welt damals zu zeigen, wie ernst es den Chinesen mit der proklamierten Selbstbestimmung Koreas war, wurde noch während des Koreakrieges im Jahre 1952 Yanbian, eine autonome Präfektur der koreanischen Minderheit, als selbständige Verwaltungseinheit innerhalb der chinesischen Provinz Jilin etabliert. Als Yanbian eingerichtet wurde, lebten in Hunchun, Tumen oder Antu auch tatsächlich noch mehrheitlich Koreaner, eine Relation, die sich aber durch die forcierte chinesische Einwanderung umgekehrt hat. Heute stehen etwa einer Million Koreaner gut 1,2 Millionen Chinesen gegenüber, eine Entwicklung, die die Koreaner in Yanbian allerdings nicht sonderlich zu stören scheint. Sie haben auf der anderen Seite des Tumen River ein Beispiel dafür vor Augen, in welches Elend eine nationale Regierung das eigene Volk hineinmanövrieren kann, wenn der Kontakt zur Wirklichkeit nur gründlich genug verloren geht. Nordasien 1999 (52)

Trotzdem wird in Tumen, der Nachbarstadt Hunchuns, die Grenze zu Nordkorea durch ein so prächtiges Tor markiert, dass man meinen könnte, jenseits des Flusses beginne das Gelobte Land. In Wahrheit ist auf der anderen Seite des Tumen-River außer Ufergebüsch und leeren Feldern rein gar nichts zu sehen: als hätten die allwissenden Lenker der nordkoreanischen Juche-Ideologie ihre Bevölkerung aus dem gesamten Grenzgebiet evakuiert, sieht man nur leere Pfade, die in die Berge führen und eine kaum frequentierte Eisenbahnlinie, die dem Hörensagen nach gelegentlich von Hunchun nach Pyongyang fahren soll. Unscheinbar und doch eine Weltgrenze markierend verläuft der Tumen-River an der russisch-chinesisch-nordkoreanischen Grenze entlang, wässert die Reis- und Getreidefelder, wird reguliert und gestaut, wo immer es geht, ehe er nach Süden abbiegt. Ordentlich wie bunt ausstaffierte Regimentskasernen stehen gelbe, blaue und rotgedächerte Ziegeldörfer links und rechts der Straße, umgeben von Ententeichen und Feldern, auf denen sich die Erntegarben stapeln. Überdimensional mit Heu beladene Karren fahren über die gut asphaltierten Straßen, auf den Kuppeln der Berge liegt Raureif.

Bald hinter Hunchun und Tumen führt die Straße nach Yanji, in die etwa 400.000 Einwohner zählende Hauptstadt der Präfektur Yanbian. Wie alle die modernen Städte, die im boomenden China nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, so überrascht auch das erst im Jahre 1952 gegründete Yanji durch Hochhäuser und Warenhäuser, in denen der Konsument sich an einem lückenlosen Angebot all der Marken-Kopien bedienen kann, deren Vertrieb nach dem Beitritt Chinas zur WTO eigentlich verboten sein sollte.

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Prachtvoll und unterbelegt sind die Suiten des einzigen Fünf-Sterne-Hotels der ganzen Provinz, unscheinbar und überfüllt dagegen die Räumlichkeiten der Universität, in der die Studenten im Wintersemester die tragbaren Radiatoren von zu Hause mitbringen, damit sie während der Vorlesungen nicht frieren. Besser in Schuss als die Universität erscheint die Kathedrale von Yanji, in der sich die Mitglieder der christlichen Gemeinde von Yanji vor einem ostasiatisch drapierten Altar versammeln.

Dass Yanbian mehr sein will als eine hinterwäldlerische Provinz mit einigem Grenzverkehr und einer quirligen Hauptstadt, merkt man spätestens bei einem Besuch des neuen Flughafens der Stadt. Tägliche Linienmaschinen aus Beijing, Charteranbindungen an Schanghai und Guangdong und sogar internationale Flüge aus Seoul bringen jährlich fast zweihunderttausend Passagiere nach Yanbian, davon weit mehr als einhunderttausend Touristen allein aus Südkorea. Die nordkoreanische Grenze, die Stippvisite nach Wladiwostok oder die kuriosen Folkloreveranstaltungen, die es in so genannten „Korean Villages“ zu besichtigen gibt, sind dabei nur für eine Minderheit von Interesse. Die weitaus meisten Touristen kommen nach Yanbian, um die bedeutendste Sehenswürdigkeit zu besuchen, die der gesamte chinesische Nordosten zu bieten hat, und das ist der Changbeishan-Nationalpark. Dieser zählt nicht nur zu den ältesten Naturschutzgebieten Chinas, das im Jahre 1960 gegründete Reservat ist mit einer Größe von 210 000 Hektar auch der größte Nationalpark des Landes. Da er sich in Höhenlagen zwischen 900 und 2700 Meter erstreckt, gleicht seine Vegetation einem Querschnitt durch die nordostasiatische Flora, in der mehr als zweitausendvierhundert verschiedene Pflanzenarten wachsen, davon allein etwa dreihundert unterschiedliche Heilkräuter.

Mit Ausnahme der Ära der chinesischen Kulturrevolution, in der die im ganzen Land aufbrandende Barbarei auch den Tierschutz im Changbeishan aufhob und Wilderer Jagd auf alle verwertbaren Tiere machten, bieten die unwegsamen Grenzgebiete zu Nordkorea etwa 400 Tierarten, unter ihnen auch einer kleinen Population des Sibirischen Tigers, ein Refugium vor der menschlichen Zivilisation. Die in ganz Nordostasien einzigartige Vielfalt der Flora und Fauna aber ist nur das eine: Seine Berühmtheit unter Chinesen und Koreanern verdankt der Nationalpark seinem landschaftlichen Reiz. Wie die Zähne eines urweltlichen Ungeheuers, so türmen sich die höchsten Berge des Changbeishan-Massivs bis in eine Höhe von 2700 Metern empor, und genau in der Mitte der höchsten Erhebungen befindet sich in einem Riesenkessel eines der phantastischsten Naturpanoramen ganz Asiens: ein riesiger Kratersee, den die ansässigen Völker von alters her als das Tor zum Himmel ansahen.

Lange bevor die Mandschu im 17. Jahrhundert von ihren Wohnsitzen in den heutigen chinesischen Provinzen Heilongyang, Jilin und Liaoning aufbrachen, das Reich der Ming zu zerschlagen und ganz Ost- und Zentralasien zu erobern, erblickten sie im „Himmelssee“ auf dem Changbeishan den Ursprung ihrer Nation. Der mandschurischen Überlieferung zufolge badeten am Anbeginn aller Zeiten drei Himmelsnymphen im Kratersee, als eine Elster vorübergeflogen kam und eine verzauberte Beere auf die Kleider einer der Nymphen ablegte. Als die Nymphe die Beere in Augenschein nehmen wollte, flog sie ihr in den Mund, die Nymphe wurde schwanger und gebar den ersten Mandschu, der vom Changbeishan aus in die Welt zog, um eine Nation zu gründen. Heute haben sich die Mandschuren längst im Riesenvolk der Han verloren, der letzte Mandschu, der noch die altmandschurische Sprache und Schrift beherrschte, soll vor einigen Jahren in der Stadt Changchun gestorben sein. Aber der mandschurische Ursprungsmythos wird noch heute am Changbeishan erzählt.

Doch auch die Koreaner, die zu Zehntausenden jährlich den Himmelssee besuchen, bringen ihren Nationalmythos mit dem Changbeishan in Verbindung. Denn vor 4300 Jahren, so die chronologisch überraschend exakte Legende, soll Hwanung, der Sohn der Sonne, im heutigen nordkoreanisch-chinesischen Grenzgebiet vom Himmel gestiegen sein und einen Tiger und einen Bären getroffen haben, die beide, aus welchen Gründen auch immer, Menschen werden wollten. An den vielfältigen Proben, die Hwanung diesen Tieren auferlegte, scheiterte der Tiger, doch der Bär meisterte alle Prüfungen, bis er sich in eine Frau verwandelte, mit der Hwanung, der Sohn der Sonne, den ersten Koreaner zeugte. Wie immer man zu diesen beiden Gründungsmythen stehen mag, die auf zauberhafte Weise die Einheit alles Lebendigen zum Ausdruck bringen, der Changbeishan und der monumentale Himmelssee waren in der Phantasie der Völker die Bühne, auf der sie entstanden.

War die Reise zum Changbeishan noch in den achtziger Jahren eine Odyssee über staubige Pfade, wurden in den letzten Jahren die Straßen von Yanji aus so weit ausgebaut, dass man heute den Nationalpark in einem halben Reisetag erreichen kann. Auf halber Strecke, lange bevor man die Umrisse des Changbeishan-Massivs am Horizont überhaupt erblicken kann, bietet das Changbeishan-Naturkundemuseum einen so interessanten wie amüsanten Einstieg in Geschichte und Lebenswelt des Parks. Anschaulich werden hier alle Tiere in Lebensgröße ausgestellt, die an den Abhängen des Changbeishan leben sollen. Da sieht man einen gewaltigen, zweieinhalb Meter großen aufgerichteten schwarzen Bären die Tatze schwingen; ein über vier Meter langes, täuschend echt gelungenes Tiger-Imitat fletscht die Besucher an; Schneeleoparden, Luchse, Wildschweine und Füchse lauern Rotwild auf, während in der ersten Etage Vögel, Schlangen, Spinnen, der Changbeishan-Frosch, Pilze und Pflanzen, in Glasbehältern imprägniert, als Original aufgespießt oder auf farbigen Zeichnungen festgehalten, auf den Besucher warten.

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Doch diese Vielfalt inklusive des Sibirischen Tigers tritt zurück hinter „Dilli“, der ostasiatischen Variante des Ungeheuers von Loch Ness, einem geheimnisvollen Monster, das im Kratersee hausen und jeden Wanderer, der sich zu nahe an den Uferrand wagt, bedrohen soll. Die Fotografien von „Dilli“, die es in der Monster-Abteilung des Museums zu besichtigen gibt, sehen Ufo-Ablichtungen allerdings zum Verwechseln ähnlich: Schattenflecke auf dem Wasser des Sees, verschwommene Konturen und Lichteffekte – mehr ist nicht zu erkennen. Dafür belegt eine großräumige Statistik an der Wand, die jede „Dilli“-Meldung seit dem Tode Maos verzeichnet, dass sich das geheimnisvolle Wesen offensichtlich alljährlich höchstens zehn bis zwanzig ausgewählten Personen zeigt.

Ist Dilli also bemerkenswert scheu, kann man das von der chinesischen Politprominenz nicht behaupten. Welcher bedeutende Politikkader in welchem Zusammenhang auch immer seinen Fuß in den Changbeishan setzte – an zwei großen repräsentativen Museumswänden kann der chinesische Normaltourist deren Konterfei samt eigenhändig angefertigten Kalligraphien bewundern: Neben Maos Tochter, Li Peng, Zhung Rhongji und vielen anderen soll auch der große Deng Xiao Ping, unmittelbar nachdem er die Politik der vier Modernisierungen verkündet hatte, den Park besucht und dabei enthusiastisch ausgerufen haben: „Wer den Changbeishan nicht gesehen hat, wird es sein ganzes Leben lang bereuen.“ Ehe man aber das Changbeishan-Massiv wirklich sehen kann, muss der Besucher hinter dem Museum noch ein bis zwei Stunden mit einem Jeep über holprige Pisten fahren. Weißbirken und koreanische Fichten, die Vegetation des Tieflandes, sind längst verschwunden, nun erstrecken sich schier unendliche Drachentannenwälder links und rechts der Straße. Überraschend unvermittelt endet dann die Anfahrt hinter einer Kurve. Wie aus dem Boden gewachsen, ragt eine gewaltige amphitheatralische Kulisse Hunderte von Metern in die Höhe, eine imposante Erhebung, in deren Mitte der Changbeishan-Wasserfall siebzig Meter tief ins Tal stürzt. Im Sommer ein Urbild des Lebendigen, aus dem sich drei Flüsse speisen, wirkt der halb zugefrorene Wasserfall in der kalten Jahreszeit wie ein Symbol dafür, wie erbittert im Winter alles Lebendige den Kampf gegen die Kälte führt. Unter dem Wasserfall sprudeln Dämpfe aus dem Boden, siedend heißes Wasser schießt unter Steinen hervor, und feuchtwarme Nebelschwaden umrahmen den Anblick des halb vereisten Flusses, der unterhalb des Wasserfalls über mehrere Felsstufen dem Tiefland entgegenstürzt. Nordasien 1999 (38)

Bis vor wenigen Jahren begann gleich neben dem Wasserfall eine notdürftig gesicherte Kletterroute, auf der man innerhalb einer Tageswanderung den Kratersee erreichen und wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren konnte. Seit dem Bau einer Stichstraße vom „Changbeishan International Hotel“ zum Gipfel ist es einfacher, aber kaum weniger spektakulär geworden. In atemraubenden Serpentinen, im Winter mit gefährlichen Glatteispassagen bedeckt, bringen Spezialbusse die Besucher in einer halbstündigen Fahrt auf eine Höhe von mehr als zweieinhalbtausend Metern. Hier heult der Wind zu jeder Tageszeit, als missgönne er den Besuchern den Blick auf den Himmelssee, der hinter einer letzten Anhöhe sichtbar wird.

In welcher Jahreszeit man den See auch besucht, das Auge benötigt immer einige Minuten, ehe es sich an die gewaltigen Dimensionen gewöhnt. Fünf Kilometer von Norden nach Süden, dreieinhalb Kilometer von Osten nach Westen, an manchen Stellen Hunderte von Metern tiefe Abstürze von den Berggraten in den See – das sind die Maße, mit denen die überforderte Wahrnehmung zurechtkommen muss. Umringt von einem Dutzend Gipfel, deren Formen an alle möglichen Phantasiegestalten der fernöstlichen Mythologie erinnern, wirkt der See und seine Umgebung an diesem Tag wie der Inbegriff der Farbe Blau. Schwarzblau der Kratersee, der sich wie ein riesiger Teppich aus einer unbekannten Substanz unter dem Aussichtspunkt erstreckt, weißblau die Eiswände, die von jeder Stelle des Kraterrandes in die Tiefe stürzen, und graublau die Wolkenfront, die von Nordkorea aus langsam den ganzen Himmel überwölbt. Von „Dilli“ ist unter diesen Umständen natürlich nichts zu sehen, nur ein chinesisches Pärchen wirft in hohem Bogen eine Hand voll Münzen in den See, um im Angesicht der unerhörten Natur die Geister des Changbeishan um Schutz und Beistand für ihre Liebe zu bitten.

 

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